Bevor diese Arbeit sich den Filmen und deren Mustern zuwenden kann, stellt sich zunächst einmal die Frage, was genau der Deutsche Herbst eigentlich ist. Beide Begriffe rufen vielfältige Assoziationen hervor: „deutsch“ erinnert an deutsche Geschichte mit Weltkriegen und Deutscher Teilung ebenso wie an „deutsche Tugenden“, die deutsche Sprache, das Lied der Deutschen oder auch Berlin. Der Herbst dagegen ruft Bilder von fallenden Blättern, von kälter und kürzer werdenden Tagen sowie von den Trauertagen hervor (vgl. Verlag Neue Kritik 1997a, S.13), aber auch an bunt gefärbte Bäume in Alleen, warmen Tee und die nahende Weihnachtszeit. Insofern ist der Herbst „schön und ungenau“ (Verlag Neue Kritik 1997a, S. 13). Was ist denn aber nun der Deutsche Herbst?
Vielen, denen ich von dieser Arbeit erzählt habe, hatten noch nie zuvor etwas vom Deutschen Herbst gehört und auch in den meisten Lexika wird dieses Stichwort gar nicht aufgeführt. Der „Deutsche Herbst“ ist kein klar definierter Begriff und wird dementsprechend unterschiedlich genutzt (vgl. Pfitzenmaier 2007, S. 2). Tatsächlich nähert man sich diesem Thema am besten über die Medien - neben einem Lied mit ebenfalls passendem Titel (vgl. Verlag Neue Kritik 1997a, S.13) ist es vor allem der Film Deutschland im Herbst, der erste Einblicke in den Deutschen Herbst liefert. Dieser Film wirkt selbst ein bisschen wie ein bunter Laubhaufen: Von insgesamt zehn verschiedenen Regisseuren werden thematisch und stilistisch ganz unterschiedliche Beiträge aneinandergereiht, um letztlich diesen Episodenfilm aus dem Jahr 1978 zu bilden. Wie der Titel schon besagt, erinnert der Film durch diverse Themen, die Alexander Kluge, Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff und sieben weitere deutsche Regisseure aufgreifen, an den Deutschen Herbst: ein Interview mit Ex-RAF-Anwalt Horst Mahler, die Schweigeminute für Hanns Martin Schleyer im Stuttgarter Mercedes-Werk sowie sein Staatsbegräbnis, Verwirrung und Komplikationen durch die Nazi-Vergangenheit, das Begräbnis der RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Das ist der Deutsche Herbst.
Kraus, Lettenewitsch und Saekel (1997a) definieren den Deutschen Herbst wie folgt: „Der 'Deutsche Herbst', zum stehenden Begriff geworden, bezeichnet also eine Kumulation von Ereignissen im September und Oktober 1977, die den Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen staatlicher und terroristischer Gewalt in diesem Land markieren, eine Zäsur in der Geschichte der noch jungen Bundesrepublik“ (S.6). Anderswo wird er als „die politische Atmosphäre in Westdeutschland in der Zeit im September und Oktober 1977“ (Fuchs o.J., n.p.) definiert. Fest steht damit auf jeden Fall, dass der Deutsche Herbst tatsächlich grundsätzlich erst einmal einen ganz konkreten Herbst, nämlich den des Jahres 1977, beschreibt. Die vorhergegangenen Jahre sind primär durch den Konflikt zwischen der damaligen Bundesregierung unter Helmut Schmidt (Amtszeit 1974 - 1982, SPD) und der Rote Armee Fraktion geprägt. Im September und Oktober '77 erreichte die Auseinandersetzung mit den Entführungen von Hanns Martin Schleyer sowie der Lufthansa-Maschine Landshut durch die zweite Generation der RAF, die beide blutig endeten, sowie durch die Todesnacht von Stammheim ihren Höhepunkt (vgl. weiterführend Kapitel 2.2). Diese Ereignisse sind also ein weiterer zentraler Bestandteil des Deutschen Herbstes. Die zweite Definition dagegen hebt vor allem die Atmosphäre hervor und genau hier liegt meiner Ansicht nach der eigentliche Kern des Deutschen Herbstes. Im Zuge der Begebenheiten der Vorjahre und der Aktionskette Schleyers Entführung - Mogadischu - Tod der Stammheimer Insassen - Tod Schleyers dominierten in der Bevölkerung über Wochen Angst, Unsicherheit und Verwirrung. Die Lage verschärfte sich, als die RAF behauptete, die Inhaftierten wären vom Staat ermordet worden, während dieser wiederum von Selbstmord sprach. Bereits zuvor hatte es ähnliche Diskrepanzen gegeben, als Holger Meins während seines Hungerstreiks starb. Gerüchte über Misshandlungen wurden laut, und einige Teile der Bevölkerung betrachteten daraufhin die Regierung als den Schuldigen (vgl. ebd.). Hinzu kam die von der Bundesregierung eingesetzten Sicherheitsmaßnahmen wie u.a. die Rasterfahndung oder auch der generelle Sympathisantendiskurs. „Der Deutsche Herbst steht daher nicht nur für die Ereignisse, die sich in diesen beiden Monaten abspielten, sondern auch für eine tiefe Spaltung der Gesellschaft“ (ebd.) Der Deutsche Herbst hat seinen Ursprung in Deutschland im Herbst, einem Film, der sich eben nicht (nur) konkret mit den einzelnen Ereignissen auseinandersetzt, sondern vielmehr seinen Blick auf das Volk bzw. einzelne Individuen legt. In Anbetracht dessen erscheint es mir sinnvoll, den Deutschen Herbst nicht nur als eine Zeit mit krisenhaften Ereignissen, sondern vor allem als eine spezielle Atomsphäre in der damaligen BRD zu verstehen.
Problematisch für dieses Verständnis des Begriffs ist allerdings der in beiden Definitionen nur kurz bemessene Zeitraum dieser Atmosphäre, nämlich der September und Oktober 1977. Die Filme, die in dieser Arbeit betrachtet werden, zeigen allerdings, dass diese spezielle Stimmung bereits vor jenem Jahr einsetzt und auch nach '77 noch weiter andauert. Im Rahmen der Filme ist der Deutsche Herbst dementsprechend als eine durchaus längere Phase zu verstehen (vgl. Kapitel 3.1). Der Herbst 1977 ist vielmehr als der Tiefpunkt dieser Atmosphäre zu betrachten, filmisch setzt sie aber bereits in der ersten Hälfte der Siebziger ein und dauert bis etwa zur zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Jüngere Filme zum Thema RAF / deutscher Terrorismus wählen bereits andere Schwerpunkte (vgl. Kapitel 3.2).
Im Rahmen dieser Arbeit wird der Deutsche Herbst in Anlehnung an die vorgestellten Definitionen und Erläuterungen wie folgt begriffen: Der Deutsche Herbst bezeichnet die politische Atmosphäre in den siebziger und achtziger Jahren in der BRD, welche aufgrund des Konflikts zwischen Staat und der RAF sowie weiteren terroristischen Gruppierungen entstand und in den Ereignissen von September und Oktober 1977 ihren Tiefpunkt erlangt.
Das vorliegende Kapitel wird eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse bieten, die im Zusammenhang mit der RAF und deren Konflikt mit dem Staat entstanden. Eine komplette Beschreibung der Abläufe füllt ganze Bücher und ist im Rahmen dieser Arbeit insofern nicht möglich. Stattdessen beschränkt sie sich primär auf die Geschehnisse im Zusammenhang mit der RAF. Auf die diversen Medienberichte, Reaktionen aus dem Ausland und Taten von ähnlichen terroristischen Gruppen in der BRD sei hier nur am Rande verwiesen. Eine vollständige und genauere Erläuterung der Geschehnisse finden sich bspw. bei Winkler (2007), Kraushaar (2006) oder Verlag Neue Kritik (1997b).
Die RAF hatte - wenngleich sie zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht so hieß - ihren Ursprung bereits in den fünfziger Jahren und verband sich im Wesentlichen durch ihre Kritik am damals längst noch nicht aufbereiteten Dritten Reich und dessen widerstandslosen Massenmord an den Juden durch das NS-Regime (vgl. Winkler 2007, S.13). Dies und u.a. auch die Toleranz des Vietnam-Kriegs der USA durch Bonn mobilisierte insbesondere viele junge Leute in den Sechzigern in einer Studentenbewegung, die sich in einem zunehmenden Generationenkonflikt von ihren Eltern abgrenzte (vgl. Backes 1991, S. 55f.): „Angehörige der Nachkriegsjugend stellten die Träger der von den Universitäten ausgehenden Protestbewegung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Der Generationenkonflikt war programmiert: Empfand so mancher der Älteren die neugewonnene Sicherheit und Behaglichkeit nach den Schreckenszeiten vor 1945 als Geschenk des Himmels, begehrten viele der Jüngeren gegen die scheinbare Unbeweglichkeit und autoritäre Erstarrung der bestehenden Verhältnisse auf; berauschten sich die einen nach den Jahren der Entbehrung an den materiellen Verlockungen der Wirtschaftswunderwelt, empfanden die anderen den errungenen Wohlstand als selbstverständlich und wandten sich 'höheren' ideellen Werten zu; waren Teile der Elterngeneration aus der Sicht ihrer Kinder im Lebensstil zum wilhelminischen Kleinbürgertum mit Pantoffeln, Schlafmütze und Schnauzbartbinde zurückgekehrt, sucht die nachgewachsene Generation in der amerikanischen Musik- und Protestkultur nach Idolen“ (Backes 1991, S.52f., Hervorhebung im Orig.). In der zweiten Hälfte der Sechziger gab es die ersten Proteste, hauptsächlich an Universitäten, die zum größten Teil aber friedlich verliefen (vgl. Della Porta 2006, S.39). Della Porta (2006) spricht dabei von einer Überreaktion des Staates und der Bevölkerung auf diese Proteste der Studenten (vgl. S.39) aufgrund von „wechselseitigen Ängsten einer Renazifizierung“ (ders., S.40, Hervorhebung im Orig.). Am 2. Juni 1967, während eines Besuch des persischen Schahs Mohammad Reza Pahlavi in der BRD, artete die Situation aus: Protestierende Studenten wurden von Polizei und sogenannten „Jubelpersern“ verprügelt, gegen Abend wurde Benno Ohnesorg von einem Polizeibeamten erschossen (vgl. Winkler 2007, S.82ff.). Sein Tod diente später als Erklärung für den Schritt in Richtung Terrorismus (vgl. ders., S.87). Auch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) selbst, zu deren erstem Jahrgang u.a. Meins,...