Einleitung
Die Mär der Weltgeschichte
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Versinke denn! Ich könnt’ auch sagen: steige!
‘s ist einerlei. Entfliehe dem Entstandnen
In der Gebilde losgebundne Reiche!
Ergetze dich am längst nicht mehr Vorhandnen!
Faust
Die Dissonanz
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Durch den donnernden Flutgang der Jahrtausende tönt eine Stimme, tröstend und warnend: des Menschen Reich ist nicht von dieser Welt. Aber daneben erklingt eine brausende Gegenstimme: diese Erde voll Glanz und Finsternis gehört Dir, dem Menschen; sie ist Dein Werk und Du das ihrige: ihr kannst Du nicht entfliehen. Und Du dürftest es auch gar nicht, selbst wenn Du es könntest! Wie sie geschaffen ist, furchtbar und wunderbar: Du mußt ihr die Treue halten. Diese unaufgelöste Dissonanz bildet das Thema der Weltgeschichte.
Man sollte nun meinen, ja man müßte geradezu fordern, daß jeglicher Geschichtsbetrachtung die Deutung dieses rätselhaften Widerstreits voraufzugehen habe. Denn sonst ist alle Historie ein verschleierter Schlüsselroman. Ehe wir dies nicht erklärt haben, können wir ja gar nicht anfangen. Aber wir können es nicht erklären! Hier sich Klarheit oder gar ein Wissen eintäuschen zu wollen, wäre eine Art feinerer Atheismus. In diesem Dilemma besteht das Wesen der Geschichtsphilosophie.
Jeder Mensch, ob er sich dessen deutlich bewußt ist oder nicht, ringt unaufhörlich mit dieser dunkeln Frage. Sie ist die Wurzel und Krone aller Religion, ja: sie zu stellen, ist bereits Religion. Sie verwandelt unsere farbenmächtigsten Künste und 18 unsere fruchtbarsten Wissenschaften in grauen Dunst. Sie erfüllt unseren oberflächlichsten Alltag mit Tiefgang und nimmt unseren wuchtigsten Taten das Schwergewicht. Aber nur ein einziges Mal im Gange des uns bekannten Weltgeschehens ist der Versuch gemacht worden, sie ganz zu Ende zu denken und dadurch zu lösen; und dieser ist mißlungen. Er ist mißlungen; aber trotzdem verdient er unsere ernste und nachdenkliche Betrachtung.
Der unbekannte Gott
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Der griechische Kunstschriftsteller Pausanias, der zur Zeit der antoninischen Kaiser seine »Rundreise«, eine Art Cicerone durch die hellenischen Sehenswürdigkeiten, verfaßte, berichtet in Übereinstimmung mit anderen Autoren, daß es in Griechenland von alters her Altäre gegeben habe, die »dem sogenannten unbekannten Gotte« geweiht waren, darunter einen neben der Bildsäule des Zeus von Olympia, dem weltberühmten Goldelfenbeinwerk des Phidias. Und der Kompilator Diogenes Laertius, der etwa ein halbes Jahrhundert später gelebt haben dürfte, erzählt in seinem Buch über »Leben, Lehren und Aussprüche der berühmten Denker«, einem mehr belletristischen als philosophischen, aber in den Angaben sehr zuverlässigen Werk, daß sogar »anonyme Altäre« vorhanden waren, die überhaupt keine Aufschrift trugen. Man versichert uns zwar, dies seien bloße Äußerungen einer religio eventualis gewesen, einer Religion für alle Fälle, die besorgte, man möge vielleicht einen Gott übersehen haben, der in Vergessenheit geraten oder nur im Ausland bekannt geworden sei, auch habe es auf jenen Altaraufschriften nur ganz allgemein geheißen: »Den unbekannten Göttern«, und die Berichterstatter hätten sich bloß verlesen, aus den anonymen Opfersteinen aber spreche die Verehrung einer Art von namenlosen »Gattungsgöttern«; indes, alle diese späten Kalküle einer engbrüstigen Philologenspitzfindigkeit tragen, so »belegt« sie sein mögen, den Stempel superkluger Unglaubwürdigkeit. Viel natürlicher und menschlicher, größer 19 und einfacher wäre es, anzunehmen, schon in den Alten habe ein dunkles Gefühl dafür gelebt, daß der ganze Kreis der Olympischen und selbst der zur »reinen Vernunft« geläuterte Zeus nicht das Wesen der Gottheit umspanne, daß vielmehr einer noch fehle, der sich noch nicht geoffenbart habe und daher unbekannt sei; und zugleich namenlos, da er über allen Namen sei.
An ein solches Heiligtum, das in Athen dem unbekannten Gotte geweiht war, knüpft die Predigt an, die der heilige Paulus auf dem Areopag hielt. Er sagte: »Ihr Männer von Athen! Ich verkündige euch eben diesen Gott, den ihr bisher, ohne um ihn zu wissen, verehrt habt. Denn er ist ja nicht fern von einem jeglichen unter uns: in ihm leben, weben und sind wir.«
Das Licht der Gnosis
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Jenes »Wissen um Gott« war auch das Ziel der gnostischen Bewegung, deren Blütezeit in die erste Hälfte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts fällt. Gnosis ist Eingeweihtsein in die Mysterien des Himmels und der Erde, der Natur und der Geschichte, aber nicht durch Spekulation oder Empirie, sondern durch Offenbarung; sie ist mathesis, höhere Erkenntnis, gnosis soterias, Wissen des heiligen Weges. Sie ist das »Licht«, ein erleuchtetes Schauen, eine innere Erfahrung, man könnte auch sagen: Erfassen durch Intuition, wenn dieser Begriff durch seine heutige Anwendung auf das Schaffen des Künstlers und Forschers nicht schon zu sehr rationalisiert wäre. Diese höchst suggestive Geheimlehre, bilderwütig und orakelsüchtig, verwirrt durch mystifizierenden Formelspuk, barbarische Kultsymbole, abenteuerliche Allegorik, nebulose Weltentstehungslehren, schwankte zwischen Heidenchristentum und neuplatonischer Philosophie, sublimem Spiritualismus und massivem Zauberglauben, Ekstase und Begriffsspalterei unentschlossen hin und her und war auch in der Lebenspraxis halb Askese, halb Libertinismus, da beides sich als eine Konsequenz aus der grundsätzlichen Verachtung der Sinnenwelt 20 rechtfertigen ließ. Denn das Herzstück aller Gnosis ist das Wissen des Geistes um seine Befreiung vom Erdenrest, die Erinnerung der Seele an ihren göttlichen Ursprung. Die vier Grundkräfte, die im Kosmos walten, sind die Materie, die Seele, der Logos und der Geist. Nach ihnen ordnet sich die Hierarchie der Wesen: zuunterst stehen die Gesteine, die bloß Materie sind; auf sie folgen die Pflanzen, die eine Ernährungsseele, und die Tiere, die eine Sinnenseele besitzen; über sie erhebt sich der Mensch, begabt mit der Kraft des Logos, der Vernunft, und befähigt zum Geist zu gelangen, dessen Stufen durch eine immer höher steigende Schar immaterieller Potenzen repräsentiert werden und vor dem Throne Gottes endigen. Auf dieser Leiter entspricht die Seele etwa dem Nervenleben, der Logos den rationalen Fähigkeiten, der Geist aber, das Pneuma, einem Vermögen, das nicht von dieser Welt ist. Dementsprechend gliedert sich auch die Rangordnung der Menschen in die Sarkiker, die bloß dem Fleisch leben, die Psychiker und die Pneumatiker. Reiner Geist und Gott sind dasselbe; aber, sagt der berühmte Basilides, der Hauptvertreter der sogenannten ägyptischen Gnosis, alles Positive und alles Negative, das man von Gott aussagen könne, habe nur den Wert eines Zeichens.
Dem über alles Denken erhabenen göttlichen Urwesen, dem »Unaussprechbaren, Unnennbaren, mit Schweigen Angerufenen« völlig entgegengesetzt ist die Materie, der Grund alles Bösen, aber zugleich das Nichtseiende. Sie ist das Werk des Bildners oder Demiurgen, eines von der Gottheit geduldeten untergeordneten Geistes, eines bösen, aber reuigen Wesens. Die Welt ist also eine Art Gegenschöpfung und zugleich eine Scheinschöpfung. Dies erkannt zu haben, ist identisch mit der Rückkehr zu Gott. Dieses Wissen bereits erlöst; aber nur dieses Wissen. Ohne Gnosis ist der Mensch verdammt. Die Gottheit, ungeworden, unsichtbar, unfaßbar, wie sie ist, war auch dem Demiurgen unbekannt; aber sie hat sich Christus 21 offenbart und durch ihn allen, die der Gnade der Gnosis teilhaftig geworden sind. Nach der Auffassung des syrischen Gnostikers Saturnilus ist der Weltschöpfer einer der Engel Gottes; aber, fügt Valentinus hinzu, der Stifter einer der angesehensten gnostischen Sekten, der Mensch ist mehr als die Engel, die ihn schufen. Zwar herrscht auch im Reich der Seele der Demiurg: sie ist, wie Valentinus es sehr anschaulich ausdrückt, eine schmutzige Kneipe, in der die Dämonen aus-und eingehen. Aber der Mensch trägt in sich einen Funken des göttlichen Lichts, er ist »groß und elend«. Es ist dieselbe Formel, zu der anderthalb Jahrtausende später der größte Christ der gallischen Rasse, Blaise Pascal, gelangte: »Alles Elend des Menschen erweist seine Größe. Es ist das Elend eines großen Herrn, das Elend eines entthronten Königs.«
Der größte Ketzer
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Indes hat es die ganze gnostische Bewegung nirgends zu mehr gebracht als zu verstreuten unterirdischen Gedankenkeimen, halben Ahnungen und widerstreitenden Aperçus. Zu Licht und Frucht sind sie erst im Geiste Marcions gelangt, eines religiösen Genies von großartiger Einfachheit, profunder Frömmigkeit und rasanter Denkschärfe, der aber seit vielen Jahrhunderten für die Nachwelt kaum einen Namen bedeutet. Marcion ist für das religiöse Bewußtsein der Gegenwart verschollen. Für die meisten Historiker der christlichen Kirche ist er »ein Gnostiker«. Er war aber weder dieses, vielmehr ein abgesagter Gegner der gnostischen Sekten: ihres buntgewürfelten Synkretismus, ihrer geheimniskrämerischen Esoterik, ihrer gewalttätigen allegorischen Methoden, noch war er überhaupt einer unter anderen, sondern eine einmalige Erscheinung von unwiederholbarer Prägnanz, die hart bis an...