Die 1. Kompetenz
„Selbstreflexion“ – sich bei sich selbst gut auskennen
„Willst du eine gute Führungskraft sein, dann schau erst in dich selbst hinein.“ Der von Friedemann Schulz von Thun geprägte Satz bringt es auf den Punkt: Wenn Sie Menschen führen wollen, sollten Sie in der Lage sein, Ihr eigenes Denken, Handeln und Fühlen zu reflektieren, um zu verstehen, weshalb Sie sich in einer Situation so verhalten, wie Sie sich verhalten, und welche Gefühle das vermutlich bei den anderen auslöst. Denn nur wer sich selbst gut führen kann, kann auch andere führen. Selbstreflexion ist somit die erste wichtige Führungskompetenz im Umgang mit Konflikten.
Persönlichkeitsanalysen – moderne Reflexionshilfen
Seit Mitte der Neunzigerjahre gibt es eine Reihe sogenannter Persönlichkeitsanalysen, die dabei helfen, Selbstreflexion auf einer fundierten und möglichst objektiven Basis durchzuführen. Es handelt sich dabei meistens um onlinebasierte Selbsteinschätzungen, die jeweils unterschiedliche Facetten der individuellen Persönlichkeit analysieren und abbilden. Ein Auswertungsgespräch mit einem dafür ausgebildeten Coach führt dann zu neuen, vertieften Einsichten.
Es ist also möglich, sich selbst mithilfe von Persönlichkeitsanalysen besser kennenzulernen und daraus Erkenntnisse für den Umgang mit Konflikten zu ziehen. In diesem Buch möchten wir drei Modelle näher vorstellen – nicht, um andere damit auszuschließen, sondern weil diese insbesondere in Bezug auf die Konfliktfähigkeit von Menschen besonders gute und nützliche Informationen liefern. Am Schluss jeder Vorstellung haben Sie die Möglichkeit zu einer Selbsteinschätzung.
Das Riemann-Thomann-Kreuz: Psychologie der Konfliktentstehung
Will man erfolgreich Konflikte klären, braucht man eine Vorstellung davon, wie Menschen psychisch gestrickt sind – welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede es gibt. Nur wenn man versteht, dass Menschen gleiche Aspekte in sich tragen (nur in unterschiedlicher Ausprägung), ist man in der Lage, das Verhalten, das daraus resultiert – und welches so ganz anders sein kann als das eigene –, zu akzeptieren statt abzuwerten. Und gerade in Konflikten zeigen sich die Unterschiede am deutlichsten. Diese gilt es erst einmal zu akzeptieren. Das ist der erste Schritt auf dem Weg zu einer erfolgreichen Konfliktklärung.
Kompass im Dschungel der menschlichen Psyche
„Man sieht den Menschen nur vor den Kopf und nicht hinein“ lautet eine alte Redewendung. Deshalb waren Menschen schon immer neugierig, herauszufinden, wie unser Innenleben „gestrickt“ ist. Schon in der Antike wurden Modelle entwickelt, um sich im Dschungel der menschlichen Psyche besser orientieren zu können und Verhalten erklärbar zu machen. So haben der griechische Arzt Hippokrates und später der Arzt und Philosoph Galenos versucht, die unübersehbare Fülle menschlicher Individualitäten in der sogenannten „Temperamentenlehre“ (Humoraltheorie) bzw. in „Temperamentstypen“ zu kategorisieren. In den vergangenen Jahrhunderten wurde die Typenlehre immer wieder aufgegriffen, neu belebt und weiterentwickelt. Vorreiter der neuzeitlichen Modelle war der bekannte Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung (1875–1961), auf dessen Theorie wir später noch genauer eingehen werden.
Um jedoch die Entstehung von Konflikten zu erklären, hat sich besonders das Riemann-Thomann-Kreuz bewährt. Auch wenn die beiden Männer nie zusammengearbeitet haben, sind sie doch zu ähnlichen Einsichten gekommen. Grundsätzlich lassen sich nach Fritz Riemann und Christoph Thomann vier gegensätzliche Strebungen im Menschen finden, die Thomann als „Nähe, Distanz, Dauer und Wechsel“ bezeichnet hat. Diese vier Grundausrichtungen kommen in unterschiedlicher Ausprägung vor und haben einen großen Einfluss auf die Lebensgestaltung sowie das Kommunikations- und Beziehungsverhalten eines Menschen. Christoph Thomann hat die vier Strebungen in Form eines Koordinatenkreuzes angeordnet. Sie werden nachfolgend in Reinkultur beschrieben.
Das Riemann-Thomann-Kreuz
Die Nähe-Strebung
Begriffe, die die Nähe-Strebung in uns Menschen kennzeichnen, sind: Nähe, Kontakt, Bindung, Wir, Zuneigung, Vertrauen, Sympathie, Mitmenschlichkeit, Fürsorge, Geborgenheit, Zärtlichkeit und Harmonie. Menschen, die eine ausgeprägte Nähe-Strebung haben, sind verständnisvoll, akzeptierend, empathisch, schaffen Geborgenheit, sind altruistisch, gutmütig, wohlwollend und voller Hilfsbereitschaft.
Die Grundangst dieser Menschen ist, die anderen zu verlieren und allein und einsam zu sein. Diese Angst bestimmt in Beziehungen einen Großteil ihres Handelns. Sie sind mehr als andere auf einen Partner angewiesen – sei es durch ihre Liebesbereitschaft und Liebesfähigkeit oder ihr Bedürfnis, geliebt und anerkannt zu werden.
Sie können deshalb das Bedürfnis nach Distanz beim Partner nicht nachfühlen und erleben und deuten es oft als Anzeichen mangelnder Zuneigung oder fehlender Liebe.
Die Nähe-Strebung in der Arbeitswelt
„Liebe gibt es für Leistung“
Menschen mit einer ausgeprägten Nähe-Strebung bilden oft den „Klebstoff“ in Teams. Ein gutes und persönliches Arbeitsklima ist ihnen sehr wichtig. Sie haben im Büro immer einen freien Stuhl bereit, schätzen eine offene Atmosphäre und den persönlichen Kontakt: „Schön, dass Sie da sind. Wie geht es Ihnen? Möchten Sie einen Kaffee mit mir trinken?“ Kontakt und Zusammenarbeit sind wichtig und persönliche Privatgespräche absolut notwendig. Chef und Firma werden oft als Familie gesehen. Diese Menschen fördern daher eine Kultur im Unternehmen, in der der Mensch als wichtiger Faktor gesehen wird. Sie nehmen gerne an Team-entwicklungsmaßnahmen teil, solange es in erster Linie um die positiven Aspekte der Zusammenarbeit geht. Meetings, in denen Konflikte und andere schwierige Themen der Zusammenarbeit besprochen werden, sind für sie ein Gräuel, denn sie halten zwischenmenschliche Spannungen schwer aus, sind diese doch das Gegenteil der von ihnen gewünschten Harmonie.
Menschen mit einer ausgeprägten Nähe-Strebung verknüpfen Arbeitsleistung mit Liebe und Anerkennung. „Liebe gibt es für Leistung“ lautet eine ihrer Grundüberzeugungen. Und so leisten sie gerne etwas, wenn sie anderen helfen können und dafür Wertschätzung bekommen. Da sie es genießen, gebraucht und gemocht zu werden, vermeiden sie es, Nein zu sagen, und übernehmen oft mehr Arbeit, als sie eigentlich bewältigen können.
Führungskraft zu sein, empfinden sie als Fluch und Segen gleichzeitig: Der Fluch liegt im Befehlen und darin, es nicht allen recht machen zu können. Befehlen liegt ihnen nicht – sie bitten ihre Mitarbeiter lieber. Oft machen sie Überstunden, um ihren Mitarbeitern mit delegierten Aufgaben nicht lästig zu werden. Denn sie haben Mühe, eigene Wünsche zu äußern und Forderungen zu stellen – zu groß ist die Angst vor Ablehnung.
Der Segen liegt darin, eine solche Position überhaupt bekommen zu haben – sie sehen sich so in ihrer Arbeit gewürdigt und geschätzt.
Die Nähe-Strebung im Konflikt
Der Umgang mit Aggressionen und Affekten, wie sie häufig in Konflikten zutage treten, sind für Menschen mit einer ausgeprägten Nähe-Strebung eine Herausforderung. Wie kann man aggressiv sein, wenn man voller Verlustangst ist, sich als abhängig erlebt und sehr darauf angewiesen ist, sympathisch zu sein und gemocht zu werden? Der Abhängige kann nicht den angreifen, den er so dringend braucht – das würde bedeuten, den Ast abzusägen, auf dem man sitzt.
Deshalb neigen Menschen mit einer ausgeprägten Nähe-Strebung dazu, Konflikte lange zu leugnen. Eher verschaffen sie sich durch „Tratschen“ Erleichterung als durch eine direkte Konfrontation. Wirklich aggressiv und wütend können sie nur sein, wenn sie sich sicher sind, dass der Ausdruck dieser Gefühle keine Folgen hat und es nicht zur Kündigung der Beziehung führt.
Die Distanz-Strebung
Begriffe, die die Distanz-Strebung in uns Menschen kennzeich-nen, sind: Distanz, Abgrenzung, Alleinsein, Individualität, Unabhängigkeit, Ich, Wahrheit, Unverwechselbarkeit, Rationalisierung, Denken, Intellekt, Fakten, Überheblichkeit, Stolz, Selbstgefälligkeit, Misstrauen, Aggression, Bosheit, Verachtung, „messerscharfe Zunge“, Verweigerung, Hass.
Menschen mit einer ausgeprägten Distanz-Strebung wollen und brauchen genau das Gegenteil von dem, was „Nähe-Menschen“ brauchen: Abgrenzung, Unverwechselbarkeit, Freiheit, Individualität, Unabhängigkeit, rationales Denken und Handeln.
Die Grundangst dieser Menschen ist, ihre Unabhängigkeit zu verlieren. Sie haben Angst vor der (Selbst-)Hingabe, die als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt wird. Daraus resultierend: die Angst vor Nähe und emotionaler Beziehung.
Nicht, dass Menschen mit einer ausgeprägten Distanz-Strebung Nähe, Kontakt und Bindung unwichtig wären – diese stehen für sie einfach nicht an erster Stelle, sie brauchen sie nicht um jeden Preis. Sie können sich erst auf einen anderen einlassen, wenn die Abgrenzung, die Distanz, der Rückzug, die Freiheit und die Individualität gewährleistet sind. Deshalb erscheinen sie oft kontaktscheu, arrogant und unbeholfen im Nahkontakt. Menschen mit Distanz-Strebung vermeiden Small Talk und sind auch tatsächlich wenig geübt darin. Denn oberflächlicher Kontakt ist ihnen ein Gräuel. Sie wollen, dass es um Wesentliches und Tiefes geht. Sie brauchen eine „gleiche Wellenlänge“, im Idealfall eine Seelenverwandtschaft im Kontakt. Ist diese nicht gegeben,...