Das preußische Erbe
Kurt von Plettenberg entstammt einem sehr alten westfälischen Adelsgeschlecht. Schon 1042 wird ein Ritter von Plettenberg als Teilnehmer eines Turniers in Halle erwähnt. Der berühmteste Träger des Namens war Wolter von Plettenberg, späterer Landmeister des Deutschen Ordens in Livland. Kaiser Karl der Fünfte erhob ihn in den Reichsfürstenstand. Unter seiner Führung siegte das geeinte Livland mit einem Heer aus Ordensrittern, Landsknechten und Bauern zweimal, 1501 und 1502, über die zahlenmäßig weit überlegene Armee des Moskowiter Großfürsten Iwan III., mit dem er danach einen fast sechzig Jahre währenden Frieden schloss. Seit dem 19. Jahrhundert wählten die männlichen Mitglieder der Linie Plettenberg-Stockum, der die Familie Kurt von Plettenbergs angehört, stets eine militärische Laufbahn. Eugen Freiherr von Plettenberg, Kurts Großvater, war Major und Eskadronschef im Westfälischen Husarenregiment Nr. 8. Kurts Vater, Karl von Plettenberg, begann seine Laufbahn ebenfalls beim preußischen Militär.
Wolter von Plettenberg (rechts), Steinrelief im Hof des Ordensschlosses zu Riga
Um zu verstehen, was es bedeutete, in der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts in eine Familie von altem Adel hineingeboren zu werden, hilft es, diese »Adeligkeit« näher zu beleuchten.
Der Adel hob sich zu dieser Zeit noch deutlich in Lebensstil und Werten vom aufsteigenden Bürgertum ab. Im Zentrum der adligen Lebensform stand der eigene Familienverband mit seiner langen Tradition, innerhalb derer das einzelne Mitglied Teil einer fest gefügten Kette war, verpflichtet, zum Ansehen, zum Erhalt und zum Fortbestand der Familie beizutragen. Dabei legten sich auf der Basis möglichst ebenbürtiger Heiraten um die engere Familie ausgedehnte verwandtschaftliche Beziehungen, die als soziale Netzwerke fungierten und von Krisen betroffene Familienmitglieder unterstützten. Darüber hinaus wurden gerade unter den Offizieren weitverzweigte Verbindungen gepflegt, die später für das im Widerstand geknüpfte Netz von großer Bedeutung waren.
Im Gegensatz zum bürgerlichen Lebensentwurf, der die Voraussetzung für den angestrebten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstieg in der Entfaltung der Individualität und der Mehrung von Bildung und Wissen sah, wurden die jungen Adligen auf eine Führungsrolle im Staat vorbereitet. Aus der Erziehung zur Charakterfestigkeit, dem angemessenen Umgang zwischen den Geschlechtern, Manieren und Tischsitten ergaben sich Codes, an denen man einander erkannte und wertschätzte. Wichtiger als der Erwerb von Fachwissen – »man ist ja schon wer von Geburt her« – erschien die Formung auf das Ziel tatkräftigen Handelns hin. Ewald von Kleist-Schmenzin schrieb noch 1926 in einem Aufsatz über Adel und Preußentum: »Das Streben nach Geistigkeit muß dort seine Grenze finden, wo es auf Kosten der geschlossenen Persönlichkeit, der Wurzelfestigkeit und der Stoßkraft des Handelns geht.«
Das bedeutet nicht, dass Adlige der Bildung keinen Wert beimaßen. Die große Mehrheit der Söhne besuchte Gymnasien oder ausgesuchte private Lehranstalten, legte das Abitur ab und nahm ein Studium auf, wobei eine deutliche Konzentration auf die Fächer Jura, Landwirtschaft und Forstwissenschaft festzustellen ist. Studiert wurde an wenigen ausgewählten Universitäten, an denen man in der Regel Mitglied einer exklusiven Verbindung wurde. Die Verbindung festigte die soziale Zugehörigkeit. Das Studium diente weniger dem gesellschaftlichen Aufstieg wie im Bürgertum, es qualifizierte in den meisten Fällen vielmehr zur Verwaltung oder Bewahrung des Grundbesitzes.
Die adligen Töchter erhielten dagegen zumeist nur eine intellektuell weniger anspruchsvolle Ausbildung, die sich darauf beschränkte, sie auf ihre späteren Pflichten als Ehefrau, als Herrin des Hauses und für die Ausübung von Wohltätigkeit vorzubereiten. Fremdsprachenkenntnisse wurden als Befähigung zu vollendeter Konversation vermittelt, ebenso dienten die Fächer Haushaltung, Tanzen, Turnen und die musische Erziehung, Klavierspielen und Malen, der späteren Eheanbahnung. An eine berufliche Verwendung dieser erworbenen Kompetenzen wurde, bei wenigen Ausnahmen, nicht gedacht.
Die ökonomische Lebensführung war in den meisten Familien des preußisch-protestantischen Adels im Gegensatz zu den katholischen Herren in Süddeutschland, die in der Regel über größeren Grundbesitz verfügten, eher spartanisch. Die Kinder wurden nicht verwöhnt, man pflegte eine »Kultur der Kargheit«. Sparsamkeit, Schlichtheit, Nüchternheit, Gehorsam und Strenge galten als hohe Werte. »Mehr sein als scheinen«, hieß das Motto. Den Kindern wurden die »preußischen« Tugenden Pflichtbewusstsein, Unbestechlichkeit, Gerechtigkeitssinn, Anstand, Redlichkeit und Verlässlichkeit vermittelt. Preußen hatte auf dieser Basis eine sehr fortschrittliche Rechtsordnung und eine gut funktionierende Verwaltung entwickelt, auf die sich die Bürger verließen und in deren Rahmen Industrie und Gewerbe vor dem Ersten Weltkrieg florierten.
Adlige Männlichkeit, so erscheint es in vielen späteren Kindheitserinnerungen dieser Generationen, war darüber hinaus bestimmt von Haltung. Haltung im Sinne der Kontrolle des Körpers und der Gefühle bis hin zur Todesverachtung. Gleichzeitig wurde das Bewusstsein der Höherwertigkeit gepflegt, das aber auch die Übernahme von Verantwortung einschloss. Diese Herausforderungen an den Charakter und das Handeln wurden umso dringender empfunden, je mehr man sich nicht durch Grundbesitz, sondern allein durch standesgemäßes Verhalten seiner Herkunft zugehörig fühlen und dadurch der Tradition gegenüber bewähren konnte.
Der Wert der Ehrenhaftigkeit und die Pflicht zur Höflichkeit gegenüber dem anderen Geschlecht vervollständigten das Leitbild der Erziehung. Es ist das Bild des Ritters, das das Ideal standesgemäßer Erziehung prägte. Zum Bild des »modernen Ritters« gehören in den adligen Erziehungsanstalten neben der Unterrichtung in Kriegswissenschaften und Exerzieren, auch für die Männer, die Fächer Musik, Tanzen, Reiten und Fechten. Kriegerisches und Höfisches in der Gestalt eines kultivierten, ja selbst mondänen Lebensgenusses scheinen miteinander vereinbar. In der äußeren Gestalt sollte sich die innere Haltung widerspiegeln.
Obwohl sich der Adel, grundbesitzend oder nicht, gegenüber dem aufkommenden Bürgertum in einer zunehmend defensiven Situation befand, behauptete er seine politische und gesellschaftliche Hegemonie noch lange, zumindest bis 1918. Betrachtet man das Verhältnis zwischen Adel und Bürgertum im tonangebenden Offizierskorps Preußens, so zeigt sich, dass noch 1912, trotz aller Tendenzen zur Professionalisierung des Berufs, in Regimentern wie dem 1. Garderegiment zu Fuß von den 86 Offizieren alle aus dem Adelstand kamen. Dasselbe galt für das in Potsdam stationierte 3. Garde-Ulanen Regiment. In nur wenigen anderen Garderegimentern erreichten bürgerliche Offiziere nennenswerte Quoten oder übertrafen sogar die Anzahl der adligen Offiziere. Im Generalstab waren drei von vier Offizieren adliger Herkunft. Der adlige Offizier stellte in der wilhelminischen Gesellschaft das soziale Leitbild dar, das auch vom gehobenen Bürgertum, trotz der Verachtung des Zivilen, die der Adel nicht selten an den Tag legte, anerkannt und nachgeahmt wurde.
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Auf dieses Leitbild hin werden auch die Männer der Familie Plettenberg erzogen, so auch Kurts Vater, Karl von Plettenberg. Nach Georg von dem Bussche muss er eine farbige Persönlichkeit gewesen sein, ein »Rauhbein mit Herz«. 1852 in Neuhaus bei Paderborn geboren, ist er von Jugend auf für die Karriere eines preußischen Offiziers vorgesehen. Sein Vater nimmt ihn schon früh in die Kaserne und zur Jagd mit. Von seinen drei Geschwistern stirbt der Zweitälteste, Eugen, mit 18 Jahren. Die Schwestern Jenny und Minette heiraten standesgemäß. Der junge Karl genießt eine äußerst strenge protestantische Erziehung. In seinen »Lebenserinnerungen«, erzählt er von einem Hauslehrer, dem Kandidaten Heinrich Vogel, Sohn eines Grobschmieds, »äußerlich wenig bevorzugt, aber auch sein innerer Mensch war wohl nicht zu bemerken. Trotzdem fühle ich eine Art von Zuneigung, jedenfalls aber Dankbarkeit für ihn im Herzen, denn er hat es verstanden, mir die Grundlagen der Wissenschaft im wahrsten Sinne des Wortes einzupauken, – er schlug durchschnittlich pro Tag einen Stock auf mir entzwei – so daß ich im Mai 1864, 11 Jahre alt, in die Quinta der Kadettenanstalt aufgenommen werden konnte.«
Kaiser Wilhelm II. zwischen General Friedrich von Friedeburg und seinem Generaladjutanten Karl Freiherr von Plettenberg im Ersten Weltkrieg
Körperliche Züchtigung ist damals üblich. Von den Kadettenanstalten weiß man, dass der Ton dort extrem rau und die Erziehungsmethoden teilweise brutal sind.
Als Karl von Plettenberg vierzehn Jahre alt wird, kommt er auf die Kadettenanstalt in Bensberg, zwei Jahre später wechselt er nach Berlin in die Hauptkadettenanstalt in Lichterfelde, um seinen Abschluss zu machen. Als Fähnrich und Leutnant nimmt der 18-Jährige am Krieg gegen Frankreich teil und erlebt 1871 die Kaiserproklamation von Wilhelm I. in Versailles. Die Gründung des Deutschen Reiches wird ein prägendes Ereignis für sein ganzes Leben.
Clara Freifrau von Plettenberg, geb. Gräfin von Wedel, im Alter von 31 Jahren
Nach Kriegsende studiert Karl von Plettenberg an der Preußischen...