I.
Konkurrenten oder Partner?
Naturheilverfahren und klassische Medizin
Was bringt den Doktor um sein Brot?
a) die Gesundheit, b) der Tod.
Drum hält der Arzt, auf dass er lebe,
uns zwischen beiden in der Schwebe.
EUGEN ROTH
Der Münchner Satiriker Eugen Roth muss die falschen Ärzte getroffen haben. Zwar wissen wir nicht, ob Kinderärzte unter ihnen waren, und Herrn Roth können wir leider nicht mehr befragen. Dennoch scheint mir, dass es sich bei uns um eine besondere Spezies handelt: Wir Kinderärzte opfern uns auf, Tag und Nacht, lassen uns durch keine noch so schwierige und sinnleere bürokratische Maßnahme entmutigen und liefern selbstverständlich nur gesunde und wohlgeratene Erwachsene in der Erwachsenenmedizin ab. Oder etwa nicht?
Die Gründe, weshalb wir aufgesucht werden, haben sich im letzten Jahrhundert und zu Beginn dieses Jahrhunderts deutlich gewandelt. Die Herausforderungen sind enorm gestiegen: Die Großfamilie ist verschwunden, stattdessen leben viele Kinder in kleinen Familien als Einzelkind oder mit einem alleinerziehenden Elternteil. Viele Eltern stehen unter Leistungsdruck, leiden unter Zeitmangel und sind verunsichert darüber, wie sie ihren Kindern am besten helfen können. Aus diesem Grund werden zunehmend auch Fragen der Lebensführung an uns herangetragen. Es ist eine Aufgabe, der wir uns gern stellen. Wir verstehen sie als Auftrag, der dazu beiträgt, dass der Beruf des Kinderarztes trotz mancher bürokratischer Mühsal befriedigt, ja, glücklich macht. Und weil mir dieses Glück über viele Jahre zuteilgeworden ist, schreibe ich dieses Buch.
Ich sehe mich in erster Linie als Arzt für meine Patienten und freue mich, wenn ich ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen kann. Das Kompetenzgerangel zwischen sogenannten Schulmedizinern und einigen eifrigen Verfechtern der Komplementärmedizin betrachte ich eher mit gemischten Gefühlen. Ist der öffentlich ausgetragene Streit zwischen den beiden Lagern wirklich nötig? Statistiken besagen, dass etwa 80 Prozent aller Kinderärzte die Anwendung von Naturheilverfahren befürworten und solche Verfahren auch persönlich anwenden. Wir müssen also zunächst ergründen, woher der Methodenstreit kommt und warum das Gerücht von den verstockten Schulmedizinern noch immer kursiert.
Mächtige Berater
Beim Besuch von Buchmessen drängt sich mir regelmäßig der Eindruck auf, dass angesichts der Fülle an einschlägigen Beratungsbüchern und Leitfäden eigentlich alle Probleme unseres Lebens gelöst sein müssten oder zumindest lösbar sein sollten. Jedes Kind kann schlafen lernen, jedes Kind kann laufen lernen, jedes Kind kann aufs Gymnasium kommen – wenn man den Buchtiteln glauben darf.
Die Realität sieht oft anders aus: Viele Eltern fühlen sich mit pauschalisierten Empfehlungen alleingelassen, und sie sind es auch. Ein Helfer, der den Ratsuchenden ernst nimmt, wird sich immer erst ein Bild von dessen Situation machen, bevor er Ratschläge erteilt. Oft entsteht schon aus der genauen Analyse eines Problems eine Lösung. Dies können Beraterbroschüren und Ratgeberbücher nicht leisten, auch wenn noch so stark betont wird, dass der Mensch in seiner Gesamtheit immer im Mittelpunkt aller Bemühungen steht. Und wenn es über die Bücher hinausgeht, dann wird selbst der raffinierteste Algorithmus als Berater nicht über Allgemeinplätze hinauskommen.
Wie verführbar wir sind, Allgemeinplätzen – im Sinne von nichtssagenden Formulierungen – einen individuellen Sinn zuzuschreiben, zeigt die Bereitschaft vieler Menschen, an Horoskope zu glauben. Hier ein markantes Beispiel: Ein bekannter Astrologieforscher machte die Probe aufs Exempel. Bei einer Fernsehsendung händigte er verschiedenen Versuchspersonen »ein für Sie persönlich erstelltes Horoskop« aus. Resultat: Alle – egal, ob sie Horoskopen skeptisch oder aufgeschlossen gegenüberstanden – waren verblüfft, wie genau dieses Horoskop ihren Charakter traf.
Nun hatten freilich alle Testpersonen ein identisches Horoskop erhalten, das nichts mit ihren persönlichen Daten zu tun hatte. Nur dieses eine Horoskop war individuell erstellt worden, und zwar für einen Massenmörder. Das Ergebnis hat den Heidelberger Forscher kaum überrascht: »Die meisten Menschen finden sich in den Texten von Horoskopen gut wieder, wenn ihnen nur erzählt wird, dies sei ein ›persönlich für sie‹ erstelltes Horoskop.«
Wenn so wenig dran ist, warum glauben dann so viele an Horoskope? Liegt es daran, dass die Formulierungen im Horoskop recht allgemein gehalten sind und man sich darin deshalb leicht wiederfindet? 1998 führte Geoffrey Dean in der Zeitschrift Correlation eine Vielzahl kontrollierter Studien auf, die belegen, dass mehrere bekannte psychologische Mechanismen zu solchen subjektiven Erlebnissen führen können: Selbsterfüllende Prophezeiungen, Selbstzuschreibungen der im Horoskop genannten Eigenschaften, selektive Wahrnehmung und Erinnerung sowie weitere psychologische Prozesse können solche Zusammenhänge vortäuschen.
Wir alle neigen dazu, Leerformeln, an die wir glauben wollen, mit einem Sinn auszustatten, der nicht in ihnen steckt, sondern nur von uns hineingelegt, auf sie projiziert wird. Hieraus erwächst für professionelle Berater, zu denen auch wir Ärzte gehören, eine hohe moralische Verantwortung. Vor allem gegenüber kranken Mitmenschen ist Sorgfalt gefordert. Die Hilflosigkeit, welche die Sorge um die eigene Gesundheit oder – fast noch ausgeprägter – die Sorge um ein krankes Kind auslöst, macht leichtgläubig. Ich habe dies am eigenen Leib erfahren müssen. Mich überkommt heute immer wieder ein heiliger Zorn, wenn ich die fast kriminelle Energie wahrnehmen muss, mit der ratsuchenden Eltern Banales oder Unwirksames angedreht wird – sei es in Form von angeblich energetisch wirkenden Apparaturen oder in Form von angeblichen Medikamenten.
Man möge mich nicht falsch verstehen: Ich bin überzeugter Naturheilkundler, ausgebildeter Arzt für Naturheilverfahren und kämpfe für die Integration seriöser Naturheilverfahren in den klinischen Alltag. Leider ist aber »Naturheilverfahren« in der Öffentlichkeit kein geschützter Begriff. Die Vertreter betrügerischer bzw. erwiesen unwirksamer Methoden preisen ihre Verfahren oft mit dem Vokabular der Alternativmedizin bzw. Naturheilweisen an. Jede noch so abstruse Therapierichtung kann unwidersprochen für sich in Anspruch nehmen, mit natürlichen Mitteln zu arbeiten.
Wir halten also fest – und werden dies noch ausführlich begründen:
- Betrug ist keine Domäne einer bestimmten therapeutischen Richtung
- Naturheilverfahren sind unverzichtbar
- Naturheilverfahren sollen und müssen die klassische Medizin sinnvoll ergänzen
- Naturheilverfahren können und wollen eine wissenschaftlich orientierte Medizin nicht ersetzen. Sie sind also keine Alternative zu dieser Form der Medizin
- In diesem Sinne gibt es keine seriöse Alternativmedizin
Lagerdenken und geschlossene Weltbilder
Die Härte der Auseinandersetzung zwischen »Schulmedizin« und »Alternativmedizin« gleicht in ihrer Irrationalität politischen Grabenkämpfen. Deshalb ein kurzer Ausflug in die Politik.
Als der US-Präsident Richard Nixon 1972 wegen der Watergate-Affäre zurücktreten musste, erzwangen amerikanische Gerichte die Herausgabe der Tonbandprotokolle, die es von den gemeinsamen Besprechungen Nixons und seiner Mitarbeiter gab. Die Öffentlichkeit war erstaunt darüber, in welchem Ausmaß kriminelles Handeln, fahrlässige Dummheit, Duckmäuserei und hinterhältiges Intrigieren innerhalb dieser Gruppe für normal gehalten worden war. Psychologen haben sich eingehend mit diesem Phänomen befasst, es als Watergate-Syndrom bezeichnet und einige Charakteristika herausgearbeitet. Man spricht heute von Groupthink, zu Deutsch »Gruppendenken« (vielleicht besser: Rudeldenken, wenn man überhaupt von Denken sprechen will).
Groupthink, ein Begriff, der von dem Sozialpsychologen Irving Janis (1972) geprägt wurde, tritt auf, wenn eine Gruppe fehlerhafte Entscheidungen trifft, weil der Druck der Gruppe zu einer Verschlechterung der »geistigen Effizienz, der Wirklichkeitseinschätzung und des moralischen Urteils« führt. Gruppen, die vom Gruppendenken betroffen sind, ignorieren Alternativen und neigen dazu, irrationale Aktionen zu ergreifen, um andere Gruppen zu entmenschlichen (wörtlich: »dehumanize other groups«). Eine Gruppe ist dann besonders anfällig für Gruppendenken, wenn alle ihre Mitglieder einen ähnlichen Hintergrund aufweisen, wenn die Gruppe von äußeren Meinungen abgeschnitten ist und wenn es in der Gruppe keine eindeutigen Regeln für eine Entscheidungsfindung gibt.
Betrachtet man die Auseinandersetzungen zwischen »Schulmedizin« und »Alternativmedizin« von außen, so kann man – und zwar auf beiden Seiten – fast alle aufgeführten Symptome beobachten: In sich geschlossene medizinische Systeme fühlen sich unangreifbar. Andersdenkende in beiden Gruppen werden herabgesetzt, Abweichler kaum geduldet, Denkhemmungen institutionalisiert. Negative Nachrichten, wie das Ausbleiben eines naturwissenschaftlichen Beweises für die Wirksamkeit der Homöopathie in den letzten zweihundert Jahren, werden ausgeblendet. Wissenschaftler verwechseln den Umstand, dass sie ein bestimmtes Phänomen nicht nachweisen können, mit der Annahme, dass es dieses Phänomen nicht gibt.
Hier passt die schöne Geschichte von Graf...