1.2 Sie selbst
„Ich habe in meiner Jugend auch viele Horrorfilme gesehen, aber trotzdem ist die Zahl der Personen, denen ich mit einer Axt den Schädel gespalten habe, überschaubar.“ Günther Jauch
Sie selbst haben alle Fähigkeiten, um in jeder Situation deeskalierend zu wirken. Doch nutzen Sie diese Fähigkeiten auch komplett oder können Sie einige Sachen in dieser Hinsicht an sich „verbessern“?
1.2.1 Wahr-nehmung
„Einer der häufigsten Fehler der Menschen liegt darin, dass sie glauben, dass unsere begrenzte Wahrnehmungsfähigkeit auch die Grenze dessen ist, was wir erfahren können.“ C. W. Leadbeater
Sie haben fünf Wahrnehmungsorgane (Augen, Ohren, Haut, Nase, Zunge) und können über diese Informationen aufnehmen. Sie nehmen um sich herum „wahr“, was für Ihre Sinne wahr ist. Dies kann aber auch eine „unwahre“ Fatamorgana oder eine Halluzination sein. Sie werden wahrscheinlich ein bevorzugtes Sinnesorgan haben, welches sich auch in Ihrer Wortwahl widerspiegelt. Wenn Sie von „keinen Durchblick haben“, „schwarz sehen“ oder „Sachen unter die Lupe nehmen“ sprechen, werden Sie den Sehkanal ausgeprägt nutzen. Wenn Sie von „kein Tamtam machen“, „auf gleicher Wellenlänge sein“ oder „in Harmonie leben“ reden, könnte Ihr Hörkanal hauptsächlich genutzt werden. Schön wäre es, alle Kanäle ansprechen zu können. Es kann nämlich passieren, dass Menschen, die auf unterschiedlichen Kanälen sind, sich nicht verstehen. Durch Beobachtung, Reflektion, Sinneskanaltraining (z.B. nur auf Geräusche hören) und „Spielen“ mit Wörtern kann dies verbessert werden.
Die Schärfung der Wahrnehmung kann jedenfalls zur Deeskalation beitragen. Sie sollten lernen, frühzeitig Warnsignale von anderen und von sich selbst zu erkennen, die auf eine mögliche Eskalation hinweisen. Die eigenen Gefühle können genauso wie die Körpersprache des Gegenübers ein Warnsignal sein.
Je früher Sie eine Eskalation wahrnehmen, desto einfacher ist die Deeskalation.
Achten Sie dabei besonders auf Ihre unguten Gefühle, Ihr Bauchgefühl, Ihre Intuition.
Augen sagen mehr als Worte. Kurze, unbewusste Bewegungen der Augen in verschiedene Richtungen geben z.B. Aufschluss darüber, aus welchem Sinnessystem gerade Informationen abgerufen werden. Die folgende Grafik gilt für die meisten Rechtshänder. Bei Linkshändern sind die Seiten meist vertauscht.
VK | visuelle Konstruktion (phantasierte innere Bilder) |
AK | auditive Konstruktion (phantasierte Geräusche/Klänge) |
AE | erinnerte Geräusche/Klänge |
K | Bewegungen, taktile Gefühle, Emotionen |
AD | innere Stimme(n), innerer Dialog |
Die Augen (visueller Sinneskanal) gelten als „Fenster der Seele“ und sind in unserer Gesellschaft oft das bevorzugte Sinnesorgan. Deshalb gehen wir auf die Augen auch ein wenig intensiver ein. Blicke sind „Berührungen auf Distanz“ und es lässt sich so alles Mögliche mit den Augen ausdrücken: Einen vernichtenden Blick zuwerfen / einen vielsagenden Blick zuwerfen / mit Blicken töten / jemanden freundlich anblicken / jemandem zuzwinkern / einen mit Argusaugen beobachten / ein Auge auf jemanden werfen / jemanden nicht aus den Augen lassen / jemanden mit den Blicken verfolgen / mit einem lachenden und einem weinenden Auge / große Augen machen / jemanden aus den Augen verlieren / jemandem schöne Augen machen / jemanden mit Blicken fixieren / Liebe auf den ersten Blick empfinden / jemanden mit Blicken verzaubern / der Blick spricht Bände / etwas mit einem Blick erfassen / jemanden mit Blicken verschlingen / heimliche Blicke tauschen oder wechseln (siehe Kapitel „Visuell“)
Unsere Ohren nehmen Geräusche wahr (auditiv). Lautstärke kann Aggression und leise Töne Unsicherheit ausdrücken. Eine dunkle feste Stimme wirkt vertrauenserweckend und ehrlich (siehe Kapitel „Verbal“).
Vieles unserer Umwelt nehmen wir durch Fühlen (kinästhetisch) und Bewegen wahr. Einen anderen Menschen zu berühren kann Nähe, aber auch Machtgefälle zeigen. Ein Chef kann in der Öffentlichkeit meist ohne Schwierigkeiten seinem Azubi auf die Schulter oder den Rücken klopfen. Umgekehrt wäre es eher ein befremdliches Bild (siehe Kapitel „Taktil“).
Die beiden Sinne Riechen (olfaktorisch) und Schmecken (gustatorisch) werden oft zusammengefasst, da Schmecken zu 80% durch die Nase und ihren Geruchsinn wahrgenommen wird. Deshalb sollen sich Kinder beim Schlucken bitterer Medizin auch die Nase zuhalten. Viele Gerüche werden unbewusst wahrgenommen, sind aber für das ganzheitliche Erleben wichtig. Daher auch bestimmte Redensarten wie „das stinkt mir“, „den andern gut riechen können“ oder „mir schmeckt das nicht“. Interessant ist, dass wir, um von vielen anderen gerne gerochen zu werden, lieber unseren Eigengeruch mit Deo neutralisieren und durch das Analsekret eines Ochsen (Moschus) ersetzen.
1.2.2 Filter und Bedürfnisse
Im Alltag machen wir uns schnell ein Bild von anderen Menschen, wobei dieses nur teilweise das Ergebnis sorgfältiger Beobachtung und Auswertung dessen ist, was wir in Erfahrung bringen können. Vielmehr entwickeln wir auf der Grundlage von eigenen Erfahrungen spontan ganz bestimmte Eindrücke und Urteile. Wir verallgemeinern das Beobachtbare, ordnen das Wahrgenommene in gespeicherte Schemata, Raster und Schubladen ein, ergänzen das Wahrgenommene durch Annahmen und Denkgewohnheiten (siehe Kapitel „SOR- oder ABC-Modell“).
Jeder Mensch bekommt über seine Sinnesorgane ca. zwei bis elf Millionen Informationen pro Sekunde geliefert, kann bewusst aber nur fünf bis 35 Informationen verarbeiten. Dieser Filterungsprozess wird durch die jeweiligen Werte, Überzeugungen, Erinnerungen, Erfahrungen und Hintergründe beeinflusst. Aufgrund dieser verarbeiteten Informationen zeichnet sich jeder Mensch seine eigene Landkarte von der Welt, welche aber nicht die Wirklichkeit (Gebiet), sondern nur einen Ausschnitt (eigene Landkarte) zeigt. Diese Landkarten können sehr unterschiedlich sein. Gehen Sie einfach mal mit einem Polizeibeamten, einem Rechtsextremisten und einem Modedesigner für einen Einkaufsbummel in die Stadt. Lassen Sie sich danach schildern, worauf jeder Einzelne geachtet und was sie wahrgenommen haben. Wir gehen davon aus, dass Sie drei völlig unterschiedliche Geschichten und Erfahrungen hören.
Jeder Mensch hat seine Vor-erfahrungen und auch seine Vor-urteile. Innerhalb der ersten zehn Sekunden schieben wir den neu Kennengelernten in eine Schublade. Auch wenn Sie sehr reflektiert oder fast erleuchtet sind, werden Sie dies tun. Das ist nicht verwerflich. Wichtig ist nur, dies zu wissen und diesen Menschen auch leicht in andere Schubladen gelangen zu lassen.
Zu dem Bereich Vor-urteile gab es u.a. folgende Experimente. Unter Leitung des amerikanischen Psychologen Robert Rosenthal (1933) machten Studenten Versuche mit angeblich „schlauen“ und „dummen“ Ratten. Diese waren aber gleich intelligent. In diesen Tests schnitten aber tatsächlich die „schlauen“ Ratten viel besser ab als ihre „dummen“ Artgenossen. Danach testete Rosenthal zu Beginn eines Schuljahres alle Kinder einer Schule. Dann gab er den Lehrern die Namen einzelner Schüler, die dem Testergebnis zufolge eine „ungewöhnlich gute schulische Entwicklung“ nehmen sollten (insgesamt 20% der Schüler). Die Namen der „Hochbegabten“ waren wiederum streng nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Am Ende des Schuljahres hatten die vermeintlich „Hochbegabten“ nach dem Ergebnis eines Schulleistungstests einen großen Vorsprung gegenüber den anderen Schülern. Die „Hochbegabten“ hatten viel bessere Noten und schnitten in Intelligenztests auch besser ab. Der Umgang der Lehrer mit den „Hochbegabten“ und den anderen Schülern führte ersichtlich zu einer Veränderung. Dieser Versuch macht noch einmal deutlich, welche Auswirkungen es hat, wenn Menschen in Schubladen gesteckt und dort nicht wieder rausgelassen werden.
Wie weit Menschen gehen, wenn sie ihre Verantwortung abgeben können, zeigte folgendes Experiment. Der amerikanische Psychologe Stanley Milgram (1933 – 1984) untersuchte, ob „normale Menschen“ anderen Menschen Elektroschocks per Knopfdruck zufügen würden, wenn diesen erklärt wurde, dass es für dieses Experiment notwendig sei. Über Lautsprecher hörte der „Knopfdrücker“ bei jeder Erhöhung der Voltzahl das Grunzen, Betteln und Schreien des anderen Menschen. Ab einer bestimmten Voltzahl kam nur noch Stille. In verschiedenen Durchgängen brachen bis zu 65 % dieses Experiment nicht ab und gingen bis zum „Ende“.
Aber warum handeln Menschen, wie sie handeln? Menschen werden von Bedürfnissen angetrieben. Die meisten Bedürfnisse treiben uns unbewusst an. Werden sie nicht befriedigt, können Ersatzbefriedigungen (z.B. Süchte) folgen.
Der amerikanische Forscher...