2. Rekrutierung: Zwangsrekrutierung vs. „freiwillig“
allerdings, ob die Rekrutierung „freiwillig“ oder „unfreiwillig“ (also durch Zwang) geschieht. Die klassische Rekrutierungsform (von Minderjährigen!) ist die Zwangsrekrutierung, die vor allem in der Betrachtung von außen besonders erschreckend ist. Hier werden Kinder „geraubt“ und durch physischen Zwang in die bewaffnete Organisation eingegliedert.
Die andere Form der Rekrutierung gründet auf „freiwilliger“ Basis, das heißt, Kinder melden sich aus mehr oder weniger eigenem Antrieb bei der bewaffneten Organisation. „Freiwillig“ ist hier ganz bewusst in Anführungszeichen gesetzt, da diese Meldung natürlich letztlich ebenfalls aus indirektem Zwang resultiert. Seien es gruppenspezifische (Gruppenzwang, gesellschaftliche Erwartungen) oder ökonomische (eine Waffe als einziger Ausweg aus der Armut: „Wer eine Waffe trägt, hat nicht nur bessere Chancen zu überleben, er lebt auf diese Weise auch besser und sicherer unter Verhältnissen, in denen die Verteilung des zum Leben Notwendigen vorzugsweise mit Waffengewalt geregelt wird.“ 94 ) Zwänge: Es ist davon auszugehen, dass diese „Freiwilligkeit“ auf mangelnde Bildung, Armut oder in einem Wort auf „Unterentwicklung“ zurückzuführen ist. Der Strom an „Freiwilligen“ für eine reguläre oder irreguläre bewaffnete Gruppierung wird zumindest in den zentralafrikanischen Krisenregionen kaum abnehmen, denn der „Dienst in der Armee oder in den Banden der Warlords ist für große Teile der männlichen Bevölkerung die einzige Verdienstquelle - und zwar gleichgültig, ob der Erwerb aus Soldzahlungen oder aus unmittelbarem Raub stammt“ 95 .
Diesen „freiwilligen“ Beitritt hat Peter Lock pointiert als rational dargestellt, bezogen auf den Bürgerkrieg in Sierra Leone:
„Für junge Männer ist ‚Soldat sein’ die beste Option gesellschaftlicher Partizipation, zudem sind die Überlebenschancen als Kämpfer im gegenwärtigen Sierra Leone wahrscheinlich ungleich größer als im Chaos der vom Krieg paralysierten ‚Zivilgesellschaft’. Die Rolle, als so genannter Kindersoldat zu agieren, ist nicht nur verführerisch für entwurzelte Kinder, sie ist auch eine ‚rational choice’, um es einmal im Jargon ökonomistischer Betrachtungsweise auszudrücken.“ 96
Es lässt sich somit sagen, dass der Missbrauch von Kindern als Soldaten „in nahezu allen Fällen die Folge von Armut, Repression und sozialer Ungerechtigkeit“ 97 ist. Die „Freiwilligkeit“ ist also mit Skepsis zu betrachten
und letztendlich die Folge aus sozio-ökonomischen (und damit indirekten und versteckteren) Zwängen:
„Kinder schlossen sich Streitkräften und bewaffneten Gruppen oftmals freiwillig an. In den allermeisten Fällen hatten sie kaum eine Wahl. Invasion und Besetzung des Landes, ethnische und religiöse Diskriminierung, Übergriffe gegen die Gemeinschaften und Familien, all dies drängte die Kinder, sich den Soldaten anzuschließen. Sowohl in Konfliktgebieten […] sind Armut und das Fehlen von anderen Beschäftigungsalternativen wesentliche „Push-Faktoren“ bei der Rekrutierung von Kindern. Kulturell bedingte Erwartungen und Gewalt gegen Kinder in der Familie spielen ebenfalls eine wichtige Rolle.“ 98
Für die Rolle, die diese Kinder in den Konflikten dann spielen (und welche Grausamkeiten sie erleiden und begehen müssen), ist es jedoch irrelevant, wie sie rekrutiert wurden. Die wenigen Studien, die es hierzu gibt, weisen nicht darauf hin, dass die Rekrutierungsform einen wesentlichen Unterschied macht. 99 Die „begriffliche Unterscheidung von „Freiwilligkeit“ und Zwangsrekrutierung [hatte] für die […] interviewten ehemaligen Kindersoldaten keine besondere Bedeutung“ 100 .
Nichtsdestotrotz soll an dieser Stelle noch auf Motivation der Minderjährigen eingegangen werden, sich „freiwillig“ einer bewaffneten Gruppierung anzuschließen (oder auch in ihr zu bleiben). 101 Entscheidende Faktoren für diese „Freiwilligkeit“ sind zuallererst Armut 102 , was Mangelerscheinungen im sozialen, soziokulturellen, politischen und ökonomischen Bereich impliziert (es wird hier also bewusst ein weiter Armutsbegriff gewählt) und aus dieser Armut erwächst, beziehungsweise ist eng mit ihr verknüpft, Perspektivlosigkeit, die sich an Indikatoren wie Arbeitslosigkeit (besonders bei Jugendlichen) und fehlenden Bildungschancen (schulische wie berufliche Bildung) festmachen lässt. Des Weiteren kann die familiäre Situation Gründe für die freiwillige Meldung zu einer bewaffneten Gruppierung liefern, sei es entweder Druck aus der Familie, sich einer Partei anzuschließen oder aber
die Flucht aus der Familie; dies kann Flucht vor Gewalt, vor Ausbeutung oder vor sexuellem Missbrauch sein. Somit kann die persönliche Erfahrung von Unterdrückung, Demütigung und Misshandlung Grund für eine „Flucht“ aus der Familie oder Dorfgemeinschaft sein. Ebenfalls kann ein bestimmter Wertekanon, bei welchem „Dienen“ oder „Pflichterfüllung“ im Vordergrund steht, der durch Familie, Dorfgemeinschaft, Schule oder Freundeskreise vermittelt wurde, hier von entscheidender Bedeutung sein. In die gleiche Richtung tendieren Gründe wie politische Sozialisation oder ideologische Prägung, die sich in einer verinnerlichten (patriotischen) Grundhaltung zeigen. Darüber hinaus kann auch politische oder gesellschaftliche Marginalisierung eine Rolle spielen. Fühlen sich Kinder und Jugendliche einer politischen, sozialen oder ethnischen Gruppe zugehörig und wird diese im betreffenden staatlichen System unterdrückt oder marginalisiert, kann dies dazu führen, dass sie „mithelfen“ wollen, „ihr“ Volk beziehungsweise „ihre“ Gruppe zu „befreien“ - dieses Phänomen wird besonders deutlich dadurch, dass sich in vielen bewaffneten Konflikten im subsaharischen Afrika Rebellengruppen oftmals aus Minderheiten des Landes zusammensetzen. Als zusätzlicher zu den zuvor genannten Gründen - und letztlich auch mit ihnen verflochten - kann beispielsweise die Verschlechterung der Lebensbedingungen angeführt werden, seien es die persönlichen oder die der Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen. Gruppendruck durch Freunde und Bekannte (auch Gleichaltrige) kann ebenfalls zur „freiwilligen“ Meldung zu einer bewaffneten Organisation beitragen - gerade wenn in dieser Gegend eine Kriegssituation besteht, die andere Kinder und Jugendliche auch davon überzeugt, sich bewaffneten Gruppen anzuschließen.
Jedoch unabhängig von den Gründen, die Kinder und Jugendliche „freiwillig“ zu einer bewaffneten Gruppierung bringen, sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung zwischen Zwang und „Freiwilligkeit“ in diesem Zusammenhang insofern problematisch ist, da diese „Freiwilligkeit“ ja ebenfalls auf Zwang gründet - auch wenn es sich (teilweise) um indirekte Zwänge beziehungsweise strukturelle Zwänge handelt:
„Allgemein ist die Unterscheidung zwischen Freiwilligkeit und Zwang, z.B. gesellschaftlichem Zwang, problematisch; und diese Unterscheidung ist unter Bürgerkriegsbedingungen mit zusätzlichen Problemen belastet. Einerseits gibt es z.B. „Rekrutierung“ aufgrund unmittelbarer und physisch gewaltsamer Verschleppung. Andererseits kann Rekrutierung auf „struktureller Gewalt“ beruhen, wie z.B. auf Armut, Hunger, sonstigen unerträglichen Lebensbedingungen, oder aber auf ideologischer (politischer, religiöser, „ethnischer“, etc.) Motivation.“ 103
Angefügt werden muss hier jedoch, dass unabhängig von Gründen und Motivation der letztlich entscheidende Faktor, sich einer „bewaffneten Gruppe anzuschließen oder dort zu bleiben, die Gewalt ist, der die Betroffenen ausgesetzt sind. Das bezieht sich sowohl auf die Gewalt, die direkt von den für die Rekrutierung Verantwortlichen ausgeübt wird, wie auch auf das, was „[…] als strukturelle Gewalt“ 104 bezeichnet werden kann und oben erläutert wurde.
Neben der Form der Rekrutierung soll hier ein weiterer Aspekt eingeführt werden. Betrachtet man Neue Kriege zu einem entscheidenden Teil als Krieg gegen die Zivilbevölkerung 105 , muss unter diesem Gesichtspunkt ebenfalls die Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen näher beleuchtet werden. Gerade die Zwangsrekrutierung schädigt oder zerstört nicht nur familiäre Strukturen, sondern auch Dorfgemeinschaften - bis hin zu dem, was man in
von langen Bürgerkriegen paralysierten Gesellschaften „Zivilgesellschaft“ nennen kann, beziehungsweise was hiervon übrig ist oder sich auf Grund des Krieges nicht entfalten kann. Die Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen kann somit als Gewalt (beziehungsweise Krieg) gegen die Zivilgesellschaft verstanden werden, die katastrophale und desaströse Folgen hat:
„Der Formenwandel des Krieges hat gravierende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, die durch brutale Exzesse der Gewaltanwendung in das Kriegsgeschehen einbezogen wird. Die eindeutige Trennlinie zwischen Zivilisten und Kombattanten löst sich auf. Dazu gehört unter anderem...