2. Die Botschaft der Heiligen Schrift
Vielleicht ist schon der Jesuitenzögling zur Beschäftigung mit der Heiligen Schrift angeleitet worden. Auch früher bereits sind ihm sicher in Predigt, Unterricht und Liturgie die Worte des Herrn – und darunter die Worte vom Kreuz – entgegengetreten. Bei den Karmeliten gehörte die tägliche Unterweisung in der Heiligen Schrift zur Tagesordnung. Als dann der junge Ordensmann zum Studium nach Salamanca geschickt wurde, bildete das Eindringen in die hl. Texte unter der Leitung geschulter Exegeten einen wesentlichen Teil seiner Pflichtarbeit. Aus späterer Zeit wissen wir, daß er ganz in und mit der Hl. Schrift gelebt hat. Sie gehörte zu den wenigen Büchern, die er immer in seiner Zelle hatte. Aus seinen eigenen Werken sind die Schriftworte nicht wegzudenken. Sie sind ihm zum natürlichen Ausdruck seiner inneren Erfahrung geworden und kamen ihm beim Schreiben unwillkürlich in die Feder. Sein Sekretär und Vertrauter in den letzten Jahren, P. Johannes Evangelista, erzählt, daß Johannes vom Kreuz die Heilige Schrift kaum noch aufzuschlagen brauchte, weil er sie fast auswendig wußte. So dürfen wir damit rechnen, daß die Kreuzesbotschaft des göttlichen Wortes sein ganzes Leben hindurch immer aufs neue in seinem Herzen gewirkt hat. Diese vielleicht wichtigste Quelle seiner Kreuzeswissenschaft erschöpfend zu behandeln, ist ganz unmöglich. Denn wir müssen voraussetzen, daß die ganze Heilige Schrift, das Alte wie das Neue Testament, sein tägliches Brot waren. Die Schriftzitate in seinen Werken sind so zahlreich, daß es nicht angeht, sie alle durchzusprechen. Andererseits wäre es töricht, sich auf sie zu beschränken und anzunehmen, daß andere Worte, die sich nirgends bei ihm angeführt finden, in ihm nicht auch lebendig wirksam gewesen wären. Es bleibt uns nichts übrig, als an verschiedenen Gruppen von Beispielen zu zeigen, wie wir uns das Eindringen der Kreuzesbotschaft etwa zu denken haben.
Der Heiland selbst hat bei verschiedenen Gelegenheiten und in verschiedenem Sinn vom Kreuz gesprochen: wenn er sein Leiden und seinen Tod voraussagt, dann hat er in wörtlichem Sinn das Holz der Schmach vor Augen, an dem er sein Leben enden wird. Wenn er aber sagt: »… Wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt und mir nicht nachfolgt, ist meiner nicht wert«, oder: »Wenn mir jemand folgen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz und folge mir«, dann ist das Kreuz das Sinnbild alles dessen, was schwer und drückend ist und der Natur des Menschen so zuwider, daß es wie ein Gang zum Tode ist, wenn man es auf sich nimmt. Und diese Bürde soll der Jünger Jesu täglich auf sich nehmen. Die Todesankündigung stellte das Bild des Gekreuzigten vor die Jünger hin und stellt es noch heute vor jeden hin, der das Evangelium liest oder hört. Darin liegt eine stillschweigende Aufforderung zu einer entsprechenden Antwort. Die Aufrufe zur Nachfolge auf dem Kreuzweg des Lebens geben die entsprechende Antwort an die Hand und geben zugleich Einblick in den Sinn des Kreuzestodes; denn an die einladenden Worte schließt unmittelbar die Mahnung an: »Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; aber wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es retten.« Christus gibt sein Leben hin, um den Menschen den Zugang zum ewigen Leben zu eröffnen. Doch um das ewige Leben zu gewinnen, müssen auch sie das irdische Leben preisgeben. Sie müssen mit Christus sterben, um mit ihm aufzuerstehen: den lebenslänglichen Tod des Leidens und der täglichen Selbstverleugnung, gegebenenfalls auch den blutigen Tod des Glaubenszeugen für die Botschaft Christi.
Das Bild des Leidenden und Gekreuzigten, das in den Worten des Herrn vorausdeutend entworfen wird, malen die Passionsberichte der Evangelien breit und ausführlich. Ein reines und weiches Kinderherz und die Phantasie eines Künstlers – es ist kaum anders denkbar, als daß diese Bilder sich unauslöschlich eingeprägt haben. Wir müssen auch damit rechnen, daß der Knabe dem großen Gottesdienst der Karwoche beigewohnt, sogar als Meßdiener daran mitgewirkt hat. Am Palmsonntag und an den Kartagen läßt ja die kirchliche Liturgie alljährlich die letzten Lebenstage Jesu, seinen Tod und seine Grabesruhe in dramatischer Lebendigkeit vor den Gläubigen erstehen – in erschütternden Worten, Melodien und Zeremonien, die unwiderstehlich zum Miterleben hinreißen. Wenn schon kaltherzige, sogar ungläubige und ins Weltleben verstrickte Menschen dabei nicht gleichgültig bleiben können – wie muß die Wirkung auf den jugendlichen Heiligen gewesen sein, von dem wir aus späterer Zeit wissen, daß er kaum über geistliche Dinge sprechen konnte, ohne in Ekstase zu geraten; den das Anhören eines Liedes in Entzückung versetzte!
Beim eigenen Schriftstudium kamen dann zu den Evangelienberichten die Weissagungen des AT hinzu, vor allem wohl die Darstellung des leidenden Gottesknechtes bei Isaias, auf die der junge Ordensmann schon durch die Lesungen des Breviers in den Kartagen hingewiesen werden mußte. Hier waren nicht nur neue Schilderungen des Leidens von schonungsloser Realistik zu finden, sondern es bot sich der große welt- und heilsgeschichtliche Hintergrund des Dramas von Golgotha dar: Gott, der allmächtige Schöpfer und Weltenherr, der die Völker zusammenschmettert wie Tongeschirr, und zugleich der Vater, der mit treuester Sorgfalt sein auserwähltes Volk umgibt; der zärtlich und eifersüchtig Liebende, der seine »Braut Israel« durch die Jahrhunderte hindurch umwirbt und immer wieder verschmäht und zurückgewiesen wird – wie es Johannes in seinem Hirtenlied besungen hat. Propheten und Evangelien in wechselseitiger Ergänzung zeichnen das Bild des Messias, der im Gehorsam gegen den Vater kommt, um die Braut zurückzugewinnen, der ihr Joch auf sich nimmt, um sie davon zu befreien, ja den Tod nicht scheut, um für sie das Leben zu gewinnen. Das klingt wieder in den Romanzen. Wenn darin das bräutliche Verhältnis von Israel auf die ganze Menschheit ausgedehnt ist, so entspricht das den Ankündigungen des Gottesreiches bei den Propheten wie in den Evangelien.
Noch etwas anderes mußte in den prophetischen Büchern für Johannes bedeutsam sein: das Verhältnis, in dem der Prophet selbst zu seinem Gott und Herrn steht; die Berufung und Aussonderung eines Menschen, auf den der Allmächtige seine Hand legt. Ein Verhältnis, das diesen Menschen zum Freund und Vertrauten Gottes macht, zum Mitwisser und Verkünder der ewigen Ratschlüsse; das andererseits von ihm restlose Übergabe und unbegrenzte Bereitschaft fordert, ihn herausnimmt aus der Gemeinschaft der natürlich denkenden Menschen und ihn für sie zu einem Zeichen des Widerspruchs macht. Darauf wies nicht nur die Hl. Schrift unmittelbar hin, sondern auch ihre Deutung in der Überlieferung des Ordens. Im Karmel lebte – auch unter der gemilderten Regel – die Erinnerung an den Propheten Elias fort, den »Führer und Vater der Karmeliten«. Die »Institutio primorum monachorum« stellte ihn den jungen Ordensleuten als Muster des beschaulichen Lebens vor Augen. Der Prophet, den Gott auffordert, hinauszugehen in die Wüste, sich in dem Bache Karith zu verbergen, dem Jordan gegenüber, vom Wasser des Baches zu trinken und sich von der Speise zu nähren, die Gott ihm senden werde – das ist das Vorbild all derer, die sich in die Einsamkeit zurückziehen, der Sünde und allen sinnlichen Genüssen, ja allen irdischen Dingen entsagen (so ist »dem Jordan gegenüber« zu verstehen) und sich in der Gottesliebe bergen (Karith wird als »caritas« gedeutet); der Strom der göttlichen Gnade wird sie mit Wonne tränken, und die Lehre der Väter wird ihnen feste Speise für ihre Seele bieten: das Brot des Reueschmerzes und der Buße, das Fleisch der wahren Demut. Fand Johannes hier nicht den Schlüssel zu dem, was Gott in seiner eigenen Seele wirkte? Wohl gehen Gottes Heilspläne auf die ganze Menschheit und um ihretwillen auf sein auserwähltes Volk. Aber dabei ist es ihm um jede einzelne Seele zu tun. Jede einzelne wird von ihm gleich einer Braut mit zärtlicher Liebe umworben, mit väterlicher Treue umsorgt. Wie dieses göttliche Liebeswerben zum Stachel wird, der die Seele nicht mehr zur Ruhe kommen läßt – auch dafür bot die Heilige Schrift den vollendeten Ausdruck: im Hohenlied. Dessen Widerhall ist der »Geistliche Gesang«. Wie darin das Kreuzmotiv wieder und wieder angeschlagen wird, muß später ausführlich gezeigt werden.
Wenn der Dichter in den farbenglühenden Bildern des alttestamentlichen Sängers reichliche Anregung fand, so konnte der Theologe noch aus einer andern ergiebigen Quelle schöpfen. Die Seele eins mit Christus, lebend von seinem Leben – aber nur in der Hingabe an den Gekreuzigten, nur wenn sie den ganzen Kreuzweg mit ihm gegangen ist: das ist nirgends klarer und eindringlicher ausgesprochen als in der Botschaft des hl. Paulus. Er hat schon eine ausgebildete Kreuzeswissenschaft, eine Theologie des Kreuzes aus innerster Erfahrung.
»Christus hat mich … gesandt …, das Evangelium zu verkünden; doch nicht mit Wortweisheit, damit das Kreuz Christi nicht seiner Kraft beraubt werde. Denn das Wort vom Kreuz ist zwar denen, die verlorengehen, Torheit; denen aber, die selig werden, das ist uns, ist es Gottes Kraft.« »… die Juden fordern Wunderzeichen, und die Griechen suchen Weisheit; wir aber verkünden Christus den Gekreuzigten, den Juden ein Anstoß, den Heiden aber eine Torheit, den Berufenen dagegen, Juden sowohl als Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit; weil das Törichte, das von Gott kommt, die Weisheit übertrifft; und das Schwache, das von Gott kommt, mehr vermag als die Menschen.«
Das »Wort vom Kreuz« ist das...