Yoga und Energie
In unserem Sprachgebrauch wird das Wort »Energie« üblicherweise in verschiedenen Kontexten benutzt: Es gibt nukleare Energie, elektrische Energie, Wind- und Sonnenenergie, physikalische Energie wie Magnetismus oder Schwerkraft usw. So, wie es dem Menschen gelungen ist, die auf natürlichen Ressourcen beruhenden Kräfte zu bündeln und nutzbar zu machen, so zielt die Yoga-Praxis darauf ab, die in ihm vorhandenen Kräfte zu erwecken, aufzubauen und so zu steuern, dass ein Gleichgewicht im »System Mensch« erreicht wird. Diese energetische Balance ermöglicht es dem Menschen, ein gesundes und erfülltes Leben zu führen.
Auf den Menschen angewandt versteht der Yoga unter »Energie« all jene Kräfte, die in unserem menschlichen System aktiv sind und körperliche sowie emotionale und mentale Prozesse beeinflussen. Die yogische Philosophie unterscheidet zwischen zwei grundlegenden Energien:
Prana
Dieser Begriff bezeichnet die allem zugrundeliegende Energie, die das Universum auf allen Ebenen durchdringt. Aus dem Prana-Reservoir speist sich jede existierende Daseinsform, sei sie ein Lebewesen, eine Pflanze oder ein Gegenstand, aber auch Gedanken, Klang und Licht. Im Grunde ist Prana die Ur-Ressource, aus der jedwede Existenz hervorgeht. Doch Prana an sich ist keine gestaltende Kraft, sondern lediglich eine latent vorhandene Energie, die einen Handlungs- bzw. Schöpfungsimpuls braucht, damit sich etwas durch sie materialisieren kann.
Der Sanskrit-Begriff pranayama bedeutet sinngemäß bewusste Atemlenkung. Dieser wesentliche Bestandteil jeder Yogapraxis hat das Ziel, den Anteil der persönlichen Lebensenergie zu erhöhen und nutzbar zu machen.
Kundalini
Die Bezeichnung kundalini beschreibt die schöpferischen Aspekte des universellen Kraftstroms. Alles, was existiert, ist Ausdruck der Kundalini und wird von Prana genährt. Prana bekommt erst im Zusammenwirken mit Kundalini eine Zielrichtung. Immer dann, wenn etwas seine Form verändert oder verliert, also von einem Zustand in einen anderen übergeht, ist die Kundalini als der ursprüngliche kreative Aspekt der Natur daran beteiligt. Die Kundalini ist aktiv bei allen natürlichen Wachstums- und Transformationsprozessen, beim Wachsen der Bäume genauso wie bei Naturkatastrophen. Im Lebensalltag des Menschen drückt sich die Kundalini in gestalterischen Handlungen aus. Kundalini kommt zum Einsatz, wenn wir kochen, ein Bild malen, ein Haus bauen, ein Projekt managen oder Sex haben. Ebenso beeinflusst die Kundalini die Körperfunktionen, emotionale Zustände und die Gedankenwelt.
Wie die uralte yogische Philosophie geht auch die Quantenphysik davon aus, dass unterhalb der atomaren Ebene nur Energie und Information (= Geist) existiert. Die moderne Wissenschaft beschreibt das Entstehen von Materie so, dass das Zusammenwirken von Energie und Geist zur Verdichtung von atomaren Teilchen und schließlich zur Materie führt, wobei die Struktur der Materie maßgeblich vom geistigen Input beeinflusst wird. Die moderne Wissenschaft legt also die gleichen ursprünglichen Schöpfungskomponenten zugrunde: Prana = Energie und Kundalini = Infomation/Geist.
Ist die Kundalini erst einmal aktiv, unterliegt sie einer gewissen Eigensteuerung.[6] Gleich Wasser, das sich über alle Hindernisse hinweg sein eigenes Flussbett sucht, bahnt sich der Strom der Kundalini unaufhaltsam seinen Weg im menschlichen Energiesystem. Dabei löst sie Erkenntnisprozesse aus, zum Beispiel über das Zustandekommen des momentanen Gesundheitszustandes. Dies ermöglicht dem Menschen, die schädlichen Aspekte zu beseitigen und frei von äußeren Abhängigkeiten zu werden.[7]
Jede Yoga-Tradition hat letztlich die Erweckung der Kundalini zum Ziel. Im Ursprung geht es im Yoga darum, das eigene Dasein als Aspekt der gesamten Schöpfung zu erkennen. Der Mensch spürt, dass er eins ist mit allem, was IST, und erfährt die Unendlichkeit seiner Natur. Die Kundalini als kreativer Ausdruck der unendlichen Schöpfungsnatur kann nicht gebremst oder unterdrückt werden, wenn sie erst einmal aktiv ist. Vielmehr ist es notwendig, die Energie zu lenken und im menschlichen System nutzbar zu machen, um die von ihr ausgelösten Wachstumsprozesse bewältigen zu können. Der Yoga kennt viele Techniken (Körper-, Atemübungen und Meditationen), die den Praktizierenden dabei unterstützen, immer wieder aufs Neue ein energetisches Gleichgewicht herzustellen und die Erfahrung des Eins-Seins zu ermöglichen. Um gezielt die für jede Situation angemessene Methode auswählen zu können, bedient sich die yogische Philosophie zweier Erklärungsmodelle, die die energetische Wirkung von Übungen und Meditationen erklären: das System der Chakras (Energiezentren) und die Energiekörper (bzw. –Hüllen). Beide Modelle stehen miteinander eng in Beziehung und werden aus ein und derselben Energie gespeist.
Nun lassen sich, wie gesagt, diese menschlichen Energiesysteme bislang nicht sichtbar machen oder ihre Existenz anhand von wissenschaftlich anerkannten Methoden beweisen. Dennoch sind sie erfahrbar. In der Geschichte des Yoga (und anderer alter Traditionen) findet man eine Reihe von Darstellungen, die auf solche Erfahrungen zurückgehen. Sie stammen zumeist von Menschen, die im Rahmen der eigenen intensiven Yoga- und Meditationspraxis ihre Beobachtungen bzw. Wahrnehmungen in Worte fassten. Zumeist handelt es sich um die großen Yoga-Meister, die von einer Generation zur nächsten den Yoga weitergaben und ihn so über die Jahrtausende hinweg am Leben erhielten. Damit sind die beiden obenerwähnten Energiesysteme Kern einer jeden Yoga-Tradition. Sie zu verstehen bedeutet, den Yoga in seiner Essenz zu verstehen.
Energiesysteme des Yoga
Stellen wir uns ein Haus vor, das über mehrere Stockwerke verfügt. Wie kommt der Strom ins Haus? Die Stromzufuhr wird über eine Starkstromleitung gewährleistet, die am Stromnetz hängt und von dort kontinuierlich mit Energie versorgt wird. Innerhalb des Hauses verzweigen sich die Stromleitungen in alle Bereiche des Hauses. Auf jeder Etage befinden sich Stromverteilerkästen, in denen Sicherungen einen unkontrollierten Energiefluss verhindern und die Funktion der unterschiedlichsten Geräte ermöglichen. Die von ihnen verbrauchte Energie wird in einen neuen Zustand transformiert: Zum Beispiel erzeugt der Kühlschrank Kälte, oder Lampen verströmen Licht.
Und woher kommt die Energie, die im Stromnetz fließt? Sie entstammt unterschiedlichen Quellen, wird zum Beispiel in Kohle- oder Atomkraftwerken erzeugt oder durch erneuerbare Energie wie Sonne, Wind und Wasser. Lange Zeit war die Frage nach der Qualität der Stromquelle und vor allem die aus ihr resultierenden Folgekosten für die Gesellschaft eher nachrangig. Doch die politische Diskussion über den CO2-Ausstoß, aber vor allem spürbare Auswirkungen wie erhöhte Strompreise und nicht zuletzt die Atomkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima haben in den vergangenen Jahren ein Bewusstsein dafür geschaffen, wie eng der Verbrauch von Energie mit ihrer Herkunft verbunden ist und nicht von ihr isoliert betrachtet werden kann.
In der Regel verlassen wir uns bei der Stromversorgung unseres Haushalts auf die Kompetenz ausgewiesener Fachleute. Möglicherweise achten wir beim Neukauf elektrischer Geräte auf einen geringen Stromverbrauch und entscheiden uns bewusst für einen Energieversorger, der Strom aus natürlichen und regionalen Quellen erzeugt.
Die obige Analogie kann dabei helfen, sich den Aufbau und die Funktionsweise des – für das Auge unsichtbaren – menschlichen Energiesystems vorzustellen. Hierbei gleichen die Aufgabe des Chakra-Systems der häuslichen Stromversorgung und die Umwandlung der Energie den körperlichen Prozessen. Das Modell der Energiekörper beschreibt die verschiedenen Qualitäten der Energie, die den Gesamtzustand des Menschen beeinflussen und seine Verbindung zu den universellen Ressourcen bilden. Chakras und Energiekörper hängen miteinander zusammen und bilden einen energetischen Kreislauf. Energie, die von verschiedenen Quellen gespeist und von außen zugeführt wird, wandelt das menschliche System um und gibt sie in transformierter Form wieder ab.
Der Weg des Yoga ist die Lehre davon, wie die latent vorhandene Energie vom Menschen bewusst gesteuert und genutzt werden kann, um auf all seinen Erfahrungsebenen – Körper, Geist und Seele – immer wieder aufs Neue in Balance zu kommen und dabei im Einklang mit der Umwelt zu sein. Wer diesen Weg geht, wird ganz von allein zu Gesundheit und innerem Frieden finden.
Grundsätzlich empfiehlt es sich, bei der Arbeit am menschlichen Energiesystem auf die Fachkompetenz erfahrener Personen zurückzugreifen – so wie wir nur einen Elektroinstallateur an den Stromleitungen unseres Hauses arbeiten lassen würden (es sei denn, wir neigen zur Selbstüberschätzung). Nichts ist wertvoller als ein Yoga-Lehrer, der dem Menschen einen Erfahrungsraum öffnet, in dem er den Effekt der Übungen an sich selbst wahrnimmt.
Ein guter Yogalehrer wird es nicht bei der Anleitung zu Körperübungen und Meditationen belassen, sondern auch auf die Zielsetzung der ausgewählten Yoga-Praxis hinweisen. Denn nur, wenn der menschliche Geist ein Ziel hat, kann sich das gewünschte Ergebnis einstellen. Diese Haltung resultiert einerseits aus der yogischen Philosophie, die lehrt, dass die Lebensenergie Prana einen kreativen (geistigen) Schaffensimpuls benötigt, um...