Was wir von Rettungskräften lernen können
Das Rezept gegen Peinlichkeit hilft übrigens auch in medizinischen Notfällen und bei Unfällen aller Art. Notsituationen erlauben es, sogar wildfremden Menschen nahe zu kommen. Näher als gewünscht – insbesondere, wenn die Verletzten alkoholisiert, schmutzig oder auf andere Arten ekelerregend sein sollten. Viele Ersthelfer empfinden es als Erleichterung, dass die Mund-zu-Mund-Beatmung laut neuster Empfehlung von ihnen nicht mehr gefordert wird. Mag sein, dass Sie das in manchen Fällen – insbesondere bei hübschen Lippen – etwas bedauern werden, aber die meisten Unfallopfer profitieren schlicht nicht davon. Weil es für die Ersthelfer unnötigen Stress bedeutet und weil das Gepuste in den meisten Fällen (außer bei Kindern!) nachweislich gar nicht bis in die Lunge vordringt, wurde die Beatmung für Ersthelfer, die über keine Beatmungsbeutel oder Intubationsschläuche verfügen, ersatzlos gestrichen. Anders verhält es sich bei der Herzdruckmassage. Der beherzte, rhythmische Griff ans Brustbein ist äußerst effektiv, wäre aber in Alltagssituationen unglaublich peinlich. Im Notfall jedoch nicht. Am Unfallort befinden Sie sich also als Herzmasseur in der großen Gruppe der Ersthelfer. Der Sinn und Zweck der Herzmassage ist es, das Gehirn trotz Herzstillstand mit lebenswichtigem Sauerstoff zu versorgen. Peinliches Verhalten gibt es bei „Rettern in der Not“ grundsätzlich nicht.
Blut! Kaputtes Blech und Scherben! Schreie! Panik! – An einem Unfallort geht es im Allgemeinen alles andere als ruhig zu. Die Situation ist unübersichtlich, unordentlich und bedeutet für alle Beteiligten ein Höchstmaß an Stress. Jeder Mensch geht zwar mit solch existentiellen Herausforderungen anders um, doch im Grunde kann man drei Arten von völlig natürlichem – überhaupt nicht peinlichem - Verhalten beobachten:
- geschockt oder vor Panik gelähmt (Freeze)
- hektisch auf der Flucht (manchmal auch auf der „Flucht nach vorn“) (Flight)
- kämpfend und zupackend (Fight)
Jedem auch noch so geübten Profi kann es passieren, dass er in Situationen kommt, bei denen ihm schlicht die Luft wegbleibt. Starr vor Schreck zu sein, ist eine sehr normale Reaktion auf ein – im wahrsten Sinne des Wortes – „schreckliches“ Geschehen. Wenn die Unfallbeteiligten zu allem Übel auch noch Kinder sein sollten, so sitzt der Schock dermaßen tief, dass sogar professionellen Helfern jegliches Handeln zunächst völlig unmöglich erscheint. Die erste Bewegungslosigkeit hat aber auch ihr Gutes: Im ersten Moment versucht das Gehirn nämlich, die Informationen, die ihm die Augen, Ohren, Geruchs- und Tastsinn übermitteln, zu sortieren und aus den gewonnenen Informationen möglichst rasch Lösungsstrategien zu entwickeln.
„Wie schlimm sind die Verletzungen? Wie viele Verletzte sind beteiligt? Wie kann ich helfen? Bringe ich mich womöglich selbst in Gefahr, weil es z.B. brennt oder gleich etwas explodieren könnte? Welche zusätzlichen Helfer sind vor Ort, mit denen ich mich zusammentun könnte?“
Das sind nur einige der möglichen Fragen, die wir uns in solchen Momenten beantworten müssen. Eine kurze Ruhe im Sturm kann also sehr sinnvoll sein, denn in der Ruhe liegt bekanntlich die Kraft.
Allerdings darf diese Zeitspanne nicht ewig dauern, denn jede Sekunde könnte über Leben und Tod entscheiden.
Falls Sie also an einen Unfallort kommen sollten, bitte gaffen Sie NUR KURZ, und vor allem: behindern Sie NIEMALS die Arbeit der Rettungskräfte!! (Es soll sogar Leute geben, die in solchen Situationen Erinnerungsfotos schießen oder filmen! Kein Kommentar!! Ich hoffe sehr, SIE gehören niemals dazu!) Reißen Sie am besten Ihren Blick los und wählen Sie zwischen zwei Möglichkeiten: Entweder, Sie helfen, indem Sie die 112 wählen - vor allem, wenn Sie sich nichts Anderes zutrauen. Oder, falls schon Hilfe vor Ort ist, dürfen Sie auch gerne zügig den Unfallort verlassen. Eine „Flucht“ ist dann völlig okay, wenn sich schon andere um die Verletzten kümmern.
Ein weitaus besseres Gefühl aber ist es, genau zu wissen, was zu tun ist. Da leider jede Notfallsituation anders ist, erfordert dies ein möglichst flexibles Verhalten. Ein Handeln, welches bei einem Verletzten richtig ist, kann bei einem anderen Patienten völlig falsch sein. Woher soll man aber wissen, was, wann, wie zu tun ist? Die Antwort ist: üben, üben, üben. In manchen Fällen kann vorschnelles, gut gemeintes Handeln trotz aller Übung ziemlichen Schaden anrichten, wie folgendes Beispiel zeigt:
Als ich einmal als Ersthelfer zu einem Unfallort kam, verfluchte ich die „stabile Seitenlage“. Im Notfallkurs, den jeder Autofahrer vor seiner Führerscheinprüfung ablegen muss, ist diese Lagerungstechnik ein Thema, das behandelt wird. Und weil die „stabile Seitenlage“ so effektiv geübt wird, scheint sie das Einzige zu sein, was sich tatsächlich unauslöschlich und äußerst stabil in jedes Gehirn einbrennt. Bei Bewusstlosen bedeutet sie tatsächlich einen sehr effektiven Schutz vor der gefürchteten Aspiration. (Die Aspiration wäre lebensgefährlich, weil zum Beispiel Inhalt aus dem Magen in die Luftröhre rutscht und damit das Atmen unmöglich macht. Durch die stabile Seitenlage aber kann der Mageninhalt ungehindert nach draußen abfließen.) Allerdings ergibt diese Lagerung des Körpers nur bei Bewusstlosen einen Sinn! Bei der armen Patientin, von der ich hier erzählen möchte, war sie jedoch eine Qual! Zwei gutmeinende Ersthelfer drückten die Frau zu Boden und wollten sie zwingen, sich seitlich hinzulegen. Die Verletzte aber wehrte sich lautstark. Wer schreit ist übrigens nicht bewusstlos! Bewusstlose machen gar nichts mehr, selbst, wenn man sie zwickt. Die „stabile Seitenlage“ war also bei genau dieser bedauernswerten Frau überhaupt nicht angebracht. Ihr Gesicht war ganz bläulich verfärbt und sie rang sichtlich nach Luft. Sie versuchte, ihre Arme aufzustützen, um besser durchatmen zu können. Meine erste Maßnahme war also, die um Atem kämpfende Patientin aus den Klauen der engagierten Helfer zu befreien. Ich ließ die Dame aufrecht hinsitzen und gab ihr nach kurzer Befragung das Asthmaspray aus ihrer Tasche. Die Gesichtsfarbe wurde rosiger und die riesige Erleichterung war ihr anzusehen. Happy End!
Hätten sich die Helfer statt an die stabile Seitenlage an etwas viel Einfacheres erinnert, wäre es der Patientin sofort viel bessergegangen: das Notfall-ABC!
Das Notfall-ABC ist eine Trickkiste, die es uns ermöglicht, sogar in den schlimmsten Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Es ist unser Mantra, unser Rosenkranzgebet, unsere Selbsthypnose. Bei jedem Notfall beten professionelle Rettungskräfte es sich vor.
Als ich um die Jahrtausendwende den einwöchigen 80-Stunden-Kurs für Ärzte im Rettungsdienst absolvierte, bedeutete das ABC etwas gänzlich anderes als 15 Jahre später, als ich ihn zur Auffrischung nochmal machte. Was sich allerdings nicht geändert hat, ist, dass das ABC damals wie heute dabei hilft, im Notfall nichts Wichtiges zu vergessen, wenn auch mit etwas anderen Inhalten.
Falls Sie aber nicht zufällig einen ganzen Rettungswagen nebst Gerätschaften zur Verfügung haben, wird Ihnen das „Notfall-ABC für professionelle Rettungskräfte“ allerdings nicht helfen. Ihnen stehen keine Medikamente zur Verfügung. Auch EKG-Gerät, Beatmungsmaschine oder Infusionen trägt man im Allgemeinen nicht dauernd mit sich herum. Von entsprechender Schutzkleidung ganz zu Schweigen. Wahrscheinlich stehen Sie wie ein verängstigtes Reh am matschigen Straßenrand – womöglich noch im Minikleid oder Ihrem besten Anzug. Auf eine Notfallsituation ist man nämlich niemals vorbereitet. Für den normalen Durchschnitts-Ersthelfer empfehle ich daher: folgende Notfall-ABCD-Regel:
A wie Atmung ermöglichen (ggf. Fremdkörper aus dem Mund entfernen oder Aufsitzen lassen)
B wie Bewusstsein prüfen (berühren und ansprechen zum Beispiel „Ich kümmere mich um Sie!“)
C wie Call 112 (entweder selbst anrufen oder jemanden anderes darum bitten)
D wie Drücken (Herzmassage: denken Sie einfach an das Lied „Staying Alive“ von den Bee Gees, dann stimmt der Rhythmus – und drücken Sie fest – hier hilft keine Homöopathie, sondern Zupacken! Dabei können zwar die Rippen brechen, doch Ihr Patient wird Ihnen danach trotzdem ewig dafür dankbar sein!)
Dieses spezielle Notfall-ABCD für alle Nicht-Notärzte und Nicht-Rettungskräfte ist leicht zu merken und gibt Ihnen in besonders stressigen Situationen einen verlässlichen Handlungsleitfaden, an dem Sie sich beruhigt entlang hangeln können. Wiederholen Sie die ABCD-Regel ein paar Mal, bis Sie sie auswendig können.
Zusammenfassung
Wirksame Mittel gegen Panik oder Schockstarre...