II.
WENN DAS WELTBILD RISSE BEKOMMT
»Du fühlst die bittere Enttäuschung, wenn du Güte anbietest und sie dir mit Unrecht vergolten wird.«
Platon (427–347 v. Chr.)
Wie kann sich ein bislang offener und aufgeschlossener Mensch, oft in Minuten, in eine Person verwandeln, die mit der Welt hadert, um sich beißt, niemanden mehr an sich heranlässt, der Umwelt auf die Nerven geht und teilweise unsinnige Racheaktionen startet? Was ist die Ursache? Der enge Bezug von Verbitterung zu Ungerechtigkeit, Herabwürdigung oder Vertrauensbruch beantwortet die Frage nach der Ursache nur bedingt.
Was ist denn ungerecht? Woher nimmt Kain das Recht, von Gott zu verlangen, dass er nicht nur Fleisch vom Hirten Abel, sondern auch Brot oder Gemüse vom Bauern Kain entgegennehmen muss? Woher nimmt Doro M. das Recht zu erwarten, dass die Firma sie ohne Wenn und Aber weiterbeschäftigt, nur weil sie zuvor bereits einige Aufträge für sie erledigt hat? Woher nimmt Frank S. die geradezu unsinnige Idee, dass Musikkonsumenten eine Band auf Dauer gut finden oder Musikmanager sie auftreten lassen müssen? Und wie kann Karolin J. erwarten, dass ein Mensch, der innerlich so am Ende ist, dass er sich das Leben nimmt, vorher mit seiner Frau darüber redet, die ja doch nur versucht hätte, ihn davon abzuhalten?
Wie kommt es dazu, dass bei gleichem Ereignis der eine in Verbitterung gerät und sich nicht mehr daraus lösen kann, während der andere unberührt darüber hinweggeht? Recht und Rechtsansprüche sind offenbar nicht eindeutig und scheinen relativ zu sein. Sie haben etwas mit der betroffenen Person zu tun, aber auch mit der gesellschaftlichen Ordnung, in der jemand lebt.
IST ALLES EINE FRAGE DER BEWERTUNG?
Schon vor 2 000 Jahren sagte der Philosoph Epiktet: »Es sind weniger die Ereignisse, die den Menschen beunruhigen, als vielmehr die Vorstellungen, die er sich von diesem Ereignis macht.«
Wie jemand eine Situation erlebt, hängt davon ab, wie sein Bild von der Welt beschaffen ist. Welche Werte, Überzeugungen und Vorerfahrungen er mitbringt, ist maßgeblich dafür, wie er ein Geschehen interpretiert und einordnet. Dieses Bewertungsraster ist nicht einmal bei Menschen ein und desselben Kulturkreises gleichartig, geschweige denn bei Menschen unterschiedlicher Lebenswelten. Es kann sich sogar zwischen Menschen, deren Sozialisation zahlreiche Parallelen aufweist, in vielen Punkten unterscheiden. Wenn beispielsweise ein Vierzigjähriger seine ebenfalls vierzigjährige Frau als »meine Alte« bezeichnet, so kann dies eine Herabwürdigung sein, genauso gut kann es sich um einen beziehungsinternen Kosenamen handeln. Wenn der Chef angesichts eines Fehlers, der dem Team unterlaufen ist, einen cholerischen Anfall bekommt, kann das in einem der Mitarbeiter Scham und Angst auslösen, während ein anderer völlig unbeeindruckt denkt: »Wieso macht der bloß so viel Wind?«
Ob jemanden ein Geschehen nur irritiert, oder ob es ihn verstört, ängstigt oder wütend macht, hat mit dem zu tun, was er bisher an Vergleichbarem erlebt hat, welche Gefühle dies in ihm ausgelöst hat, wie er damit umgegangen ist, was seine Reaktion wiederum bei anderen oder im eigenen Innern ausgelöst hat und wie es dann weitergegangen ist. Wer einige Male erlebt hat, dass eigene Wünsche und Anliegen einfach ignoriert oder harsch zurückgewiesen wurden, zieht vielleicht den Schluss aus diesem Erleben, dass es »ohnehin sinnlos ist«, sich mit einer Bitte an jemanden zu wenden – vor allem, wenn er an das Gefühl der Beschämung und der Hilflosigkeit denkt, das sich nach der Abfuhr eingestellt hat. Ein anderer zieht aus der entsprechenden Erfahrung der Zurückweisung einen anderen Schluss und überlegt sich, mit welchen Herangehensweisen und Strategien er die Aussicht darauf erhöht, dass seine Wünsche und Anliegen berücksichtigt werden. Es hängt stark vom individuellen Erleben der Situation, von der darauffolgenden Bewertung und ebenso von der Einschätzung der eigenen Bewältigungsfähigkeiten ab, wie der Betroffene handeln wird. Dies erklärt, warum verschiedene Menschen völlig unterschiedlich auf den gleichen Auslöser reagieren können. Dies zeigt sich im Großen wie im Kleinen.
Kleinigkeiten, die den eigenen Vorstellungen zuwiderlaufen, gibt es viele. Beispielsweise ist die Schlange an der Kasse nebenan viel länger, und trotzdem geht es da jetzt viel schneller vorwärts, und man selbst steht sich die Beine in den Bauch. Der eine ist frustriert, der andere nimmt es hin und bleibt gelassen, ein Dritter nutzt die Zeit dazu, E-Mails zu verschicken. Wenn es an der Kasse deswegen nicht vorangeht, weil ein Kunde umständlich nach seiner Geldbörse sucht, kann Ärger aufkommen. Wenn dem Kunden nach langem Hin und Her klar wird, dass er seine Geldbörse wohl zu Hause gelassen hat, er auch keine Kontokarte zum Bezahlen dabeihat und nun ein zeitaufwendiger Stornierungsprozess erforderlich wird, da kann man dann schon zornig werden. Der Frustrierte wird inzwischen innerlich kochen, und der Gelassene wird wahrscheinlich nun doch weniger gelassen sein. Der E-Mail-Schreiber, der inzwischen alles, was zu schreiben war, geschrieben hat, ist zumindest irritiert. Wenn nun die Kasse auch noch vor der eigenen Nase schließt und man zur Kasse nebenan gebeten wird … Wer reagiert da nicht aggressiv und fühlt sich gleichzeitig hilflos, weil er nichts dagegen tun kann?
Vorkommnisse wie diese gehören zum Alltag. Den meisten von uns ist das klar und der Vorfall kurze Zeit später schon wieder abgehakt und vergessen. Wer jedoch beginnt, sich auf diese kleinen Alltagsungerechtigkeiten zu fixieren und sie auf sich persönlich zu beziehen – »Immer passiert mir so etwas«, »Immer habe ich das Nachsehen«, »Die anderen haben’s gut, nur ich …« –, für den bekommt das Leben allmählich einen bitteren Beigeschmack.
Auch widrige Ereignisse, die ein höheres Gewicht haben – wie etwa eine Trennung, ein großer Verlust oder eine Kündigung –, werden unterschiedlich verarbeitet. Der eine erlebt das Geschehen vor allem als kränkend, demütigend und ungerecht, der andere empfindet zwar die Folgen auch als schmerzlich, betrachtet aber das, was passiert ist, als zum »möglichen Lauf des Lebens« zugehörig. Während der eine sich als Opfer und einer persönlichen Bedrohung ausgeliefert fühlt, lässt der andere sich auf die neue Situation ein und versucht, das Beste daraus zu machen. Manchmal reagiert jemand auf eine Scheidung sogar mit Freude angesichts der Aussicht auf eine weniger angespannte Lebenssituation.
Es gilt also, dass die äußeren Gegebenheiten des Lebens für sich genommen kaum eine Relevanz für das psychische Erleben haben. Menschen in anderen Erdteilen sind glücklich über Lebensbedingungen, die hierzulande als primitiv oder auch menschenunwürdig angeprangert würden. Es ist die Psyche, die über die emotionale Verarbeitung von Belastungen und deren Folgen entscheidet. In der Psychologie spricht man vom »transaktionellen Stressmodell«. Auf der einen Seite steht eine Anforderung, auf der anderen eine Belastungsreaktion. Die persönlichen Bewältigungskompetenzen entscheiden darüber, wie die Sache ausgeht. Belastungen, die man meistert, machen froh und stärker. Ist man zu schwach, gibt es ein Problem. Die Frage ist auch, ob jemand dafür verantwortlich gemacht werden kann, dass an den Betroffenen eine Anforderung gestellt wurde, die ihn überfordert. Haben wir ein Recht darauf, dass Dritte nur Anforderungen an uns stellen, die wir auch bewältigen können? Sind dann am Ende andere für unser Scheitern verantwortlich?
Da Verbitterung eine Reaktion auf das Erleben von Ungerechtigkeit ist, bzw. auf das, was man als ungerecht bewertet, wird durch die eben angestellten Überlegungen deutlich, dass es nicht genügt, den einzelnen Menschen zu betrachten, sondern dass er in seiner Lebensumwelt und gesellschaftlichen Situation erfasst werden muss.
DER SINN FÜR GERECHTIGKEIT: ANGEBOREN? ANERZOGEN? ANTRAINIERT?
Alle drei Faktoren spielen eine Rolle. Das Empfinden dafür, was gerecht und was ungerecht ist, wird Menschen schon in die Wiege gelegt. Die Erziehung vermittelt dann die kulturellen Werte der Eltern, Lehrer und anderer Bezugspersonen, sodass bestimmte Normen und Verhaltensweisen mit »gerecht« und mit »ungerecht« verbunden werden. Mittels des Erwerbs von Wissen und Engagement und mittels der persönlichen Lebenserfahrung werden die Vorstellungen davon gebildet, was man für gerecht oder für ungerecht hält. So kann der Sinn für Gerechtigkeit im Verlauf eines Menschenlebens verschiedene Wandlungen durchlaufen. Menschen sind ihrer Natur nach soziale Wesen, die in aller Regel mit anderen zusammenleben. Dies geht nur gut, wenn es zu einem gegenseitigen Interessenausgleich kommt. Damit ist Gerechtigkeit gemeint, weshalb Menschen von Geburt an auch wesentlich vom Streben nach Gerechtigkeit motiviert sind. Nach Untersuchungen des amerikanischen Psychologen Melvin Lerner hat jeder Mensch das Bedürfnis, in einer...