Über die Sehnsucht nach dem Leben auf dem Lande
Als ich noch so klein war, dass mir alle anderen groß vorkamen, waren Großmütter noch alt. Die meine roch nach Kernseife, Milch und in der Sonne getrockneter Wäsche. Ihre Hände waren immer warm und wenn sie mich an der Hand nahm, spürte ich, dass die ihre innen rau war.
Ich mochte es, neben ihr zu gehen, weil sie als einziger Erwachsener ihr Tempo meinen kleinen Schritten anpasste. Das kam von ihren schmerzenden, fest bandagierten Beinen. Mit schwerem, leicht schlurfendem Gang durchmaß sie die große Stube, die Küche und Wohnraum zugleich war. In dieser Stube waren mein Vater und seine neun Geschwister groß geworden. Sommer wie Winter musste Holz für den großen Feuerherd hereingetragen werden, ein Herd, in dem die Glut fast nie ausging.
Das Holz wurde an der Außenwand des Hauses bis auf Fensterhöhe geschichtet sowie an der gegenüberliegenden Seite in wunderschönen, mannshohen, kegelförmigen Gebilden. Diese Holzstapel waren die ersten architektonischen Wunderwerke, die ich in meinem Leben staunend wahrnahm. Rund und glatt – kein noch so kleines Hölzchen stand weiter vor als die anderen – hielten diese Meisterwerke der Statik vor dem Lattenzaun des Gemüsegartens Wache. Auf der anderen Seite des Hauses war das Wied gestapelt. Getrocknete Zweige, die im nahen Wald gesammelt, von Großvater zu Reisigbündeln geschnürt und auf dem Hackstock links und rechts mit der Axt auf gleiche Länge behauen wurden.
Wenn Großmutter Feuer machte, hockte ich mit großen Augen neben ihr vor dem Herd und sah ihr hochkonzentriert zu. Manchmal blies sie mehrmals kräftig in die Glut, während sie bleistiftdünne Späne darauf legte. Die machte mein Großvater mit dem Holzmesser. Hierfür klemmte er sich besonders trockene Scheite zwischen die Oberschenkel, setzte das Holzmesser oben an und zog es Richtung Körper langsam durch das Holz. Das gab ein schönes, leise splitterndes Geräusch. Großvater wurde gerühmt für seine Gabe, besonders dünne, leicht feuerfangende Späne zu fertigen. Sie wurden unter dem Herd griffbereit aufgeschichtet und er sorgte dafür, dass sie nie ausgingen. War keine Glut mehr im Herd, holte Großmutter eine Handvoll Heu aus dem Stadel und zündete es vor dem Ofenloch an, noch während sie es in der Hand hielt. Unter kräftigem Pusten kam es in den Herd, Späne darauf und ein wenig später, wenn alles aufloderte, das Wied. Ich freute mich schon immer auf das geheimnisvolle Knistern und Knacken des Wieds. Auf meine Frage, was diese Geräusche zu bedeuten hätten, sagte Großmutter, dass das Holz sich was erzähle. Von schönen Sonnentagen, als der Baum noch gewachsen ist. Und dass das Feuer deshalb Wärme mache, weil die Sonne von damals beim Brennen wieder herauskäme.
Besonders stolz war ich, wenn ich den Auftrag bekam: »Dirndl, hol Scheitel!« Die schleppte ich dann einzeln und mit übertriebenem Geschnaufe von draußen heran und lud sie vor dem Ofen ab. Dann wurde ich gelobt, wie gescheit ich sei und wie stark. Und ich ahmte Großmutter nach, indem ich meine Hände klatschend aneinander sauber klopfte.
War das Herdfeuer in Gang gekommen, musste das Schiff kontrolliert und eventuell aufgefüllt werden. Wie der im Herd versenkte Wasserbehälter zu seinem Namen »Schiff« kam, konnte mir nie jemand erklären. Wenn später die Rede darauf kam, weshalb sich so viele Österreicher und Bayern freiwillig zur Marine meldeten, hatte ich jedenfalls immer eine Erklärung parat: In jedem unserer Haushalte gab es ein Schiff.
Das Schiff war der einzige Heißwasserspender im Haus. Für die Morgen- und Abendwäsche wurde eine der langen Bänke vom Tisch zum Herd getragen und mit einer Waschschüssel – Lavoir genannt (Napoleon hat auch auf dem tiefsten Land zumindest sprachliche Spuren hinterlassen) – bestückt. Das heiße Wasser aus dem Schiff wurde mit einer Kanne kaltem Wasser auf die richtige Waschtemperatur gebracht. Jeder, der sich des Wassers bedient hatte, leerte seine Schüssel mit dem gebrauchten Wasser vor dem Haus, machte sie unter der Schwengelwasserpumpe auf dem Hof sauber und füllte für den Nächsten auch die Kaltwasserkanne wieder auf. Wir Kinder wurden in eine etwas größere, runde Blechwanne gestellt – die auch am Großwaschtag zum Einsatz kam –, von oben bis unten eingeseift und dann abgespült. Aber nicht jeden Tag. Üblicherweise wurde waschmäßig auf Hals, Ohren, Arme, Beine und Füße geachtet – alles andere konnte auch mal zwei, drei Tage warten.
Trotz dieser umständlichen, badezimmerlosen Waschsitten waren wir nicht schmutziger als heutige Kinder. Das wüsste ich, weil mich schon die kleinste Unregelmäßigkeit in dieser Hinsicht irritierte. Ich kann das unangenehme Gefühl von klebrigem Honig an meinen kleinen Händen – und die sofort hysterisch gespreizten Finger – noch heute geradezu körperlich spüren. Ich gab auch keine Ruhe, bis Großmutter mit einem feuchten Waschlappen alles wieder sauber gerieben hatte.
Den Gipfel des Ekels aber verursachte bei mir der Hühnerdreck. Wir Kinder liefen im Sommer auf dem Hof natürlich ständig barfuß. Und überall waren Hühner – außer im Gemüsegarten. Der war ihretwegen eingezäunt. Sie hätten die jungen Salatpflänzchen und Kräuter zerpickt und auf Würmersuche alles aufgescharrt. Wenn ich das Gartentor einmal aufließ, nachdem ich Petersilie oder Schnittlauch für Großmutter hatte holen dürfen, wurde ich ausgeschimpft. Denn schwupps, so schnell konnte man gar nicht schauen, waren zwei, drei Hühner drin. Großmutter jagte sie dann auf ihren Holzschuhen, laut in die Hände klatschend und seltsame Zischlaute von sich gebend, wieder zum »Tempel« hinaus, wie sie den Gemüsegarten nannte. Außer in diesem kleinen abgezäunten Paradies rannten die Hühner überall so frei herum wie wir Kinder. Und ließen dabei ihren Dreck fallen. Ich hatte das Talent, mehrmals am Tag eine solche Spur zu kreuzen. Dann quoll diese höchst übel riechende Hinterlassenschaft zwischen den kleinen Kinderzehen hervor, so unangenehm und ekelerregend, dass ich es heute noch spüre, woraufhin ich mitten im Lauf stoppte und jammernd zu Großmutter humpelte. Die lachte, zeigte mir, wie ein Breitwegerichblatt aussieht, und entfernte damit die gröbste Bescherung. Den Rest besorgte der starke Wasserstrahl, der aus der eisernen Hofpumpe kam. Danach stakste ich eine Weile in den viel zu großen Holzschuhen der Erwachsenen herum, die immer in großer Anzahl vor der Haustür standen. Da ich damit aber nur mühsam schlurfend und wackelnd vom Fleck kam, ließ ich es bald wieder sein.
Ein Tageshöhepunkt war, wenn Großmutter mir erlaubte, die Eier aus den Strohnestern im Hühnerstall zu nehmen und unter der Ermahnung, nur ja keines fallen zu lassen, in ihre Strohschüssel zu legen. Einmal war ich auch dabei, als sie Eier in einem großen Glasgefäß in Kalkwasser einlegte. Damit man sie für den Winter aufheben kann, wenn die Hühner nicht mehr so fleißig Eier legen.
Hühner waren auch lustig anzuschauen. Ich habe sie lange und gern beobachtet, wenn sie, bedächtig ein Bein vor das andere setzend, ums Haus stolzierten. Manchmal verharrte ein Hühnerbein plötzlich hochgezogen in der Luft, so als hätte man das Tier gerufen und dadurch mitten im Bewegungsablauf gestört. Sie pickten dahin und dorthin und man konnte gar nicht erkennen, was sie da – mit dem Kopf hektisch nach vorn und wieder zurückzuckend – für eine Sorte Futter gefunden hatten. Wenn man ein einzelnes Huhn ansprach – und ich redete oft mit den Hühnern – legten sie den Kopf schief und sahen einen mit dem zugewandten Auge derart intensiv an, als hörten sie genau zu.
So waren die Hühner und ich trotz des Hühnerdrecks längst gute Freunde geworden, bis Großvater dieses Verhältnis nachhaltig zerstörte. Hin und wieder schnappte er sich ein Huhn fast wie im Vorbeigehen und trug es kopfüber, die Hühnerbeine fest im Griff, zum Holzhackstock. Das Tier flatterte wild mit den Flügeln und gackerte aufgeregt. Das Beil musste wohl schon bereitgelegen haben, denn ich sah nur noch, wie Großvater den Arm hob und senkte und dann war das Huhn still.
Großmutter kam dann mit zwei Eimern dazu. In den einen legte Großvater das Huhn und setzte sich damit auf die Bank vor dem Haus. Aus dem anderen Eimer stieg Dampf auf und Großmutter leerte das heiße Wasser über das Huhn zu Großvaters Füßen. Dann lachte sie mir zu und kündigte fürs Abendessen Nudelsuppe an. Mir war nicht ganz geheuer bei der Sache, als ich Großvater aus gehörigem Abstand Federn rupfen sah, und glaube mich heute an so etwas Ähnliches wie ein schlechtes Gewissen zu erinnern. Ich tröstete mich wohl damit, dass die davongekommenen Hühner gleichmütig ihrer Wege gingen und nicht den Eindruck machten, als würden sie um ihre Artgenossin trauern. Aus Großvaters Hühnereimer drang ein derart widerlicher Geruch zu mir, sodass ich mich still und leise zu Großmutter ins Haus verzog. Ich half ihr bei den Nudeln. Sie wurden mit dem Messer aus einem dünn ausgewalzten Teig geschnitten und an Holzstangen, die über dem Ofen angebracht waren, zum Trocknen aufgehängt.
Besonders gern mochte ich als Kind den Geruch im Kuhstall. Da herrschten eine wohlige, milchige Wärme und beruhigende Geräusche. Ein leises Klirren von den Ketten, an denen die Tiere angeschirrt waren, dumpfe Klauentritte auf den Bohlenbrettern unterm Stroh, das Schwanzschlagen der Tiere nach den Fliegen, vereinzeltes gedämpftes Muhen, das nur vor der Fütterung zum Kanon anschwoll, ein gleichmäßiges Malmen, wenn die großen, gutmütigen Tiere das Grünfutter mit ihren langen Zungen in ihre feucht glänzenden Mäuler zogen. Damals gab es noch keine Melkmaschinen. Die Frauen saßen beim Melken auf dreibeinigen...