Was ist eine Krise?
Definition
Krise bedeutet ursprünglich „Entscheidung“ und bezeichnet damit laut Duden eine „schwierige Situation oder Zeit, die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt.“
Ob es sich bei einer Krise um einen Wendepunkt handelt, kann man jedoch meist erst zu einem späteren Zeitpunkt wissen, nachdem die Krise abgewendet wurde.
Nach Anthony J. Wiener und Herman Kahn ist für eine Krise charakteristisch, dass eine dringende Notwendigkeit zum Handeln besteht. Dies bewirkt ein Anstieg an Unsicherheit, Dringlichkeit und ein Gefühl der Bedrohung. Man glaubt, das Ergebnis sei wichtig für das weitere Leben. Viele reagieren darauf mit Unsicherheit, Verzweiflung oder auch Wut.
Bei einer Krise gibt es immer eine subjektive und eine objektive Seite. Die subjektive ist die Wahrnehmung durch den Betroffenen. Dies kann durchaus bedeuten, dass dieselbe Begebenheit von Betroffenen völlig unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden kann. Was für den einen eine negative Krise bedeutet, kann für den anderen als positive Chance gesehen werden. Die objektive Seite ist schliesslich die wertfreie Beschreibung einer Situation, die eben zu einer Krise werden kann.
Zu einer psychischen Krise wird eine Situation dann, wenn der Betroffene an Hindernisse gerät, welche er mit seinen üblichen Strategien zur Lösung eines Problems nicht bewältigen kann. Es kann sich dabei um eine äussere Krise, wie ein Konflikt mit anderen Personen, oder ein Ereignis, welches grosse Angst oder Unsicherheit auslöst, handeln. Genauso gut kann es ein innerer Konflikt sein, den der Betroffene nicht lösen kann und keinen Ausweg daraus sieht. Es kommt schliesslich zu einer Verengung der Wahrnehmung. Der Betroffene sieht nur noch diese Krise und seine fehlenden Bewältigungsmöglichkeiten. Er stellt seine bisherigen Erfahrungen, Normen, Werte und Ziele in Frage. Oft zweifelt er dabei sogar an sich selbst als Person.
Aus einer schweren Krise kann sich eine Depression manifestieren. Als Folgereaktion auf nicht bewältigte Krisen kann sich eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln. Infolge falscher Bewältigungsstrategien können sich Essstörungen, Süchte, Zwänge, Selbstverletzungen oder eine Borderline-Störungen bilden. Häufen sich depressive Phasen, spricht man von rezidivierenden Depressionen. Kommen ausgesprochen euphorische Phasen hinzu, bezeichnet man dies als Bipolare Störung. Kann man die mit einer Krise einhergehenden Unsicherheiten und Ängste nicht bewältigen, handelt es sich um eine Angststörung, die auch anhält, wenn die beängstigende Situation vorbei ist.
Diese psychischen Störungen können normalerweise nicht mehr von den Betroffenen alleine gemanagt werden. Manchmal spitzen sie sich so zu, dass der Betroffene keinen Ausweg mehr aus seiner Situation sieht. Seine Wahrnehmung ist nur noch auf die Krise beschränkt. Er hat keine Hoffnung auf Besserung seiner Lage und möchte deswegen vielleicht sogar sein Leben beenden. Hier ist unbedingt Krisenintervention in einer Klinik nötig. Meistens ist der Betroffene nach einem stationären Aufenthalt, mit Hilfe einer Therapie und/oder durch Gabe von Medikamenten wieder in der Lage, Hoffnung zu schöpfen und Lösungswege aus der Krise zu finden.
Vier-Phasen-Modell von Caplan
Der amerikanische Sozialpsychiater G. Caplan hat ein Modell für Lebenskrisen aufgestellt. In diesem unterteilt er Krisen in vier Phasen:
Erste Phase: Der Betroffene kämpft gegen sein Unwohlsein an.
Zweite Phase: Er bemerkt, in welchem Zustand er sich befindet, und dass seine bisherige Strategie zur Lösung des Problems nicht zum erwünschten Ziel führt.
Dritte Phase: Der Betroffene kann zwei verschiedene Wege einschlagen. Entweder er zieht sich von Menschen und seinen eigenen Zielen zurück, um die Enttäuschung nicht mehr spüren zu müssen (Vermeidung). Oder er strebt genau das Gegenteil seines bisherigen Zieles an und mobilisiert alle Kräfte, um dadurch einen positiven Ausweg aus der Krise zu finden (Kampf).
Vierte Phase: Wenn auch die dritte Phase keine Besserung bewirkt, resigniert der Betroffene und steht kurz vor einem Zusammenbruch. Dieser führt letztlich zur Orientierungs- und Hilflosigkeit.
Die meisten Leser/innen dieses Buches werden sich wohl zwischen Phase zwei und Phase drei befinden. In dieser Phase bemerkt man, dass man mit seinen ursprünglichen Strategien nicht erfolgreich ist. Entweder ist das Problem neu, so dass man keinen Lösungsweg weiss. Oder das Problem ist schwieriger zu lösen als die bisherigen Probleme. Vielleicht wird man mit diesem Problem auch als Mensch in Frage gestellt. Man muss sich also neue Strategien suchen, um mit diesem Problem fertig zu werden. Dazu soll dieses Buch Anregungen schaffen, neue Lösungswege zu finden und so aus der Krise einen Wendepunkt zu machen.
Schafft man dies trotz dieses Buches nicht alleine, oder befindet sich der Leser oder die Leserin bereits in Phase vier, in der Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit dominieren und Gedanken an Selbstverletzung, Substanzmissbrauch oder Suizid auftreten, rate ich ausdrücklich zu einem Besuch beim Hausarzt, einem Psychiater oder einem Therapeuten!
Ob es sich bei einer Krise nun um ein psychisches Problem, das behandelt werden muss, oder um eine vorübergehende Störung handelt, zeigt das folgende Kapitel.
Psychisches Problem oder „einfach nur eine temporäre Krise“?
Wie unterscheidet man zwischen einem psychischen Problem und einer temporären Verstimmung?
Zuerst einmal entscheidet wohl die Dauer zwischen einer temporären vorübergehenden Krise und einem psychischen Problem, welches behandelt werden muss. Das impliziert auch gleich die zweite Grundlage: Eine vorübergehende Krise vergeht nach einiger Zeit wieder, meistens sogar von selbst. Ein psychische Problem jedoch endet selten von alleine, sondern wird unbehandelt noch grösser und vielleicht sogar chronisch.
In der „Fibel“ für Ärzte, dem ICD und dem DSM, werden beispielsweise bei Trauer 2 Wochen genannt als Faustformel. Das bedeutet, dass es völlig normal ist, zwei Wochen über einen Verlust zu trauern, viel zu weinen, nur an diesen Verlust zu denken und sich zu nichts aufraffen zu können. Ab zwei Wochen spricht man von einer Depression. Natürlich sind zwei Wochen sehr kurz. Wenn ein geliebter Mensch gestorben ist, ist die Trauer nach zwei Wochen nicht vorbei. Damit soll aber gezeigt werden, dass selbst die Trauer um einen geliebten Menschen im Laufe der Zeit weniger wird und der Trauernde sich wieder von der Trauer zur Gegenwart wendet. Ein psychisches Problem ist es dann, wenn der Trauernde auch über einen längeren Zeit nicht mehr in der Lage ist, seinen Alltag zu bewältigen.
Genauso kann ein psychisches Problem innerhalb von wenigen Tagen oder auch Stunden so schlimm werden, dass der Patient suizidal wird oder gar Suizid begeht. Damit handelt es sich dann definitiv um ein psychisches Problem, das dringend in Behandlung gehört.
Ärzte ziehen meist für eine Diagnose die zeitliche Komponente hinzu. Ich persönlich finde es hilfreicher, festzustellen, ob der Patient wieder alleine aus dieser Krise findet oder Hilfe dabei benötigt.
Beispielsweise gibt es bei Alkohol viele Menschen, die irgendwann bemerken, dass ihr Konsum zu hoch ist. Dann lassen sie es einfach sein oder trinken ohne Probleme erheblich weniger. Bei anderen ist dies nicht mehr möglich, weil sie schon zu lange zu viel konsumiert haben und sich der Körper und auch die Psyche so daran gewöhnt hat, dass sie nicht mehr aufhören können. Damit ist es ein Problem, das in eine Behandlung gehört. Dabei spricht man von Alkoholkrankheit.
Eine gute Möglichkeit ist es also nahezu immer, zuerst heraus zu finden, ob man selbst aus der Krise findet, oder ob man Hilfe benötigt. Es gibt auch Punkte, an denen man nicht mehr versuchen sollte, selbst heraus zu finden. Bei Suizidgedanken ist Hilfe unerlässlich, genauso bei starker Alkoholsucht, bei starkem Untergewicht durch Essstörung etc. Also bei allen Problemen, welche bereits so stark sind, dass sie lebensgefährlich werden. Da darf man nicht mehr abwarten und muss sich sofort in Hilfe begeben, bevor es zu spät ist!
Dieses Buch handelt jedoch von Krisen. Es ist sowohl für psychisch Kranke als auch für Menschen ohne Diagnose gedacht. Daher werde ich an dieser Stelle auch nicht weiter auf psychische Diagnosen eingehen. Ich rate auch meinen Lesern, ihrem Gefühl zu trauen. Wenn sie glauben, eine Therapie könnte helfen, dann suchen Sie sich einen Therapeuten. Wenn sie meinen, Sie können den Weg aus der Krise auch nach dem Lesen dieses Buches nicht finden, dann gehen Sie zu Ihrem Hausarzt und bitten Sie um Hilfe.
Aber vielleicht hilft Ihnen das Buch auch, Ihre Krise aus einer anderen Perspektive zu sehen und aus der Krise einen Wendepunkt zur Besserung machen.
Warum dieses Buch für psychisch Erkrankte und Menschen mit temporären Krisen gleich gut geeignet ist
Im letzten Kapitel ging es um die Unterscheidung zwischen psychischen Erkrankungen und vorübergehenden Krisen. Dies ist wichtig, um zu entscheiden, ob...