Wir können es schaffen
Die Entdeckung des Lebens
Der springende Punkt
Ja, es gibt ihn tatsächlich, den springenden Punkt, die Zweitbekehrung. Ich bin mit 23 Jahren ins Kloster eingetreten, weil ich fromm war – und bin. In eine Missionsgemeinschaft, weil ich unbedingt die große, weite Welt sehen wollte. Und Afrika war weit genug weg und interessant genug.
Einige Jahre habe ich in Ruanda gearbeitet, bin nach Deutschland zurückgekommen und habe hier einige Zeit verschiedene Aufgaben übernommen. Unter anderem bei Missio in München.
Im Auftrag von Missio reiste ich auf die Philippinen, zusammen mit dem österreichischen Weihbischof Florian Kuntner*, der Leiter des österreichischen Missionswerkes war. Weil er im Unterschied zu mir keine Auslandserfahrung hatte, wurde ich mit auf die Reise geschickt.
Die Weltkirche hat mich von Anfang an interessiert. Ich war immer der Auffassung, dass man »katholisch sein« auch ganz anders zum Ausdruck bringen kann als bei uns in Europa.
Auf den Philippinen besuchten wir Bischof Julio Xavier Labayen*. Er leitete die kleine Diözese Infanta auf der Insel Luzon. Ich war begeistert von seiner pastoralen Arbeit. Die wollte ich Bischof Kuntner zeigen.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Bischof Labayen mussten erst einmal in die Dörfer gehen, mussten bei den Leuten gelebt haben, um ihre Fragen und Nöte kennenzulernen. Erst wenn das geschehen war, konnten sie die Botschaft des Evangeliums zu den Inselbewohnern bringen.
Bischof Labayen, selbst Karmelit, wollte Karmelitinnen, Frauen eines Ordens mit strenger Klausur, in seine Diözese holen. Es gab sie schon lange in Manila, der Hauptstadt der Philippinen. Sie waren mit den spanischen Eroberern dorthin gekommen.
Zuerst überlegten die Frauen, wie sie ein traditionelles Kloster, ein »monastère«, im Stile einer festen Burg bauen könnten. Bischof Labayen hatte andere Vorstellungen. Jede »seiner« Schwestern sollte bereit sein, einen Monat mit einer armen Familie zu leben. Die meisten der Inselbewohner waren Fischer und Landarbeiter. Sieben Schwestern haben sich dazu bereit erklärt und vier Wochen in und mit solchen Familien gelebt. Ihre Berichte darüber waren sehr bewegend. Sie erzählten zum Beispiel von einem Bauern, der nur ein kleines Feld hatte und davon seine ganze Familie ernährte. Er sollte vom Großgrundbesitzer vertrieben werden! Eine Schwester, die in dieser Familie gelebt hatte, sagte: »Ich war immer eine fromme Schwester und habe ein armes Leben geführt. Aber das, was ich da erlebt habe, hat mich zur Revolutionärin gemacht!«
Eine andere Schwester wohnte bei einer siebenköpfigen Fischerfamilie, die in einem einzigen Raum lebte. Diesen Raum hat sie der Ordensfrau zur Verfügung gestellt. Die Familie selbst hat in der Küche auf dem Boden geschlafen.
Nach solchen Erfahrungen wollten die Schwestern kein burgähnliches Kloster mehr bauen, sondern eines im Stil der einfachen Leute. Ihr Klostergarten sollte offen sein für jeden, der nicht genug zu essen hatte. Die Erfahrung, die sie machten: Die Leute haben das nie ausgenutzt. Sie kamen nur, wenn sie in größter Not waren.
Vor diesem Kloster lag ein Baumstamm. Darauf stand in Tagalog, der Sprache der Philippinen, eingeritzt: »Karmel – den Wunschträumen des Vaters gewidmet«.
Meine Frage, was das bedeute, wurde von den Schwestern so beantwortet: »Wir sind doch alle davon überzeugt und glauben, dass Gott der Schöpfer aller Menschen, der Vater, die Mutter aller Menschen ist. Warum soll er nicht die gleichen Wunschträume für alle seine Kinder haben, wie jede Mutter und jeder Vater? Wir wollen«, sagten sie, »im Herzen Gottes die Liebe sein! Und wenn wir das wollen, müssen wir alles tun, um die Wunschträume Gottes umzusetzen!« – Das hat mich fasziniert. Es erinnerte mich an die Strophe eines französischen Liedes, in der es heißt:
Ihr seid die Hände Gottes.
Gott hat keine Hände, nur eure Hände.
Ihr seid das Herz Gottes.
Das hat mich richtig gepackt! Dafür war ich eigentlich ins Kloster gegangen!
Im Slum statt im Kloster
Als ich 1979 erstmals das philippinische Inselreich bereiste, war die katholische Hierarchie zerstritten. Ein Teil der Kirchenelite sympathisierte mit dem Diktator Ferdinand Marcos und der kleinen Schicht von Großgrund- und Fabrikbesitzern. Ungeachtet der Querelen an der Kirchenspitze hatte sich eine Basisgemeindebewegung formiert – allen voran die Ordensfrauen. Viele von ihnen hatten vorher als Studienrätinnen die Kinder der Reichen unterrichtet. Dahinter steckte die Überzeugung: Wenn die Reichen gute Christen werden, sind sie bereit, mit den Armen zu teilen. Da die Schwestern mit diesem blauäugigen Konzept gescheitert waren, hatten sie sich ordensübergreifend zu »rural« und »urban missionaries« zusammengeschlossen: Nonnen aus verschiedenen Gemeinschaften lebten nicht mehr in Klöstern, sondern mit den Armen auf dem Land und in den Slums. Nicht einmal für vier Wochen wie die Karmelitinnen in Infanta, sondern immer, Tag für Tag.
Diese völlig neue Gemeinschaftsform begeisterte mich kolossal. 1979 auf den Philippinen wurde mir klar: Das ist die Zukunft der Orden und Kongregationen auch in Europa! Wegen des Nachwuchsmangels können einzelne Gemeinschaften kaum noch neue Werke als Antwort auf die Nöte der Menschen von heute beginnen – aber sehr wohl gemeinschaftsübergreifend und zusammen mit engagierten Laien*.
Wir können es schaffen
Später, 1985, als ich in Mombasa arbeitete, habe ich mir vorgenommen: Ich will etwas tun für die chancenlosen Töchter Gottes, die Frauen!
In Mombasa machten unsere Schwestern Fortbildungskurse für Religionslehrer. Religionsunterricht stand zwar auf dem Lehrplan der Schülerinnen und Schüler, kam aber im Ausbildungsplan der Lehrinnen und Lehrer nicht vor. Dorthin wurde ich von meinem Orden geschickt. Die Schwestern sagten mir aber gleich nach der Ankunft: »Eigentlich brauchen wir dich gar nicht, da wir dieses Programm ganz in einheimische Hände geben.« Das war für mich der Anstoß, etwas für die Frauen zu tun. Die Oberin, der ich das sagte, meinte: »Ja, mach mal! Aber halte mich auf dem Laufenden!«
Dann bin ich auf die Straße, in die Kontakt-Cafés, Bars, Diskotheken, Bordelle und Restaurants gegangen, wo die Sextouristen mit ihren dicken Brieftaschen protzten, habe mich zu den Frauen an die Tische gesetzt und mich vorgestellt: »Ich bin Lea.« Seltener habe ich »Schwester« gesagt, weil ich nicht zu fromm erscheinen wollte. Die Frauen haben sich dann auch sehr höflich vorgestellt. Ich habe sie zu einem Bier eingeladen, weil die meisten von ihnen Bier tranken.
Zu erkennen gab ich mich so: »Ich bin als Europäerin hier, um Ihnen zu helfen, wenn Sie Schwierigkeiten haben. Aber Sie sind ja jung und hübsch und haben vermutlich gar keine Schwierigkeiten!« – Sofort fingen sie an zu schimpfen: »Was meinen Sie denn? Meinen Sie, es macht Spaß, mit jedem Trottel abzuziehen, sich Krankheiten zu holen, mal Geld zu haben, mal keines?« – »Wenn das so ist, dann überlegen wir jetzt zusammen, was ihr anderes machen könnt«, sagte ich.
Was hatte ich erfahren? – Keine einzige der vielen Frauen, die ich im Sommer 1985 befragt habe, sagte, dass die Prostitution von der Armut befreie. Prostituierte verdienten weniger als Dienstmädchen, die damals umgerechnet 40 Euro im Monat bekamen. Von Prostitution profitieren selten die Prostituierten selbst. Die Absahner sind andere. Als im Oktober 1985 der amerikanische Flugzeugträger »Kitty Hawk« im Tiefseehafen von Mombasa vor Anker ging und sage und schreibe 11.000 Soldaten über die Innenstadt ausspie, waren die Prostituierten nur die Lockvögel für das große Geschäft. Die Kioske erweiterten ihr Warenangebot, die Diskotheken erhöhten ihre Getränkepreise und die Hotels ihre Zimmermieten.
Eine der Frauen, zu denen ich Kontakt aufnahm, war Katharina. Eines Abends kam ich ins »Istanbul«. Katharina saß allein an einem Tisch. Als ich anbot, sie einzuladen, sagte sie sofort: »Ich habe Hunger!« Sie war erst 17 Jahre alt und lebte mit ihrem dreijährigen Sohn Maina auf der Straße. Im Laufe unseres Gesprächs bemerkte ich ein junges Mädchen im hinteren Teil des Lokals. Ich fragte Katharina: »Wie alt ist sie?« – »Maggy ist erst 14. Gestern hat sie ein Baby zur Welt gebracht und es in der Toilette ertränkt«, erzählte sie. – Mein Entsetzen war maßlos. Welch unerträgliches, leidvolles Dasein fristeten diese jungen Mädchen – diese Kinder!
Ich steckte in einer Zwickmühle. Ich hatte das Elend gesehen. Ich wusste, was den Frauen fehlte: Bildung und Alternativen zur Prostitution! – Und jetzt? Ich hatte kein Geld, keine Mitarbeiterinnen. Ich hatte nichts. Da entschloss ich mich, in den sauren Apfel zu beißen und zu betteln. Beim Eintritt ins Kloster hatte ich mit Gott eine Abmachung getroffen. Ich wollte alles, was ich an Fähigkeiten und Fertigkeiten hatte, für ihn einsetzen. »Aber bitte verlang nicht von mir, dass ich betteln gehe, lieber Gott!«, sagte ich. Doch nach 25 Jahren als Weiße Schwester blieb mir nichts anderes übrig, als meine Hand aufzuhalten.
Ich schrieb viele Bettelbriefe mit dem Füller und dem Kugelschreiber. Ein zeitaufwändiges Unterfangen! Verwandte, Freundinnen, Bekannte und alle Menschen in Deutschland, die jemals so unvorsichtig waren, mir ihre Adresse anzuvertrauen, standen auf meiner Liste. Die Überwindung meines Widerwillens trug mir eine reiche Ernte ein: nur zwei negative Antworten.
Der Erzbischof von Mombasa Nicodemus Kirima* sorgte dafür, dass mir eine Pfarrei eine halbverfallene...