II. Krankheit und Ritual
1. Rituale in unserer Gesellschaft
Die uns bekannten alten Kuturen hatten ausnahmslos eine Gemeinsamkeit: Aus Symbolen formten sie Rituale für die besonderen Übergangsphasen des Lebens, aber auch für den Alltag und seine Anforderungen. Nur der moderne Mensch glaubt, ohne Rituale auszukommen, und hält sie für überholten Aberglauben. Auf diesem Hintergrund ist es um so erstaunlicher, wie viele Rituale sich in unsere aufgeklärte Zeit gerettet haben. Unbemerkt oder geflissentlich übersehen, beherrschen sie noch immer das Bild der Gesellschaft. Neben den wenigen verbliebenen bewußten Ritualen wie Taufe, Konfirmation, Firmung, Eheschließung und Begräbnis gibt es unzählige halb- und unbewußte Handlungen, die von ihrem Ritualcharakter leben. Kleine Zwangsrituale füllen den Alltag, etwa wenn erwachsene Menschen plötzlich nicht umhin können, eigenartige Schrittfolgen auf dem Muster des Trottoirs zu entwickeln, beim Eisenbahnfahren geradezu zwanghaft die vorbeihuschenden Masten zählen, wenn fünfmal nachgeprüft werden muß, ob das Auto wirklich zu, die Haustür verschlossen ist, die Stecker aus den Steckdosen gezogen sind und so weiter und so fort. Alle diese Handlungen haben keinen logisch faßbaren Sinn, es geht lediglich, wie für Rituale typisch, um das Tun an sich. Neben solch alltäglichen und scheinbar nebensächlichen gibt es auch eine Fülle von wichtigen Ritualen.
Unser Gerichtswesen baut darauf auf, daß die Mitglieder der Gesellschaft an dieses alte Ritual der Rechtsprechung glauben und es anerkennen. Der rituelle Charakter wird bei jeder Verhandlung im streng ritualisierten Ablauf deutlich. Die Gerichtsordnung entspricht fast der eines Ordens. Die Roben der Richter, Ankläger und Verteidiger sind bedeutungsschwangere Ritualgewänder. Aus welch anderem Grund sollte ein erwachsener Jurist ein Kleid und eine Perücke überstreifen, wenn nicht, um Justitia rituell zu dienen. Wie der Priester hat der Richter sein Amt ohne Ansehen der eigenen oder der abzuurteilenden Person zu versehen. Während er seines Amtes waltet, ist er nur den Regeln des Gerichtsrituals unterworfen und hat bis zum Ende der Verhandlung aufzuhören, eine individuelle Privatperson mit Privatmeinungen zu sein. Gelingt ihm dies nicht und ist er anderen als ausschließlich den gerichtlichen Regelbüchern verpflichtet, wird er als befangen abgelehnt.
Jeder Abschluß eines Vertrages, das bewußte Anerkennen eines Sachverhaltes durch die eigenhändige Unterschrift, erfüllt die Kriterien eines Rituals. Es ist eben nicht möglich, den Namen unter das Schriftstück zu tippen oder zu stempeln, obwohl er dann sogar besser lesbar wäre. Bei politischen Verträgen ist das Zelebrieren der Ratifizierung als Ritual der Anerkennung besonders augenfällig. Auch der gewöhnliche Verkehr der Menschen untereinander ist rituellen Regeln unterworfen, die an sich und funktional betrachtet wenig Sinn ergeben. Warum gibt man sich zur Begrüßung ausgerechnet die rechte offene Hand und nicht die linke Faust? Unser Leben ist durch Symbole und Zeichen bestimmt, von den Farben der Kleidung bis zu den Verkehrszeichen. Alle solcherart ausgestatteten rituellen Abläufe leben davon, daß sie anerkannt und befolgt werden. Verkehrsregeln und -zeichen machen an sich überhaupt keinen Sinn, aber von allen respektiert, regeln sie die schwierigsten Situationen. Rituale sind nicht logisch, sondern symbolisch, sie sind die wirkenden Muster. Ohne sie wäre gesellschaftliches Zusammenleben unmöglich.
Das Problem dabei ist, daß unbewußte Rituale nicht so gut funktionieren wie bewußte und in modernen Industriegesellschaften diesbezüglich eine starke Tendenz zur Unbewußtheit vorherrscht. Die Bedeutung der Rituale verliert ihre Verankerung im Bewußtsein immer nachhaltiger und sinkt in den Schatten. An der gesellschaftlichen Oberfläche verkommen sinnentleerte Formen zu Gewohnheiten. Diese sind auf Grund ihrer tiefen Wurzeln in den ehemals bewußten Mustern immer noch ausgesprochen zählebig. Wenn der ursprüngliche Sinn schon lange vergessen ist, überdauern Gewohnheiten und geben der Gesellschaft weiterhin einen Rahmen. Versuche, sie wegzureformieren, scheitern häufig an ihrer tiefen Verwurzelung. Mit wieviel Elan die französischen Revolutionäre von 1789 auch versuchten, die 7-Tage-Woche in einen logischeren und produktiveren Zehnerrhythmus umzuwandeln, der Siebenerrhythmus war zu tief in der Wirklichkeit verankert und überdauerte die Revolution.
Selbst wenn wir die Wurzeln nicht mehr kennen, aber den daraus gewachsenen Regeln weiter folgen, bleiben wir in der Geborgenheit der Muster. Die Gefahr ist lediglich, daß mit der Bewußtheit auch die seelische Ladung nachläßt. Werden die Regeln nur noch mechanisch ohne Bewußtheit vollzogen, verwässern sie. Wenn ihr Sinn nicht mehr erkannt wird, erscheinen sie uns sinnlos. Deshalb deuten wir sie nicht mehr, und notgedrungen verlieren sie an Bedeutung.
2. Rituale des Übergangs
Die Übergangsstadien des Lebens erfordern Rituale und bekamen sie zu allen Zeiten. Während archaische Kulturen auf die initiatische Kraft von Pubertätsriten vertrauten, haben wir deren letzte Relikte, Konfirmation und Firmung, weitgehend entwertet. Nicht ausreichend mit Bewußtheit geladen, degenerieren sie zu Gewohnheiten, die ihre Funktion kaum noch erfüllen. Für heutige Jugendliche ist es schwerer, erwachsen zu werden, fehlen ihnen doch bewußte Übergangsrituale, die sie im neuen Muster der Erwachsenenwelt mit seinen ganz anderen Regeln und Symbolen sicher verankern. Wo wir glaubten, ihnen die Greuel dunkelsten Aberglaubens ersparen zu können, beraubten wir sie wesentlicher Reifungschancen. So hart und grausam die entsprechenden Riten archaischer Kulturen gewesen sein mögen, vom tagelangen Aussetzen in der Wildnis oder in dunklen Erdhöhlen bis zu blutigen Mutproben und Panik auslösenden Geisterbegegnungen, es waren gangbare Schritte auf die neue Ebene.
Da es nicht ohne Rituale geht, müssen sich heutige Jugendliche um Ersatz bemühen. Die erste Zigarette*, im Kreise Gleichgesinnter quasi rituell geraucht, ist ein entsprechender Versuch. Wohl wissend, daß sie noch nicht erwachsen sind, wagen sie einen Vorgriff auf eines der eigentlich noch verbotenen Privilegien der Erwachsenenwelt. Mit dem Brechen dieses Tabus hoffen sie unbewußt, den Zugang zum neuen Muster zu erzwingen. Ähnlich wie bei archaischen Pubertätsritualen ist damit Angst verbunden. Die neue Ebene ist gefährlich, und die erste Zigarette zeigt es. Die meisten Ritualteilnehmer bekommen entsprechend Schiß zum Zeichen dafür, wie sehr sie die Hosen voll haben. Aber mutig und aggressiv hustend, trotzen sie diesen Anfangsschwierigkeiten.
Ein noch wichtigeres Ersatzritual ist die Führerscheinprüfung. Um Mitglied einer Autogesellschaft zu werden, muß man sich entsprechend ausweisen können. Ist diese eigentliche Reifeprüfung bestanden, beginnen Mutproben auf den Straßen. Zahl und Art der Unfälle im ersten Führerscheinjahr sprechen dafür, daß vor allem junge Männer auf diesem Weg ausziehen, das Fürchten zu lernen.
Das Problem solcher Ersatzhandlungen ist, daß sie durch die mangelnde Bewußtheit und vor allem durch das Fehlen einer helfenden Hand von der anderen, in diesem Fall erwachsenen Seite keine Sicherheit auf der neuen Ebene bieten können. So bleiben die Jugendlichen am Ersatzritual hängen, werden zu Kettenrauchern, Rasern und Geisterfahrern, aber nicht erwachsen.
Früher wurden die Handwerksburschen auf die Wanderschaft geschickt, und bis vor einigen Jahren gingen Au-pair-Mädchen in die Fremde, um Erfahrungen zu sammeln und »sich die Hörner abzustoßen«. Die Gesellschaft war sich noch bewußt, wie gefährlich die ahnungslosen jungen Menschen mit ihren nicht abgestoßenen Hörnern andernfalls werden konnten. Heute bleiben besonders Bürgerkinder, legitimiert durch gründlich reformierte Ausbildungsvorschriften und eigentümliche Auswüchse der Eltern- bzw. Mutterliebe häufig zu Hause hängen. Da sind die Straßen wenn auch ein gefährlicher, so doch ein Ausweg. Horrorfilme, deren Boom sich ebenfalls aus dem Defizit junger Menschen an Angst, Panik und Abenteuer erklärt, können das Vakuum nicht füllen, sie illustrieren es lediglich.
3. Rituale der modernen Medizin
Der Beginn des Lebens wurde in alten Zeiten mit einem Geburts-, das Ende mit einem Sterberitual begangen. Heute haben wir beides weitgehend in Kliniken verlegt, und damit an einen Hort unbewußter Riten. Die in der Medizin herrschenden Rituale können uns helfen, den generellen Wert der Ritualistik für Heilungsprozesse zu durchschauen, und sollen deshalb ausführlicher betrachtet werden.
Mit entsprechend geschärftem Blick findet man in modernen Kliniken eine verblüffende Fülle von Zauber, der jedem Medizinmann Ehre machen würde. Begaben sich die Patienten der archaischen Zeit in die Obhut des Heilers, mußten sie sich ganz dessen anderer Welt anvertrauen, sie verloren alle Selbstbestimmungsrechte und überantworteten sich Gott bzw. dem Schamanen als dessen Stellvertreter. Heute inszenieren wir mit noch mehr Aufwand einen ähnlichen Effekt. Auch der moderne Patient gibt sein Selbstbestimmungsrecht meist gleich an der Pforte ab. Sie ist immer noch ein wesentlicher Ort jeder Klinik, bewacht sie doch die Schwelle zur anderen Welt wie seinerzeit die Tempelpforte, nach der sie wohl auch benannt ist. Die Welt hinter der Pforte macht in ihrer Unübersichtlichkeit und hinter allem spürbaren Krankheitsthematik Angst. Die Patienten fühlen sich nicht selten entsprechend beklemmt angesichts all der Dinge, die auf sie zukommen und die sie nicht durchschauen. Ähnlich, nur...