Beziehungsambivalenz
Unter Ambivalenz versteht man in der Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie und Psychoanalyse das Nebeneinander von gegensätzlichen Gefühlen, Gedanken und Wünschen, bzw. um eine untrennbare Verknüpfung gegensätzlicher Wertungen. Es geht dabei um ein „Sowohl/Als auch“ von Einstellungen (z.B. „Hassliebe“).
Damit ist nicht einfach die oben beschriebene Polarität gemeint, also das jedes Ding zwei Seiten hat. Ambivalenz meint vielmehr einen inneren Konflikt, der aus Sichtweisen entsteht, die gegensätzlichen Reaktionen bedingt und letztlich die Fähigkeit zu einer Entscheidung im weitesten Sinne hemmt.
Wenn ich diesen Begriff hier zur „Beziehungsambivalenz“ verändere, meine ich damit eine Beschränkung des Ambivalenzbegriffes auf das Beziehungsleben. Zunächst besteht zwischen zwei Partnern gewöhnlich ein Anfangsabstand.
Wenn sich dann der eine um den anderen bemüht und ihm näher rückt, entsteht der Effekt, dass der andere weiter abrückt.
Je mehr sich der eine bemüht, desto schneller rückt der andere von ihm weg. Ich nenne den, der sich bemüht, den Nähepartner (hier zunächst Person 1) und den, der abrückt, den Distanzpartner (hier zunächst Person 2). Mann und Frau sind dabei übrigens austauschbar.
Nicht selten entstehen immer schneller eine ganze Reihe derartiger Situationen zwischen zwei Partnern, die aus dem Gleichgewicht geraten sind. Was bleibt immer gleich, was verändert sich nicht? Richtig, der Abstand von Partner 1 zu Partner 2.
Gehen wir einen Schritt weiter. Irgendwann ist der Nähepartner frustriert über seine erfolglosen Versuche, dem Distanzpartner näher zu kommen. Er gibt seine Versuche auf und bleibt einfach stehen.
Wenn der Nähepartner sein Bemühen aufgegeben hat, kommt es oft sogar vor, dass der Distanzpartner zunächst noch weiter abrückt. Dies ist eine Reflexreaktion, weil er die ganze letzte Zeit gewohnt war, dass der Nähepartner ihm ständig näher rückt und er bereits automatisch immer wieder Distanz schaffte. Jetzt hat sich erstmals der Abstand zwischen beiden Partnern verändert. Er ist größer geworden.
Sollte der Distanzpartner jetzt nicht zufrieden sein? Nein, es heißt nicht umsonst Beziehungsambivalenz. Denn jetzt ist dem Distanzpartner der Abstand doch zu groß und er wünscht sich den alten Abstand.
Jetzt wird der ehemalige Distanzpartner zum Nähepartner und umgekehrt. Das ganze Spiel läuft jetzt in die andere Richtung, denn der ehemalige Nähepartner ist zunächst noch viel zu verletzt, um auf die nun angebotene Nähe einzugehen.
Bleibt der neue Distanzpartner dann schließlich stehen, um eine größere Nähe zuzulassen, wird die kritische Distanz erneut unterschritten und die Rollen wechseln wieder.
Diesen dramatischen Umgang mit Nähe und Distanz nenne ich Beziehungsambivalenz. Die Verhaltens- und Reaktionsmuster beider Partner erfolgen meist nicht freiwillig, überlegt und selbstbestimmt, sondern sie fühlen sich innerlich dazu getrieben, so zu handeln.
Unter Umständen führt dieser Zwang zu einem lang anhaltenden, belastenden hin und her in einer Beziehung. Manchmal wird eine Beziehung von einem der beiden Partner aber auch beendet.
Der Falle ist er dadurch aber nicht entgangen, denn oft stellt sich in der folgenden Beziehung dasselbe Muster erneut ein.
Oftmals meint der Nähepartner, er wolle doch die Nähe und Intimität, aber der andere habe einfach Angst oder sei „beziehungsunfähig“. Er bemühe sich doch ständig, Nähe herzustellen, aber der andere flüchte vor ihm. Es entsteht eine Dynamik, bei welcher der Nähepartner sich immer mehr anzupassen versucht, sich immer kleiner macht und zunehmend an Selbstwert verliert. Wie mir schon häufig geschildert wurde, führt dies im Extremfall hin bis zu äußerst unwürdigen Situationen und zum Ich-Verlust.
Dennoch betreibt er weiterhin seine Versuche, näher an den Partner heranzukommen, mit großer Vehemenz. Dem Nähepartner ist dabei nicht bewusst, dass er den anderen damit verängstigt und bedroht. Es sind zwanghafte Strukturen aus unbewussten Teilen seiner Persönlichkeit, die ihn zu diesem Verhalten bringen. Und das unbewusst gewünschte Ergebnis tritt ein: der andere zieht sich zurück und das „Risiko Nähe“ wird vermieden.
Was geschieht währenddessen beim Distanzpartner? Eigentlich findet er den Nähepartner ja ganz in Ordnung. Aber er soll ihn einfach nicht so fürchterlich klammern. Durch das ständige Drängen des Nähepartners geht ihm immer mehr die Liebe und Loyalität zu diesem verloren und dafür fühlt er sich dann schuldig. Oft verliert er auch die Geduld und ärgert sich über den Nähepartner, wird wütend. Aus dieser Wut heraus behandelt er diesen dann schlecht, oft abwertend und verliert die Achtung vor ihm.
Seine Wut drängt den Distanzpartner dazu, Distanz zwischen sich und den Nähepartner zu legen. Seine Schuldgefühle dagegen lassen ihn gleichzeitig über die guten Seiten der Beziehung nachdenken und bringen ihn dazu, sich selbst für schlecht zu halten. Damit entsteht eine Art Wut-Schuld-Spirale, in der sich der Distanzpartner verfängt.
Auch sein unterbewusstes Muster ist es, das „Risiko Nähe“ zu vermeiden. Macht der Nähepartner sich in dieser Verstrickung „klein“, so macht sich der Distanzpartner „groß“. Beide können sich nur äußerst schwer aus diesem Muster lösen und das Verhalten beider zielt auf die Vermeidung von Nähe und Intimität. Es entsteht das für beide äußerst aufreibende Spiel von „komm‘ näher – geh‘ weg“ – eine ambivalente Beziehung.
Einige der Gründe, weshalb es zur Beziehungsambivalenz kommen kann, wurden bereits im Kapitel „Angst vor Nähe und Intimität“ erörtert. Beziehungsambivalenz ist ein schwerwiegendes Problem und sollte nicht unterschätzt werden. Eine Strategie nach dem Motto „beim nächsten Partner wird alles besser“ nützt überhaupt nichts und ist reine Augenwischerei.
Um aus diesem belastenden, oft zwanghaften Kreislauf zu entkommen, ist eine ausführliche Beschäftigung mit diesem Thema erforderlich. Dies erfordert nicht selten den Rückblick in die Kindheit, wo meist viele der Grundsteine für das heutige Verhalten gelegt wurden. Gemeint ist nicht die Suche nach dem „Schuldigen“, sondern gefragt sind Verständnis und Erkenntnis. Daraus lassen sich dann für die heutige Situation des Erwachsenen neue Handlungsperspektiven entwickeln.
Konkret ist zunächst auszumachen, wo der Schlüssel, die Ursache für die heutige Vermeidung von Nähe und Intimität liegen (z.B. fehlender Vater, mangelnde Zuneigung, dominante Mutter, Enttäuschung, Gewalt, ...). Aus meinen Beratungen würde ich schließen, dass erlerntes Fehlverhalten für Männer oft mit ihren Müttern, für Frauen oft mit ihren Vätern zusammenzuhängen scheint.
Wenn die Ursache geklärt ist, geht es um das Annehmen und Akzeptieren, das man (meist aus einer Situation des Mangels heraus) einige Dinge nicht so erlernen konnte, wie es wünschenswert gewesen wäre. Das einfühlende Verständnis für die damalige Situation aus Sicht aller Beteiligten ist von besonderer Wichtigkeit. Schuldzuweisungen wie z.B. die Wut auf einen Elternteil mögen für kurze Zeit eine psychohygienische Funktion erfüllen, sind langfristig aber nicht hilfreich sondern verhindern weiterhin die Entwicklung und das Auflösen des Zwangsverhaltens.
Ist dieser Teil verstanden, wird klar, dass das als Kind erlernte Verhaltensmuster für den Erwachsenen nicht mehr angemessen ist – der erste Schritt zur Veränderung der Gegenwart. Eine in der Kindheit „entgangene“ Liebe kann als Erwachsener beim Partner nicht mehr nachgeholt werden. Kein Partner kann dies erfüllen. Diese Art von Liebe ist für einen Erwachsenen auch nicht mehr angemessen. Welche Assoziation hätten wir wohl, wenn wir einen 40-jährigen Mann sähen, der regelmäßig mit dem Teddybär seiner Kindheit schlafen geht?
Die erwachsene Liebe zwischen Mann und Frau ist eine andere als die Elternliebe der Kindheit. Wir sind heute auch keine unwissenden, abhängigen Kinder mehr, sondern erwachsene Menschen, die ihre eigenen Entscheidungen treffen – oder nicht?
Selbstbewusstsein und Erkenntnis sind Teile des Schlüssels für erfolgreiche Beziehungen. In Liebesbeziehungen geht es um Gefühle. Gefühle sind nicht immer gleich, sondern verändern sich. Wenn wir es früher nicht gelernt haben, so sind wir heute dazu aufgefordert, sich verändernde Gefühle aushalten zu lernen und bei uns selbst zu bleiben.
Dies kann auch Phasen der Einsamkeit einschließen. Wir haben mit dem Eintritt in dieses Leben keine Garantie für ein sorgenfreies und erfülltes Leben mit bekommen. Es muss gelernt werden, auch Zeiten des Mangels und der Unerfülltheit...