Angst ist noch so viel mehr
Wir erleben Angst aber nicht nur als Schutzreflex. Vielmehr treffen wir in so vielen verschiedenen Facetten auf das Phänomen, dass wir auf einige später unbedingt noch gesondert eingehen müssen. Offensichtlich hat sich unser Urinstinkt an die heutige Zeit angepasst und sagt sich: »Ich lebe im Zeitalter der Möglichkeiten. Warum soll ich mich also einschränken? Mir steht die Welt offen!« Genau das ist der Grund, weshalb Angst unter anderem in folgenden Formen im Alltag auftaucht:
Angst zeigt sich als Kaninchen-Feeling
Wie bitte? Kaninchen-Feeling! Das ist das Gefühl, dass Sie beschleicht, wenn bei Ihnen die Panik einsetzt. Es kribbelt von den Pfoten bis in die obersten Enden der Löffel – und Sie verharren stocksteif in der Schockstarre. Es ist ein bisschen so, als ob Sie im Lichtkegel vor einem Auto stehen bleiben, das auf sie zurast und nicht zu bremsen gedenkt. Besser wäre natürlich, schnell in den sicheren Schatten zu hüpfen. Das ist klar. Aber ist Ihnen das schon mal passiert, dass Sie so ein Fellknäuel auf der Straße vor sich im Scheinwerferfokus hatten?
In Hamburg gibt es viele Kaninchen, die sich auch im Stadtgebiet bewegen. Wenn sie nachts auf die Straße hoppeln, sind sie fast sicher dem Tod geweiht. Wir gehören beide zu der Spezies Autofahrer, die bremst, wenn ein Tier auf die Straße läuft. Also haben wir schon einige Zeit hinter Kaninchen im Schneckentempo verbracht und sie selbst mit Hupen und Fluchen nicht in den Schatten bekommen. Wenn sie überhaupt hüpfen, dann meist immer weiter im Hellen! Oft bleiben sie aber einfach wie angewurzelt stehen – deshalb Kaninchen-Feeling!
Angst macht Kopfkino
Getriggert von einem Ereignis oder einer Nachricht, spinnen wir in unserem Kopf einen ganz eigenen Plot darüber zusammen, was jetzt alles passieren kann. Es ist erstaunlich, wie kreativ wir dabei sind:
Zugegeben, wir übertreiben hier ziemlich.
Wer Angst vor Gewittern hat, dem reicht oft schon ein fernes Donnergrollen, um sämtliche elektrischen Geräte vom Strom zu trennen, alle Jalousien zuzuziehen und sich unter der Bettdecke zu verschanzen, wie ein Hund, der panische Angst vor Silvesterböllern hat. Man stelle sich nur vor, der Blitz schlägt tatsächlich in unserem Haus ein. Er fährt durch alle Stromleitungen und zerstört sofort unsere Computerfestplatte, unseren Fernseher und den Kühlschrank noch mit. Weil wir dummerweise gerade am Kommunikationskonzept für einen neuen Kunden gearbeitet haben, sind alle Daten »verschmort«, wir können die Präsentation am nächsten Tag nicht halten, verlieren deshalb unseren Job, können die Miete für die Wohnung nicht mehr bezahlen, enden nach einiger Zeit auf der Straße und landen schließlich mit einer Lungenentzündung im Bahnhofshospiz. Da es leider auch den Kühlschrank und das TV-Gerät erwischt hat, ist innerhalb von zwei Tagen alles Essen verdorben und wir bekommen nicht einmal mehr den Wetterbericht mit, der uns sagt, dass das Gewitter in fünf Kilometern Entfernung an uns vorbeigezogen ist.
Zugegeben, wir übertreiben hier ziemlich. Aber nach diesem Schema funktioniert unser negatives Kopfkino – ganz ohne Happy End.
Angst lässt uns zu Theorieentwicklern werden
Angst lässt uns die Praxis erst gar nicht erleben.
Wir neigen häufig dazu, schon bevor wir einen Schritt gegangen sind, vor lauter Angst, dass es der falsche ist, genau zu überlegen, was alles eintreten könnte, würden wir diesen Schritt denn tatsächlich gehen. So wird aus einer Befürchtung schnell einmal eine handfeste Theorie, die uns die Praxis erst gar nicht erleben lässt. Ein Beispiel:
Wenn ich nach New York reise, fühle ich mich etwas mulmig, weil ich immer wieder an 9/11 denken muss. Falls die Sicherheitsmaßnahmen nicht ausreichen, könnte es passieren, dass wieder ein Selbstmordattentäter ins Flugzeug steigt. Die sollen ja immer wieder auf neue Ideen kommen. Ich bleibe also lieber zu Hause. Das Abenteuer New York werde ich nicht erleben, solange ich schlimme Theorien über das, was alles sein könnte, entwickle. Doch so kann ich die Praxis nicht erfahren. Schade drum!
Angst ist ein Klischeebediener
Wünschen wir uns nicht alle hin und wieder, dass alles genau so bleibt, wie es ist? Dann können wir uns an Regeln und Klischees entlanghangeln, die uns vertraut sind. Klar, dann bewegt sich nichts. Dafür bekommen wir aber viel Bestätigung. Sätze wie »Das habe ich doch gleich gesagt, dass da nichts Gutes bei rumkommen kann!« festigen dieses Leitbild. Menschen, die sich so ausdrücken, lassen sich auf keinen Fall dazu bewegen, in der Zusammenarbeit mit der jungen und noch etwas unerfahrenen Kollegin etwas Positives zu sehen. Besser, wenn man alles weiterhin so macht wie bisher. Dann ist das Risiko überschaubar. Was man nicht selbst erledigt, wird ja auch nie so gut gemacht, wie man es haben möchte. Und die jungen Leute von heute, die können ja auch gar keine Verantwortung übernehmen. Wenn das Experiment dann tatsächlich missglückt und der jungen Kollegin ein Fehler unterläuft, wurde das Klischee bedient. Was aber eigentlich dahintersteckt, ist in der Regel nicht das vorausschauende Wissen, dass etwas schiefgehen wird. Vielmehr ist es die Angst davor, Verantwortung abzugeben. Denn dann könnte es passieren, dass man nicht mehr wichtig genug ist oder sogar entbehrlich. Plötzlich muss Anerkennung geteilt werden. Oder noch schlimmer: Andere stellen fest, dass man selbst den Job gar nicht so gut gemacht hat. Ein Horror!
Angst ist ein Komfortzonenstörer und Gewohnheitsdieb
Die Angst beginnt gleich nach der Komfortzone!
Es gibt diesen wunderbaren Puffer, den wir um uns herum aufgebaut haben: unsere Komfortzone. Solange wir uns innerhalb dieses Bereichs bewegen, kann uns nichts so schnell aus der Ruhe bringen. Wir bleiben ganz cool – bis wir einen Tritt bekommen, der uns nach draußen katapultiert. Dieser Tritt kann bereits die Meldung sein, dass ein Vegetariertag in Kantinen eingeführt werden soll. Was war das doch für ein lauter Aufschrei, als uns die Grünen einen Tag in der Woche zum Fleischverzicht »zwingen« wollten! Plötzlich fühlte man sich bevormundet. Zu Recht? Klar! Aber das geschieht täglich an vielen Stellen. Es fällt uns nur nicht auf, weil wir uns daran gewöhnt haben. Eine neue Bevormundung wollte man aber nicht dulden.
Jetzt werden Sie wahrscheinlich sagen: »Aber mal was anderes zu essen, das ist doch einfach. Das ist doch kein Schritt aus der Komfortzone!« Doch! Für viele ist es das:
In unserem Bekannten- und Freundeskreis weiß zum Beispiel jeder, wie schlecht Massentierhaltung für die Umwelt und ganz besonders für die Tiere ist. Trotzdem fällt es vielen unendlich schwer, auf Fleisch zu verzichten. Wovor haben wir Angst? Das »neue« und ungewohnte Essen könnte ja nicht schmecken. Die Ernährung könnte nicht ausgewogen sein. Man könnte verschiedene Vitamine, die es vor allem im Fleisch gibt, nicht mehr in ausreichenden Mengen zu sich nehmen. Und, und, und. Also bleiben wir lieber beim Altbekannten und Gewohnten. Da weiß man, was man hat. Alles, was außerhalb der Komfortzone liegt, macht erst einmal Angst.
Angst ist ein Gleichgesinntenblasenerhalter
Die Meinung der Andersdenkenden schockt uns.
Die Blase der Gleichgesinnten nennen wir ein Phänomen, das auf Social-Media-Kanälen und Webseiten inzwischen üblich ist. Anhand dessen, was wir in Suchmaschinen eintippen oder wie wir Social-Media-Plattformen nutzen, wird ein Algorithmus erstellt. Der zeigt uns dann nur noch das, was wir scheinbar sehen möchten. Unser Klickverhalten führt also zu einem Filter. Beispielsweise bekommen wir bei Facebook hauptsächlich das zu sehen, was unsere »Freunde« teilen. Konkret heißt das: Wir werden häufig von diskussionswürdigen Medienberichten oder Meldungen, die wir angeblich nicht sehen wollen, abgeschirmt.
Wer seine Nachrichten hauptsächlich über Social-Media-Kanäle bezieht, bekommt diese vorgefiltert und vorgefärbt. Was hat das mit Angst zu tun? Die Meinung der Andersdenkenden jagt uns immer wieder einen Schauer über den Rücken oder schockt uns sogar. Sie wahrzunehmen, lässt sich aber leicht umgehen. Dazu müssen wir uns in Sachen Information einfach nur innerhalb unserer »Blase« bewegen. Wir kommunizieren überwiegend mit Gleichgesinnten und lesen hauptsächlich deren Meinung. So bekommen wir vor allem Informationen, die mit unseren eigenen Ansichten korrespondieren.
Angst macht uns zu Ausredenerfindern
Zu dick, zu alt …!
Ausreden haben häufig mit Ängsten zu tun. Wir trauen uns nicht, auf eine Veranstaltung zu gehen, weil wir »in dem Kleid zu dick aussehen« oder »zu alt« sind. Tatsächlich handelt es sich dabei aber meist um Glaubenssätze, die...