2. Komplexität und Wesensmerkmale des Nordirlandkonfliktes
"I have read very widely in the general literature on conflict, hoping to pick up ideas which would help me to understand the Northern Ireland problem more clearly. It has been largely a waste of time."[14]
Die Ursprünge des Nordirlandkonfliktes werden gewöhnlich entweder mit einem oder mehreren fundamentalen Aspekten der menschlichen Zusammengehörigkeit, etwa der Religion, der Politik, der wirtschaftlichen Entwicklung, der Ethnizität und dem kulturellen Leben in Verbindung gebracht. Solche sozialen Assoziationen bzw. Dissoziationen sind von großer Relevanz, weil sie sich auf die Wege beziehen, über die sich Menschen und ihre individuelle Rolle in der Welt identifizieren lassen. Das Selbstbestimmungsrecht der Sozialgruppen, sich zu profilieren, führt in der nordirischen Gesellschaft zu Grenzziehungen und Mauerbildungen, zur Determinierung von Territorien und zu einer sowohl physischen als auch emotional-psychischen Differenzierung von den anderen.
2.1 Der Nordirlandkonflikt - ein Konfessionskrieg?
Die einfachste Methode, den Nordirlandkonflikt zu definieren, besteht darin zu sagen, worum es nicht geht. In der Wissenschaft hielt sich zuerst lang und hartnäckig die Auffassung, es tobe eine Art „Glaubenskrieg“ zwischen Katholiken und Protestanten, das heißt, es handele sich um einen reinen Religionskonflikt.[15] Durch den Begriff "sectarian" wird dabei versucht, den Konflikt zwischen den irisch-katholischen und den protestantisch-britischen Antagonisten zu umschreiben.[16] Die strikte räumliche Segregation zwischen katholischen und protestantischen Wohngebieten zum Beispiel steht für den Lebensweg der meisten Nordiren: während katholische Kinder zumeist kirchliche Schulen besuchen, sind Protestanten an staatlichen eingeschrieben.[17] Und sogar bei der Freizeitgestaltung bestehen keinerlei Kreuzverbindungen, also institutionalisierte sozial-politische Kontakte über Konfessionsgrenzen hinweg. Die meisten katholischen Jugendlichen spielen zum Beispiel Gaelic Football (eine irische Mischung aus Fußball und Rugby), während ihre protestantischen Altersgenossen eher den typischen britischen Sportarten - Kricket und Fußball – zuneigen.[18] Obwohl andererseits eine Agentur für faire Beschäftigung die Diskriminierung am Arbeitsplatz überwacht, sind in vielen Konzernen, Firmen und Betrieben die Angehörigen einer Konfessionsgruppe unter sich. Selbst in einer der wenigen auch in der Praxis überkonfessionellen Instanzen der nordirischen Provinz, in der Queen’s University in Belfast, stellen die Katholiken und Protestanten getrennte Gesellschaftsgrüppchen. Gemischte Ehen sind weiterhin eine Seltenheit.[19]
Tatsächlich aber steht in diesem Kontext weder die Missionierung der jeweils anderen Konfessionsgruppe im Vordergrund, noch streiten Protestanten und Katholiken in Nordirland um die Interpretation bestimmter Dogmen, Glaubenspostulate, Religionskanons oder Enzykliken. Der nordirische Konflikt hat also keinen vornehmlich religiösen Charakter, obwohl die Konfessionszugehörigkeit eine wesentliche Dimension der sozial-politischen Segregation ist. Daher ist der Konflikt in Nordirland mehr ethnisch-nationaler Natur, in welcher die Religion einfach einer der mehreren Unterscheidungsfaktoren ist, der die beiden Nationen spaltet.[20] In diesem Kontext erhielten sowohl die sozial-ökonomischen als auch kultur-politischen Verhaltensmuster der beiden ethnischen Gruppen in Nordirland eine konfessionelle Legitimation. Dadurch wird eigentlich das friedensstiftende Postulat und der moralische Inhalt der Religionslehre missbraucht, pervertiert und instrumentalisiert. Allerdings werden dabei auch Unterschiede in der Struktur der nordirischen Gesellschaft sichtbar, die deutlich machen, dass das Phänomen des nordirischen Konfliktes nicht mit monokausalen Erklärungsmodellen zu beschreiben und zu begreifen ist.
2.2 Der politische Aspekt
Während zweifellos eine der Kernprämissen des Nordirlandkonfliktes in polarisierten ethnisch-religiösen Beziehungen zu suchen ist, spielen dort auch zusätzliche Probleme eine entscheidende Rolle, die zur Komplexität der Situation beitragen. In streng geteilten Gesellschaften setzt sich die religiöse Ethnizität in einer Vielzahl von tagesaktuellen und längerfristigen politischen und gesellschaftlichen Problemen fort: von Entwicklungsplänen, über Meinungsverschiedenheiten im Bildungsbereich und Gewerkschaftsangelegenheiten bis hin zur Agrar-, Wirtschafts- und Steuerpolitik. Charakteristisch für Gebiete mit verschiedenen Ethnien und Religion ist, dass politische und gesellschaftliche Fragen, die anderswo in der alltäglichen Verwaltung beantwortet würden, einen Hauptplatz auf der politischen Tagesordnung einnehmen und so für kontinuierliche Spannung sorgen. Dies ist unzweifelhaft auch in Nordirland der Fall, wo jedes öffentliche Problem auf Schlachtfeld des ethnisch-nationalen Gegensatzes ausgetragen wird.
Grundsätzlich gilt aber festzuhalten, dass sich die ganze Brisanz der politischen Problematik Nordirlands um zwei relevante Schlüsselpunkte gedreht hat bzw. mit Einschränkungen immer noch dreht.[21] Einerseits ging es um die Frage nach der verfassungsrechtlichen Legitimität der nordirischen Provinz innerhalb des Vereinigten Königreiches ("United Kingdom") und zum anderen um die politische Gleichberechtigung der katholischen Minderheit. Während das primäre politische Ziel der katholischen Republikaner über den gesamten Verlauf der Konflikts die Vereinigung der nordirischen Provinz mit der Republik Irland war, verfolgen die protestantische Loyalisten die Aufrechterhaltung des Status quo und die weitere Vertiefung der Verbindung mit der Regierung in London innerhalb des britischen Staatsverbandes. Die enorme Diskrepanz bezüglich des künftigen politisch-rechtlichen Status’ Nordirlands lässt sich besonders eindrucksvoll in der sprachlichen Bezeichnung Nordirlands nachvollziehen: während die protestantische Loyalisten die Provinz mit dem Namen "Ulster" bezeichnen, sprachen zugleich die meisten der katholischen Republikaner von den "Sechs Grafschaften".[22] Und während die pro-britischen Unionisten sich in ihrer politischen Dominanz durch den Government of Ireland Act (1920) und den Northern Ireland Constitutional Act (1973) bestätigt sahen, die allesamt die Teilung der irischen Inseln und die weitere britische Präsenz dort regelten, begründeten die pro-irischen Nationalisten ihre politischen Ansprüche auf die Macht über die gesamte Insel durch das Art. 2 der irischen Verfassung.[23]
Neben dem territorialen Aspekt der Staatszugehörigkeit ging es gleichzeitig aber auch immer um die politische Diskriminierung des katholisch-republikanischen Bevölkerungsanteils, die naturgemäß besonders heftig umstritten war. Die sozial-politische Benachteiligung der pro-irischen Katholiken war nicht zu leugnen, hat sie sich doch in deren mangelnder Präsenz in Exekutive, Legislative und Judikative widergespiegelt.[24] Mehr noch: In manch einer der Machtstrukturen der nordirischen Provinz fehlten die proirischen Katholiken sogar vollständig. Das fundamentale Bedürfnis der katholischen Minderheit, an der Gestaltung der politischen Prozessen Nordirlands auf wirksamen und legitime Weise teilhaben zu können, stellt ein wichtiges Element innerhalb der komplexen nordirischen Problematik dar. Für manche Wissenschaftler ist dies sogar der zentrale Aspekt des Nordirlandkonfliktes - die Frage nach der Machtausübung und Herrschaft über die gesamte Provinz.[25]
2.3 Der ökonomische Ansatz
Bevor die "Troubles" ausbrachen, waren sowohl sozial-rechtliche Streitthemen - unter anderem politische Manipulationen und grobe Wahlkreis-Schiebungen (gerrymandering) - als auch sozial-ökonomische Schlüsselprobleme wie Unterkunft (housing) und Arbeitsbenachteiligung im öffentlichen Leben Nordirlands präsent. Das offensichtliche Unvermögen der Politiker, die gesellschaftlich-politische Stabilität Nordirlands zu gewährleisten, strahlte auch äußerst negativ auf die ökonomische Entwicklung der Provinz aus.[26] Und diese negative wirtschaftliche Entwicklung sorgte wiederum für steigende Spannungen innerhalb der nordirischen Gesellschaft, die sich letztendlich in den blutigen Auseinandersetzungen entluden, die ihre Ursprünge und Ursachen in den Protestkampagnen für bürgerlichen Rechte gegen Ende der 1960er Jahre hatten, die ein Ende der katholischen Benachteiligung nicht nur auf der politischen Ebene, sondern darüber hinaus auch in der Wirtschaftsentwicklung der Provinz forderten.
Katholische Republikaner übernahmen diese Forderung nach einer Beendigung der ökonomischen Diskriminierung als Leitmotiv für ihre Protestkampagne gegen die staatlichen Strukturen Nordirlands und setzten sich zugleich für Verbesserungsmaßnahmen ein. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen seit dem Ausbruch des Konfliktes wurden zweifelsohne durch den tiefen Sinn der katholischen Minderheitsgemeinschaft für die sozial-ökonomische Ungleichheit provoziert und durch...