2. Europapolitische Finalitätsleitbilder im Wandel
Im Vordergrund dieses Kapitels stehen die Herausarbeitung von Definitionen und Funktionen europapolitischer Finalitätsleitbilder sowie die Betrachtung ihres Kontextes zur Einordnung von Leitbildern in einen von der politikwissenschaftlichen Leitbildforschung verwendeten Begriffskomplex. Abschließend werden in einem Überblick die unterschiedlichen Finalitätsleitbilder zur Europäischen Union skizziert, um die Untersuchungsländer vorläufig zuordnen zu können.
2.1 Der Begriff des europapolitischen Leitbildes
Im Allgemeinen sind Leitbilder abstrakte Phänomene, d.h. Ideen oder Vorstellungen.
Die Begriffe Leitidee oder Leitvorstellung sind synonym mit dem Begriffswort Leitbild und in der deutschen Soziologie seit den 1950er Jahren eine „gebräuchliche Bezeichnung für Komplexe normativer Vorstellungen über die erstrebenswerte Gestaltung der Gesellschaft oder eines ihrer Teilbereiche […]. Soziale Leitbilder geben an, wie ‚man‘ leben, welche Ziele ‚man‘ anstreben soll“ (Fuchs-Heinritz/Lautmann u.a. 2007: 394). Diese allgemeine Definition liefert zwar noch keine Spezifizierung der abhängigen Variable, stellt aber bereits deren dynamischen und orientierenden Charakter als universelle Merkmale heraus. Die wesentlichen Aspekte von Leitbildern in der Europapolitik hinsichtlich ihrer Rolle und Bedeutung fasst Janning zusammen: Diese „bündeln die Erwartungen der Akteure“ an die Integrationsentwicklung und vermitteln auf diese Weise Orientierung. Zudem erlauben sie die „Ableitung von Maßstäben und Aufgaben“ für Akteure und Institutionen der europäischen Politik. Schließlich „messen Leitbilder der aktuellen Europapolitik Bedeutung zu“ und wirken damit „stabilisierend auf den Integrationsprozess“ (Janning 2006: 304f.). Eine weitere Kurzfassung bieten Hierzinger und Pollak, nach der europapolitische Leitbilder der fortschreitenden Integration Sinn und Ziel gäben, sei doch die ‚Leitbild-Frage‘ eng mit der „Integrationsarchitektur“ verknüpft, denn die zunehmende Europäisierung und die damit verbundene Tendenz einer „Erosion nationaler Staatlichkeit“
könne nur durch die davon betroffene Frage gelöst werden, welche Kompetenzen auf die ‚Erste Säule‘ der Europäischen Union – dem vergemeinschafteten Bereich – übertragen werden sollten bzw. auf welche politische Finalität die Gemeinschaft zusteuern sollte. Damit verbunden sei auch die ‚europäische Verfassungsfrage‘, deren Lösung nicht ohne die Orientierung an einem „konvergenten europapolitischen Leitbild“ gefunden werden könne (Hierzinger/Pollak 2001: 9f.).
Mit diesen Kurzfassungen beziehen sich die Autoren auf Schneider, der bisher am umfassendsten und systematischsten zu Leitbildern in der Europapolitik forschte und als einer der führenden Analysten in der Leitbildforschung zur Europapolitik gilt.[16]
So sind unter Leitbildern in der Europapolitik Zielvorstellungen zum Integrationsprozess und zugleich auch „Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der je gegebenen Situation“ im Sinne „orientierender Realitätsdeutungen“ zu verstehen (Schneider 1992: 4, ders. 1977: 21f.).[17] Entscheidend ist hierbei Schneiders Betonung eines dialektischen Charakters europapolitischer Leitbilder: Beide Definitionsmerkmale seien miteinander verbunden, d.h. aus dem wahrgenommenen ‚Istwert‘ als tatsächlichen Zustand oder auch „deskriptiven Moment“ der europäischen Integration und dem ‚Sollwert‘ als gewünschten Zustand oder auch „präskriptiven Moment“ ergäben sich [sowohl zwischen als auch in den EU-Mitgliedstaaten] unterschiedliche Bewertungen zur EU und damit auch Spannungsmomente, da die politische Realität von den sozialen Akteuren unterschiedlich konstruiert werde (vgl. Schneider 1998: 44, hier Anmerkung 75, 71f.).[18] Gemäß dieser Spannung zwischen beiden Momenten kann also der Istwert der europäischen Integration kein Zustand sine ira et studio sein, d.h. kein objektiver, deutungsfreier Zustand, dem einfach die verschiedenen Sollwerte/Zielvorstellungen gegenüberstehen, aus denen sich diskrepante Urteile und Bewertungen zur europäischen Integrationspolitik ergeben können. Weiterhin verfährt Schneider unabhängig von der Frage nach einem Zusammenhang zwischen Leitbildern und konkreten Zielen bzw. Ziel-Mittel-Systemen, wie es sonst in der leitbildbezogenen Forschung in der Politikwissenschaft üblich ist (vgl. Giesel 2007: 77).
Um jedoch die Funktionen von europapolitischen Leitbildern ermitteln zu können, müssen die verschiedenen Leitbildverständnisse erst systematisiert werden. Im Folgenden wird dieser Zusammenhang näher betrachtet.
2.1.1 Funktionen und Pluralität europapolitischer Leitbilder
Durch ihre umfangreiche Darstellung zu europapolitischen Leitbildern bietet Giesel eine gute Ergänzung zu Schneiders Konzept, da sie die unterschiedlichen Leitbildverständnisse systematisiert und auf diese Weise deren Funktionen in der Politik(-wissenschaft) ermittelt. Dabei nimmt die Autorin vorweg, dass Leitbilder in der Politik zwar seit den 1950er Jahren einen eigenen Forschungsschwerpunkt in den Sozialwissenschaften bilden, dass jedoch der Begriff des Leitbildes innerhalb der Politikwissenschaft durch eine fehlende Konkretisierung keinen eigenen Fachterminus bilde und deshalb uneinheitlich sei.[19]
Stattdessen existierten sowohl innerhalb der Politik (z.B. in der Wirtschafts-, Sozial- oder Europapolitik) als auch in der leitbildbezogenen Forschung unterschiedliche Leitbildverständnisse, die „in ein jeweils spezifisches Verhältnis zu Zielen, Mitteln und Zielsystemen gesetzt“ würden, woraus sich unterschiedliche Umgangsformen mit Leitbildern ergäben (Giesel 2007: 62f.).[20] Die Autorin identifiziert drei Grundpositionen von Leitbildverständnissen in der Politikwissenschaft:
„Erstens werden Leitbilder als rationale, d.h. abgestimmte und in sich konsistente Zielsysteme selbst
oder doch zumindest übergeordnete Zielvorstellungen als Element dieser operationalen Zielsysteme
verstanden. Zweitens stehen Leitbilder für mehr oder weniger vage, […] in einem Such- und
Aushandlungsprozess kontextuell ausgestaltbare, aber nicht wissenschaftlich operationalisierbare
Zukunftsentwürfe. In diesem Verständnis stellen Leitbilder einen vor-rationalen Entwurf, ein
Wertesystem bzw. eine regulative Idee dar, welche sich durch Offenheit und Interpretierbarkeit
auszeichnen. Ganz eigen ist schließlich drittens das Leitbildverständnis der Forschung zur europäischen
Integration, die Leitbilder nicht als Instrument der politischen Zielfindung definiert und behandelt,
sondern als Kategorie zur Beschreibung der Ziel- und Hintergrundvorstellungen sowie Motive im
europäischen Integrationsprozess nutzt“ (Giesel 2007: 77, Hervorhebungen im Original).
Somit unterscheiden sich Leitbilder nicht nur in ihrem jeweiligen Verhältnis zu Zielsystemen,
sondern auch in ihrem Abstraktionsniveau bzw. Konkretisierungsgrad: Je höher der Grad des Konkreten, d.h. je fassbarer ihre inhaltliche Aussage und Orientierungsleistung, desto mehr sind Leitbilder Elemente von Zielsystemen und damit „Gestaltungsinstrumente“ politischer Zielfindung oder auch Mittel zum Zweck für die Realisierung festgelegter Zielpunkte (Giesel 2007: 78, 196).[21] Für die Erhebung europapolitischer Leitbilder bedeutet dies, dass es sich im Unterschied zu impliziten Leitbildern bei expliziten Leitbildern um „manifeste Zielformulierungen handelt, die durch Ableitung von konkreteren Zielen und Maßnahmen unmittelbar handlungsrelevant“ werden, wohingegen sich Leitbilder in der Europapolitik durch ihren hohen Abstraktionsgrad auszeichnen und demzufolge nicht als Instrumente fungieren, sondern lediglich handlungsorientierend sind und in der Forschung als Analysekategorie zur Beschreibung und Untersuchung von Finalitätsvorstellungen der Akteure dienen (Giesel 2007: 79, 196). Es geht also in der vorliegenden Leitbildanalyse um die Identifikation impliziter Leitbildmerkmale bzw. um die „dem europäischen Integrationsprozess zugrunde liegenden Motive und Zielvorstellungen, Wahrnehmungsmuster und Gegenwartsdeutungen“ (Giesel 2007: 80), die sich durch verschiedene Konzeptionen ausdrücken. Dies bezeichnet Schneider als „Pluralität der Leitbilder“ (vgl. Schneider 1992: 4).
So verweist der Wissenschaftler unter Bezugnahme auf Hermann Heller darauf, dass unterschiedliche und auch konkurrierende Beschreibungen der europapolitischen Realität in der politischen Welt die Regel seien, und dass diese vom „jeweiligen [nationalen] politischen Geschichtsbild – einschließlich seiner Zukunftsperspektive – [abhingen]“ (Schneider 1998: 43).
Heller entwickelte bereits in den 1930er Jahren in...