Älterwerden – Geschenk oder Zumutung?
Mein Buchtitel »Lebe deine eigene Melodie« verlangt nach einer Definition. Manche verbinden mit dem Wort »Melodie« etwas, das nur Musiker angeht. Ich spreche von einer Melodie, die mit innerer Bewegung, mit Lebendigkeit zu tun hat, die im weitesten Sinn dieses lebenslange Unterwegssein, dieses auf dem Weg zu sich selbst sein, meint – etwa im Gegensatz zur Bequemlichkeit, zur Trägheit, Eintönigkeit und Gleichgültigkeit. Der Schaukelstuhl, das möchte ich bewusst machen, ist nicht der richtige Platz in dieser Lebensphase. Es genügt nicht, sich lediglich um das eigene Blumenbeet zu kümmern, Älterwerden heißt nicht starr, stur werden und Ruhe bewahren, sondern neugierig, engagiert, innovativ und kämpferisch sein. Für mich selbst bedeutet die eigene Melodie leben ganz konkret das, was ich Tag für Tag praktiziere: im Teich schwimmen, Orgel üben, träumen, lesen, schreiben und mein Erfahrungswissen an andere Menschen weitergeben. Ohne diese täglichen inneren und äußeren Bewegungen wäre für mich das Älterwerden nicht denkbar.
Mein 60. Geburtstag fühlte sich längst nicht so prickelnd, optimistisch und ausgelassen an wie mein 50. Ich fühlte mich zwar noch nicht alt, aber eben auch nicht mehr jung. Eine merkwürdige Mischung aus Melancholie, Nachsicht und freche Gelassenheit umhüllte die Feierlaune. Stimmt es womöglich doch, dass sich das Aufregende im Leben nur zwischen 25 und 40 abspielt? Werde ich jetzt alt? Bin ich schon alt? Was erwartet mich in diesem Stadium von nicht mehr jung und noch nicht alt?
Haben wir nicht alle diese Sätze im Ohr: Älterwerden ist die Hölle. Älterwerden ist ein Massaker. Älterwerden ist eine Demütigung. Ab jetzt geht es nur noch bergab. Trübe Augen, schwache Ohren, zitternde Knie. Jemand müsste den Spiegel abdecken. Werde erst mal älter, dann wirst du schon sehen!
Was ist denn das Älterwerden? Ein paar Lebensjahre mehr? Der Anfang vom Ende? Der Rest des Lebens? Das Ende des Tunnels? Eine Frau beschrieb es pfiffig: »In diesem alten Bilderrahmen bin ich eine undefinierbare Dreißigbis-Vierzigjährige, schlank wie der Morgen, schön wie der Abend. Natürlich war ich nie schlank und schön, aber das ist es, was ich tief innen fühle.« Eine andere meinte: »Ich finde, das beste Alter ist immer gerade das, was man gerade hat. Auch wenn ich nur noch in den Spiegel schaue, wenn es unbedingt sein muss, kann ich mich gar nicht entsinnen, je so intensiv im Hier und Jetzt gelebt zu haben.« Oder wieder eine andere: »Ich fühle mich nicht besonders alt, denn ich erlebe immer wieder Offenbarungen, die zugleich ganz gewöhnlich und ganz großartig sind – die Blume, die ich früher übersehen hätte, das Lächeln des Mädchens im überfüllten Markt mit diesem Ausdruck von Heiterkeit und Frieden, das ich bis heute erinnere.«
Im jungen Alter holt uns unweigerlich eine Überraschung ein. Die Art und Weise, wie wir die Welt und das eigene Leben auffassen, ist nicht mehr dieselbe wie zuvor. Eine tiefgehende, fast unmerkliche Metamorphose findet statt, an der wir als Opfer und Täter mitwirken. Oder wie der Essayist Dieter Wellershoff meinte: »... wie ein Betrug, an dem man selbst beteiligt war. Als Betrüger und Betrogener.« Es ist schwer zu begreifen, was es heißt, »in die Jahre zu kommen«. Keiner hat uns auf diesen neuen Geisteszustand vorbereitet, der so gemischte Gefühle hervorruft.
Kann man beschreiben, wie eine reife Birne schmeckt? Wohl kaum, man muss schon selbst eine essen. Plötzlich realisiert man nämlich, was nicht gewesen ist, was man versäumt oder vermasselt hat, wozu der Mut, die Energie oder die Liebe fehlten. Oder man beschleunigt auf der Lebensstraße, stopft sich voll mit Terminen, Listen und Routinearbeiten, kontrolliert jedes Anzeichen körperlichen Verfalls, um die Angst vor dem Alter in Schach zu halten. Und wer die Arbeit gehasst hat, für den rückt jetzt die große Entlastung in greifbare Nähe. Endlich spielen, wandern, bummeln, golfen, lange frühstücken, Zeitung lesen, Klavier üben, mit den Enkelkindern blödeln. Endlich schlichter, gelassener und leichter leben.
Für manche ist diese Lebensphase die Zeit der Krisen, des Ausgebranntseins, der Konflikte in Partnerschaft und Familie, und vor allem des Alleinseins. Das bisher gelebte und ungelebte Leben treffen hart aufeinander und ringen um eine Zukunft, die ungewiss und unsicher ist. Viele aber empfinden diese Lebensphase als Zenit ihres Lebens, und spüren eine ganz neue Kraft und Freiheit in sich. »Endlich darf ich mir gehören«, sagt eine Ingenieurin, die sich nun selbstständig macht und beratend tätig sein wird, um mehr Zeit für ihre kreativen Potenziale zu finden. Wie viele andere bestätigt sie, dass zwar die körperlichen Kräfte nachlassen, dafür aber im Innern neue Kräfte heranwachsen, die für größere Klarheit, Konzentration und Kreativität sorgen.
Abgesehen von den oft grotesken Maskeraden zwanghaften Jungbleibenwollens und der Angst vor Demenz oder Senilität, ist das junge Alter der privilegierte Ort, sein Leben neu zu ordnen und zu gewichten. Allerdings bedarf es bewusster Entscheidungen, denn die neuen Weichenstellungen sind keineswegs vorprogrammiert. Wir selbst haben das Steuer nun in der Hand, keiner »richtet es« mehr für uns. Entweder wir werden wiedergeboren oder beginnen zu sterben, prognostizierte die Psychotherapeutin Katrin Wiederkehr.
Wiedergeboren werden oder sterben ist in der Tat die Entscheidung, die diesen Lebensabschnitt bestimmt. Wir begreifen allmählich, dass unsere Tage gezählt sind und deshalb jeder Tag zählt. Wir werden unruhiger, wo »tote« Zeit ist und beziehen den Satz »alle Menschen müssen sterben« vielleicht erstmalig auf uns persönlich. Wir ertappen uns, wie wir die Todesanzeigen nun aufmerksamer studieren. Und wenn unsere Katze, der Goldhamster oder ein Verwandter sterben, dann dämmert es uns unausweichlich, dass dies irgendwann auch das eigene Schicksal sein wird. Wir realisieren Endlichkeit als eine Tatsache des Lebens. Vor diesem dunklen Hintergrund erstrahlt plötzlich die Kostbarkeit der Lebenszeit. Der Schritt ist zwar nicht mehr so federnd, aber er sucht sich seine eigenen Wege von der verschwenderischen Weite in die Tiefe, von der Zerstreuung in die Sammlung. Wir fahren langsamer, aber dafür sehen wir viel mehr. Wir beginnen hinzuschauen, zu fragen und zu verstehen. Wie bin ich eigentlich zu mir selbst gekommen? Wieso kam alles so, wie es kam? Warum habe ich gerade diesen Weg eingeschlagen? Ist es das, was ich wirklich gewollt habe? Hier bin ich gelandet, was bleibt mir noch? Die Zeit des Rückblickens, der bewussten Hinnahme, des »Werde, der du bist« ist nun unabweisbar.
Eine neue Dimension von Eigensinn und Freiheit tut sich auf. Wir lassen uns nicht mehr dreinreden und tun das, was wir für richtig halten. Unser eigenes Maß bestimmt unseren Rhythmus. Der Anpassungsdruck nach außen wird geringer, weil wir nicht mehr alles im Griff haben müssen, und weil wir dem Leben trotz Enttäuschungen und Verletzungen mit gelassener Zuversicht trauen, ohne es beherrschen zu müssen. Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich bringt es auf den Punkt: »Das Angenehme am Altern ist, dass man weiß, wer man ist.«
Wo ein Weg endet, beginnt eine andere Reise. Eine Reise, die nicht in der alten Kraft nach vorn drängt, sondern in die Tiefe der Selbstbegegnung. Älterwerden befreit von der naiven Empfänglichkeit für Ideologien, Meister, Gurus, Gruppen und Dogmen. Wir wollen uns selbst ein Urteil bilden, weil wir unseren eigenen Gefühlen und Erfahrungen zu trauen gelernt haben, die uns die unterschiedlichsten Begegnungen, Naturerlebnisse, Kunst und Literatur zuspielen.
Unsere Wünsche ändern ihre Richtung. Sie verlieren an Schärfe und Dringlichkeit und gehen ins Hoffen über, das nach vorn alles offen, voller Möglichkeiten lässt und auf Vertrauen baut. Ein milderes, wärmeres, ruhigeres Klima ist zu wittern. Es sind nicht mehr die spektakulären Ereignisse, die uns in Hochstimmung versetzen. Waren es die großen Herausforderungen, eine neue Liebe oder ein bedeutender Erfolg, die früher zu Euphorien führten, so sind es nun andere, unscheinbare Wunder, die wir vorher vielleicht nicht einmal bemerkt hätten – der sorgsam gedeckte Tisch, ein Baum, ein Stein, eine warme Hand, ein Lächeln, eine Wolkenformation. Sie versetzen uns in Schauer, wie damals in Kindertagen, als mich beim Anblick von Wespennestern wohlige Gänsehaut überfiel.
Die Sinne werden feiner, selektiver, nuancierter. Der Blick wird weicher, empfänglicher. Wir sehen zwar nicht mehr so scharf im Nahbereich, dafür sehen wir auch vieles nicht mehr so eng und gewinnen eine Weitsicht, die uns hilft, die Dinge aus der historischen Perspektive zu sehen. Auch der Verlust an Hörschärfe hat seine praktische Seite, man entwickelt eine Selektivität, die einen feinspüriger macht für das, was man hereinlassen oder weglassen will. Die Berührungen werden behutsamer, unvoreingenommener, weniger zupackend. Es geht nicht mehr darum, möglichst viel zu verschlingen und anzuhäufen, sondern um den Sinn für Grenzen, Eigenmaß und Unterschiede. Wir beschränken und schützen uns, nicht im Sinne von Askese oder Beschneidung, sondern weil uns mehr daran liegt, tiefer und aufmerksamer uns selbst und anderen zu begegnen.
Die Wahrnehmung wird offener, weil sie nicht mehr überlagert ist von selbstbezogener Erfolgs- und Leistungsmotivation. Die Energien, die vorher gebunden waren durch Anpassungsbereitschaft, Beschäftigung mit dem Eindruck auf andere, Zwang, sich zu beweisen und Bedürfnis nach sozialem Applaus, werden allmählich frei und schaffen Raum für neue Offenheit und »Durchlässigkeit für das Wesentliche« (Wiederkehr 1999).
Die Auflösung alter...