1 Faszination Fuß
1.1 Als der Fuß das Laufen lernte
Wenn Sie sich schon einmal gefragt haben, was uns Menschen von den Tieren unterscheidet, haben Sie sicher nicht an unsere Füße gedacht, oder? Dabei ist die echte Zweibeinigkeit, also das permanente Laufen auf zwei Füßen, abhängig von unserem einzigartigen Fußaufbau. Ich möchte mit einer gewagten These beginnen, die ich stets im Rahmen einer Fußuntersuchung einfließen lasse: Demnach wurde die Entwicklung des Fußes vor langer Zeit erfolgreich von der Natur abgeschlossen. Seither ist eine allmähliche Rückentwicklung des Fußes zu beobachten. Schade eigentlich, denn die Evolution hat mit der Entwicklung des Fußes etwas Hervorragendes geschaffen. Die Vermutung liegt nahe, dass unseren Vorfahren erhebliche Vorteile daraus entstanden, dass sie von nun an auf zwei Beinen durchs Leben gehen konnten. Zudem vertritt die Wissenschaft die Ansicht, dass die Zweibeinigkeit an eine Leistungssteigerung unseres Gehirns gekoppelt ist. Lange wurde gegrübelt, wann diese entscheidende Veränderung vonstattenging, wann also die praktischen Greifwerkzeuge, wie sie heute noch die Affen haben, langsam ausgedient hatten und sich Füße und Hände zu entwickeln begannen. Diese Wissenslücke konnten Forscher 2011 schließen. Bis dahin war uns immerhin der Ardipithecus ramidus bekannt gewesen. Dieser Vormensch lebte vor etwa 4,2 Millionen Jahren und war bereits in der Lage, kurze Strecken aufrecht zurückzulegen. Doch die Betonung liegt auf kurz, denn der Aufbau seines Fußes unterschied sich kaum von dem der heutigen Affen. Ihre Füße waren als Greifwerkzeuge mit entsprechend großen Zehen ausgelegt, um sich problemlos in den Bäumen bewegen zu können, und somit bedeutend flexibler als unsere menschlichen Füße. Wo aber war die Verbindung zwischen dem Fuß dieses Vormenschen und unserem heutigen Fuß? Die Antwort gab uns ein einziger 3,2 Millionen Jahre alter Knochen, der Anfang 2011 in Äthiopien gefunden wurde. Dabei handelt es sich um den vierten Mittelfußknochen eines Australopithecus afarensis, jener Art, zu der auch die berühmte Vormenschdame Lucy gehört, deren unvollständiges Skelett – die Knochen der Hände und Füße fehlen leider – fast vier Jahrzehnte zuvor in der gleichen Gegend entdeckt worden war. Dieser Mittelfußknochen lieferte nun den Beleg dafür, dass Lucy und ihre Kollegen ebenso aufrecht stehen und gehen konnten wie wir Menschen. Denn dieser Knochen weist eine anatomische Besonderheit auf: Er ist so geformt, dass sich dadurch ein Fußgewölbe bilden konnte.
Und genau dieses Fußgewölbe ist unverzichtbar für ein Leben auf zwei Beinen. Insofern verwundert es auch nicht, dass Veränderungen des Fußgewölbes mit der Zeit zu Beschwerden im gesamten Körper führen können. Zunächst aber lassen Sie uns einen Blick auf die Entwicklung des normalen menschlichen Fußes werfen.
Bei einem gesunden Säugling ist alles niedlich – vor allem die zarten Füßchen mit den winzigen Zehen. Da die Zehen im Vergleich zum Gesamtfuß aber noch sehr klein sind, bezeichne ich Babyfüße als Knubbelfüße. In diesem frühen Stadium sieht man den entzückenden durch Fettpolster geschützten Füßchen wahrlich nicht an, dass sie knapp ein Viertel aller 206 menschlichen Knochen in sich tragen. Und was macht das Baby mit seinen Knubbelfüßen? Laufen jedenfalls noch nicht. Erst mal werden sie gründlich erkundet, indem Zehen wie Finger in den Mund gesteckt werden. Das Baby lutscht an den Zehen, und immer wieder wird kräftig gestrampelt. Denn Bewegung gehört zum Leben dazu – in jedem Alter. Wir bewegen uns als Baby und müssen uns auch noch im Rentenalter bewegen. Unser Körper ist auf Bewegung ausgelegt. So sind denn auch die spielerischen Übungen, die das Baby mit seinen Beinen und (nackten) Füßen macht, ein wichtiger Bestandteil seiner geistigen und motorischen Entwicklung. An dieser Stelle muss ich gleich mal auf das Thema Fußbekleidung kommen: Über unsere Füße nehmen wir eine Vielzahl von Reizen auf, die für eine gesunde Entwicklung und somit für ein gesundes Leben unverzichtbar sind. Unsere Füße brauchen Stimuli, damit Form und Funktionen beibehalten werden. Packen wir die Füße nun in Socken und Schuhe, entziehen wir ihnen die notwendigen Reize. Natürlich können wir nicht barfuß ins Büro und im Winter nicht ohne Stiefel draußen herumlaufen, dem Baby aber sollte man so oft wie möglich seine nackten Füßchen gönnen. Ein Babyfuß muss nicht verhüllt sein, wenn die Umgebungstemperatur angenehm ist. Schließlich ist er durch das Fettpolster ausreichend geschützt. Werden die Füße hingegen schon zu Beginn ihrer Bewegungskarriere ständig verhüllt, ist damit der Grundstein für eine unzureichende motorische und geistige Entwicklung gelegt.
Zunächst ist die Fußsohle des Säuglings vorn erheblich breiter als hinten und daher wie ein Dreieck. Zudem sieht der kleine Knubbelfuß aus wie ein Plattfuß, was dem Fußsohlenfett geschuldet ist. Dieser sogenannte Spitzysche Fettpfropf unterstützt das Fußgewölbe beim Laufenlernen.
Im Alter von etwa neun Monaten fängt das Baby an, sich an Stühlen, Tischbeinen und Regalen hochzuziehen und aufzustellen. Damit kommt zum ersten Mal Druck auf den kindlichen Fuß. Seine Form beginnt sich zu verändern und dem Stand auf zwei Beinen anzupassen. Das Fußfett schwindet, während Muskulatur und Bänder durch die neuartige Belastung gekräftigt werden. Bei einigen Kleinkindern liegt die zweite Zehe auf der dritten Zehe, doch diese kleine Anomalie verwächst sich normalerweise gegen Ende des vierten Lebensjahres. Inzwischen hat sich die Fußgröße seit der Geburt verdoppelt. Von nun an verlangsamt sich das Wachstum auf durchschnittlich 0,9 Zentimeter im Jahr. Der Mädchenfuß ist dann im Alter von 14 Jahren ausgewachsen; die Füße der Jungs wachsen noch zwei Jahre lang weiter. Das erklärt auch, warum der Männerfuß im Verhältnis zur Körpergröße im Schnitt zwei bis drei Zentimeter größer ist als der Frauenfuß. Der Fuß ist übrigens das erste Teil des menschlichen Skeletts, das aufhört zu wachsen. Während des frühkindlichen Wachstums verändert sich auch die Beinachse. Da über die Beinachse die Belastung der angrenzenden Gelenke wie Fuß-, Knie- und Hüftgelenke bestimmt wird, können Abweichungen von einer geraden Beinachse langfristig zu Beschwerden führen. Bei normaler Lage im Mutterleib kommt das Baby zunächst mit einer O-Beinstellung auf die Welt, die sich im Regelfall innerhalb von zwei bis vier Jahren zurückbildet. Aber auch eine vorübergehende X-Beinstellung bei Zwei- bis Vierjährigen ist keine Seltenheit. Beinachsenveränderungen nach dem sechsten Lebensjahr hingegen sollten von einem Orthopäden begutachtet werden. Eine Bitte aus meiner Erfahrung als Arzt: Wenden Sie sich vertrauensvoll an den Kinderarzt oder Orthopäden, sobald Sie den Verdacht haben, dass am Fuß oder Bein Ihres Kindes etwas nicht stimmt. Lieber schauen wir Ärzte einmal zu viel als einmal zu wenig auf den Kinderfuß. Dafür ist die gesunde Entwicklung des Fußes einfach zu wichtig. Leider stellen wir Orthopäden jedoch fest, dass die elterliche Fürsorge die Füße ihres Nachwuchses betreffend nicht optimal ist. Aus diesem Grund hat der Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU) die Aktion »Zeigt her Eure Füße« ins Leben gerufen. Engagierte Orthopäden besuchen Grundschulen, um die Füße der Schüler kostenlos zu untersuchen und gegebenenfalls eine Empfehlung für die Eltern auszusprechen. Denn der gesunde Kinderfuß ist die Basis für eine gesunde Körperstatik und somit für einen gesunden Bewegungsapparat im Laufe der Entwicklung.
1.2 Auf gutem Fuße oder:
Der Idealfuß – Anatomie I
Unser Fuß ist ein wahres Meisterwerk der Evolution. Immerhin muss er auf einer relativ kleinen Fläche unser gesamtes Körpergewicht tragen. Beim Stehen werden etwa 70 Prozent von Ferse und Fußballen getragen, etwa 15 Prozent vom Fußaußenrand und etwa 12 Prozent von den Zehen. Dass kein Fuß dem anderen gleicht, weiß jeder, der sich schon mal am Strand oder im Schwimmbad umgeschaut hat. Insofern bin ich auch der Auffassung, dass es falsch wäre, von einem »Normalfuß« zu sprechen. Ich spreche lieber von dem »Idealfuß«, der es uns ermöglicht, gut zu Fuß zu sein. Um den Idealfuß zu verstehen, werde ich Sie auf eine kleine anatomische Reise mitnehmen …
Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, woraus der Fuß besteht und was man alles an ihm sehen kann? Ich verspreche Ihnen, mit diesem Wissen können Sie auf der nächsten Party Eindruck schinden. Allein die Frage, wie viele Knochen der menschliche Körper hat, bringt auch so manchen Mediziner ins Grübeln. Die richtige Antwort lautet: 206 Knochen umfasst unser menschliches Skelett normalerweise – bei anatomischen Varianten kann es auch mal ein Knochen mehr oder weniger sein. 26 davon finden wir in jedem Fuß (plus zwei sogenannte Sesambeine). Das macht zusammen 52 Knochen und somit knapp 25 Prozent aller Knochen aus. Das wird nur noch von unseren Händen getoppt, die jeweils noch zwei Knochen mehr haben. Die Evolution muss sich etwas dabei gedacht haben, eine so große Anzahl von Knochen auf so kleinem Raum unterzubringen …
Unsere Fußknochen stehen über verschiedene Gelenke miteinander in Verbindung, wodurch eine gute Beweglichkeit gewährleistet ist. Zu den Fußknochen gehören die Zehenknochen (Ossa digitorum pedis), die Mittelfußknochen (Ossa metatarsi) und die Fußwurzelknochen (Ossa tarsi). Zehen- und Mittelfußknochen bilden den...