Kapitel 2
Warum wir planen müssen, was wir nicht planen können
Gesellschaftliche Gründe, warum wir immer später Kinder kriegen
Dass Schwester Maria eine »alte« Erstgebärende sei, fand eigentlich nur ihr Arzt. Man schrieb das Jahr 1956 und Tante Mitzi, die Großtante der Autorin, war Krankenschwester auf der Kinderstation in einem Spital in Wien. »Ich hatte so viele Kinder um mich, dass ich dachte, ich brauche kein eigenes«, erzählt Tante Mitzi. Unerwartet wurde sie mit 36 Jahren dann doch schwanger, ihr Ehemann war damals 39 Jahre alt. »Ich habe mich irrsinnig gefreut«, sagt sie, und: »Außerdem habe ich mich ja noch jung gefühlt, ich war gut beisammen, habe jünger ausgeschaut und war sportlich – den Dachstein bin ich zu Fuß hinaufgegangen. Nur der Arzt hat vor der Entbindung gesagt: ›Das ist eine alte Erstgebärende, da dauert die Geburt sowieso lang‹, und er ließ mich warten, obwohl ich bereits die Wehen hatte – ich war ganz entsetzt.«
»Älter« fühlte sich Tante Mitzi auch später, »weil die anderen Mütter, die ihre Töchter in die Schule brachten, alle viel jünger waren«. In den 1950er-Jahren hatten die meisten Frauen im Alter von 35 Jahren längst Kinder. Kinder in die Welt zu setzen war etwas Natürliches, schlimmstenfalls eine Pflicht, der Lauf der Dinge und eine Station im Leben. Wenn wir den Erzählungen unserer Eltern, Großeltern, Großtanten und Großonkel Glauben schenken, warteten die wenigsten Paare so lange, bis das Kinderkriegen zum »Kinderwunsch« reifte, obwohl damals vielleicht ebenso viele gewünschte Kinder auf die Welt kamen wie heute. Und ebenso viele ungewünschte.
Anfang der 1950er-Jahre war die Anti-Baby-Pille noch nicht auf dem Markt, und Abtreibungen waren nach § 96 in Österreich (§ 218 in Deutschland) verboten. Auch war der Tagesablauf etwas anders als heute. In der Nachkriegszeit hatte kaum jemand Fernsehen, und mangels Geld gingen die Menschen nur selten aus. Es darf also nicht wundern, wenn Liebespaare vielleicht öfter als heute gemeinsam unter der Tuchent landeten. »Viele Kinder entstanden als Begleiterscheinung mangelnder Freizeitalternativen oder sogar aus Langeweile«, erinnert sich Werner, der Vater der Autorin, geboren 1941. Die Familie genoss einen hohen Status: Wenn sich zwei Menschen gefunden hatten, war es selbstverständlich, dass sie heirateten, schon allein deswegen, weil ihre Eltern es erwarteten. Paare, die in wilder Ehe lebten, hatten nicht dieselben Privilegien wie Eheleute. Das begann schon mit dem Versuch, eine gemeinsame Wohnung zu mieten: Noch in den 1950er-Jahren galt in Österreich bei Unverheirateten die Frau als Untermieterin und Untervermietung war oftmals verboten. Zu heiraten und eine Familie zu gründen war nicht nur die Folge einer romantischen Liebesbeziehung, sondern es erleichterte auch den Alltag.
Während europäische Frauen noch im Jahr 1950 im Lauf ihres Lebens 2,8 Kinder zur Welt brachten, waren es 2010 nur noch 1,9. Das besagt eine Fertilitätsratenanalyse nach Kontinenten der UNO. Einer der Gründe hierfür ist der Wandel des traditionellen Familienbilds, der seine Wurzeln bereits im Zweiten Weltkrieg hatte. Erstmals wurden Frauen massiv im Arbeitsprozess gebraucht. Da die Männer an der Front dienen mussten, bauten die Frauen Panzer zusammen und waren als Straßenbahnschaffnerinnen, Lokfahrerinnen und Fabriksarbeiterinnen im Einsatz. Nach dem totalen Zusammenbruch 1945 befanden sich viele Männer in Kriegsgefangenschaft, waren schwer verletzt, invalide oder tot. Die Frauen wurden als »Trümmerfrauen« gebraucht, um in den zerstörten Städten die Bombenschäden wegzuräumen.
Als die Männer Ende der 1940er-Jahre aus der Kriegsgefangenschaft zurückkamen, verschwanden die Frauen wieder aus dem Arbeitsleben. Es gab wieder einen Herrn Straßenbahnschaffner, einen Herrn Lokführer und Fließbandarbeiter. Nachdem die Frauen es gewohnt waren, für sich selbst zu sorgen, standen sie plötzlich wieder am Herd. Auf einmal hatten sie wieder keine Chancen auf ein Leben außerhalb der eigenen vier Wände. Es etablierten sich konservative Vorstellungen von Sitte und Anstand sowie starre Rollenbildern. Ledige Frauen, die ungeplant schwanger wurden, ließen ihre Kinder von ihren Müttern großziehen, weil sie fürchten mussten, sonst den Job zu verlieren oder erst gar keinen zu bekommen. Geschiedene Mütter bekamen kein Sorgerecht. »Das Ehe- und Familienrecht bestimmte den Mann zum Alleinherrscher über Frau und Kinder«, berichtet der Fernsehsender ZDF zur deutschen Frauenbewegung in seiner Dokumentationsreihe Planet Wissen: »Eine Ehefrau musste ihrem Mann sexuell zur Verfügung stehen. Wenn er sie und die Kinder misshandelte, galt das als Privatsache. Verheiratete Frauen durften nur dann arbeiten gehen, wenn der Mann es ihnen erlaubte«. Viele Frauen wollten diese Zustände nicht mehr länger hinnehmen. Ende der 1940er-Jahre begannen sie, für die Gleichberechtigung zu kämpfen.
Die Frauenbewegungen im 20. Jahrhundert
Während in der ersten Welle der Frauenbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts die Suffragetten (aus dem Französischen und dem Englischen »suffrage« für »Wahlrecht«) vor allem in Großbritannien und den USA mit passivem Widerstand für ein allgemeines Frauenwahlrecht eingetreten waren, war die Frauenbewegung der zweiten Welle breiter gefasst. 1949 setzte die sozialdemokratische Abgeordnete Elisabeth Selbert in Deutschland durch, dass die Gleichberechtigung in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen werden sollte. In Frankreich verfasste Simone de Beauvoir 1949 ihr Buch Das andere Geschlecht, worin die Philosophin erklärte: »Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht«. Frauen seien nicht von Natur aus unterwürfig, unselbstständig und hilflos, sondern würden von klein auf dazu erzogen. Doch sie könnten auch anders.
1963 rechnete die Publizistin Betty Friedan in ihrem Bestseller Der Weiblichkeitswahn mit der typischen Frauenrolle ab. Sie kritisierte in der Gesellschaft tief verwurzelte Vorstellungen von den Aufgaben einer Ehefrau und Mutter als eine falsche Ordnung, die ein wahrhaftiges Leben für beide Geschlechter unmöglich mache. Es entstand eine Debatte um Selbstbestimmung und das Recht auf den eigenen Körper. Wir entscheiden, wie wir leben, lieben und aussehen wollen, erklärten Frauen bei Demonstrationen in aller Welt. In den USA verbrannten Aktivistinnen öffentlich ihre BHs, in Holland zwickten die »Dollen Minnas« Männer in den Hintern und in Rom sangen Frauen auf einer Demonstration: »Tremate, tremate, le streghe son tornate!« (»Zittert, zittert, die Hexen sind zurückgekehrt!«). Anders als die Sufragetten-Bewegung, die überwiegend von Frauen aus dem Bürgertum getragen wurde, engagierten sich in den westlichen Industrienationen nun Frauen aus allen Gesellschaftsschichten für die Ziele des Feminismus. Ob Amerikanerinnen oder Europäerinnen, Arbeiterinnen, Akademikerinnen, Hausfrauen, Künstlerinnen oder Prostituierte, Jüdinnen oder Katholikinnen – sie alle gingen für Gleichberechtigung auf die Straße.
»Wir haben abgetrieben!«, titelte am 6. Juni 1971 das deutsche Wochenmagazin Stern. Mit der von der Feministin und Journalistin Alice Schwarzer initiierten Aktion machten 374 prominente Frauen im deutschen Sprachraum bekannt, gegen den Schwangerschaftsabbrüche betreffenden § 218, wonach Abtreibung mit Freiheitsentzug zu bestrafen sei, verstoßen zu haben. Unter den Teilnehmerinnen waren Filmstars wie Romy Schneider, Senta Berger und Vera Tschechowa. Sie taten es damit fast ebenso vielen Französinnen gleich, die sich zuvor, am 11. April 1971, in dem linksliberalen Wochenblatt Nouvel Observateur gegen das Verbot gestellt und in einem Manifest gegen illegale, teure und gesundheitsgefährdende Abtreibungen protestiert hatten: Weder Richter noch Ärzte und schon gar nicht Theologen hätten das Recht, über den Körper und das Leben einer Frau zu bestimmen. In Deutschland trat 1974 eine Neuregelung in Kraft, die einen Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen, sozialen oder ethischen Gründen erlaubte, die jedoch über viele Jahre Gegenstand öffentlicher Diskussionen war. Erst seit 1995 gilt jedoch eine allgemeine Fristenregelung, die einen Abbruch in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten zulässt. In Österreich wurde eine Fristenlösung bereits am 1. Jänner 1975 im Gesetz verankert.
Frauen gewannen nicht nur das Recht, zu entscheiden, ob sie Kinder haben wollen oder nicht. Sie erlangten auch Schutz gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz, eine höhere Präsenz in den Medien, Gleichberechtigung im Schulsport, das Recht, eine Scheidung einzureichen und schuldlos geschieden zu werden, das Recht, ein Bankkonto ohne die Unterschrift ihres Mannes eröffnen zu können und das Recht auf Grundbesitz. Sie wurden ein Teil des Arbeitsprozesses und des öffentlichen Lebens. Frauen wollten mehr von einer Ehe als bloß die zweite...