Was sind leise Menschen?
»Nur in stillen Wassern
spiegeln sich die Sterne.«
Chinesisches Sprichwort
»Was, so viele?«, fragt mich die spanische Kollegin auf einer Konferenz. Das ist oft die erste Reaktion, wenn ich erwähne, dass 30 bis 50 Prozent der Menschen introvertiert sind. Und zwar überall auf der Welt: Das Verhältnis ist in eher »leisen« Ländern wie Japan oder Norwegen ähnlich wie in eher »lauten« Ländern wie Brasilien und Nigeria. Die Evolution hat weder Extros noch Intros benachteiligt oder zur Minderheit werden lassen. Wahrscheinlich hat das Gründe.
Intros und Extros – zwei große Schubladen
Intro- und Extroversion sind in ihrer Bedeutung ähnlich prägende und ähnlich wichtige Eigenschaften wie die Geschlechtszugehörigkeit. Sie prägen uns tief. Aber wie auch der Unterschied zwischen männlich und weiblich sind sie große »Schubladen«, die allein nicht so aussagekräftig sind, aber eine gute grundsätzliche Orientierung ermöglichen. Die ist allerdings in diesem Fall nicht an äußeren Merkmalen, sondern an der Innenausstattung ersichtlich.
Introvertiert bedeutet »nach innen gewandt«, so wie extrovertiert (oder extravertiert) »nach außen gewandt« bedeutet. Diese unterschiedliche Ausrichtung zeigt sich an ganz verschiedenen Stellen im Hirn. Wir sind allerdings nicht einfach Intros oder Extros, sondern Mischungen, wir alle haben also intro- und auch extrovertierte Eigenschaften. Das heißt: Wir können in einem Bereich eher nach außen, in einem anderen wieder nach innen gewandt sein.
Die meisten Menschen neigen leicht zur einen oder zur anderen Seite. Das sehen Sie in der Grafik daran, dass die Verteilungskurve in der Mitte hoch ist und zu den Rändern der Skala hin abflacht.
In der Mitte der Skala liegen die Zentro- oder Ambivertierten, bei denen intro- und extrovertierte Merkmale ungefähr gleich verteilt sind. Wenn Sie über sie Näheres nachlesen mögen: In meinem Buch Intros und Extros (2014) habe ich den Zentros reichlich Raum gegeben.
Wo Ihre Persönlichkeit steckt
Unterschiede im zentralen Nervensystem
Ihre Persönlichkeit steckt vor allem in Ihrem Kopf. Intro- und Extro-Gehirne unterscheiden sich, und das ist eigentlich nur logisch: »Nach innen« und »nach außen« gewandte Menschen setzen ihre Energie auf unterschiedliche Weise ein. Das wirkt sich auf die »Hardware« aus, und Intros und Extros haben tatsächlich in drei Zonen des zentralen Nervensystems verschiedene Ausstattungen.
Über die biologischen Unterschiede zwischen Intros und Extros habe ich bereits ausführlich geschrieben. Wenn Sie schon einmal eines meiner Bücher zum Thema gelesen haben (Löhken 2012, 2014 oder 2016), kennen Sie sich damit aus – und ich will Sie hier nicht damit langweilen. Andererseits sollen Sie natürlich diese Bücher nicht extra kaufen müssen, um mehr zu erfahren. Die nächsten drei Abschnitte sind deshalb ein Kompromiss: Ich beschreibe die Unterschiede und füge noch »Kleingedrucktes« hinzu, das Sie bei Interesse lesen können, aber nicht müssen.
Ruhe und Aktion
Intros benötigen mehr Ruhe und Regeneration. Sie brauchen häufiger den Rückzug, um äußere Eindrücke gut zu verarbeiten und sich zu erholen. Intensive Gefühlswallungen sind bei Intros ziemlich selten. Sie brauchen manchmal länger, um zu reagieren, tun das dann aber besonders passend.
Extros können vergleichsweise leichter und besser Außenreize verarbeiten. Sie sind sogar darauf angewiesen, dass »etwas passiert« und sie nicht zu viel Leerlauf haben. Schließlich heißt extrovertiert ja auch »nach außen gerichtet«. Ruhe, Nachdenken und Innehalten sind nicht so ihre Sache. Stattdessen probieren Extros lieber Dinge aus oder reden über das, was sie noch nicht wissen. Sie erholen sich sogar in Kontakt mit der Außenwelt. Außerdem können Extros himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt sein – ihr Gefühlsleben ist vergleichsweise intensiv. Die Begeisterung ist eine Extro …
Das Kleingedruckte
Diese Eigenschaften von Intro- und Extrovertierten hängen mit dem aktiven und dem ruhigen Teil unseres vegetativen Nervensystems zusammen. Alle Menschen haben zwar beide Teile, aber in unterschiedlichen Gewichtungen.
Das vegetative Nervensystem ist eine Art Autopilot: Es sorgt dafür, dass wir für alles, was wir zum Überleben brauchen, genügend Energie zur Verfügung haben, also fürs Bewegen und Verdauen, für Angriff oder Flucht, aber auch für Körpertemperatur, Blutdruck oder Herzfrequenz. Stellen Sie sich nur vor, Sie müssten all dies mit Ihrem Bewusstsein steuern …
Diese unübersichtliche Aufgabe schafft unser vegetatives Nervensystem mit zwei unterschiedlichen Kreisläufen: dem Sympathikus und dem Parasympathikus.
Der Sympathikus ist auf Leistung ausgerichtet. Er sorgt dafür, dass wir uns schnell bewegen, beschleunigt unseren Herzschlag und blockiert die Verdauung – schnell weglaufen und die Pasta verdauen gehen also nicht gleichzeitig. Stattdessen holt der Sympathikus sich die Energie in Form von Fettsäuren aus unseren Polstern. Was ja gar nicht so übel ist.
Der Parasympathikus wird auch Ruhenerv genannt. Er hilft uns, uns zu entspannen, uns zu erholen und Nahrung zu verdauen. Dank ihm können wir Energie speichern und wiederherstellen. So wie der Sympathikus für das kurzfristige Überleben zuständig ist, sichert der Parasympathikus das langfristige Überleben. Wenn er an der Reihe ist, sinkt der Herzschlag, und die Verdauung kommt in Schwung.
Sympathikus und Parasympathikus können nicht gleichzeitig aktiv sein. Wenn der »schnelle« Sympathikus das Kommando hat, geht es darum, eine Stresssituation zu bewältigen – da wäre der langsame Parasympathikus fehl am Platz. Und nur wenn umgekehrt der Parasympathikus für Ruhe und Wiederaufbau sorgen kann, können wir gesund bleiben.
Zwei wichtige Botenstoffe (auch Neurotransmitter genannt) aktivieren das vegetative Nervensystem: Dopamin den Sympathikus und Acetylcholin den Parasympathikus. Dopamin sorgt für innere und äußere Bewegung, also für den motorischen Antrieb, aber auch für Neugier, die Suche nach Abwechslung und für das Anstreben von Belohnungen: Dank ihm handeln wir, riskieren etwas, reden mehr, erobern neue Bereiche oder verteidigen alte, wir sind wacher – kurz: Wir sind aktiv und machen uns auf zu neuen Ufern.
Dopamin sagt: »Los, mach schon!«
Acetylcholin meint: »Erst mal mit der Ruhe.«
Acetylcholin sorgt im System des Parasympathikus dafür, dass es uns gut geht, wenn wir uns nach innen wenden und zur Ruhe kommen. Es sorgt ebenso für Wohlgefühl und ist an anderen schönen Dingen beteiligt als Dopamin: an Reflexion, Gedächtnis, Konzentration, Lernen und Aufmerksamkeit.
Wir wissen heute, dass Intros stärker vom Parasympathikus geprägt werden. Sie reagieren empfindlicher auf Dopamin und sind deshalb leichter von äußeren Eindrücken überstimuliert. Dafür braucht das Introsystem im Vergleich auch eine längere Zeit für die Übermittlung von Reizen.
Extros dagegen sind stärker vom Sympathikus geprägt; sie haben zwar vergleichbar viel Dopamin in ihren Nervenbahnen wie Intros – aber die Dopamindosis ist in Extro-Hirnen messbar aktiver.
Wenn Intros sich wohlfühlen, liegt das dagegen eher an der Wirkung des parasympathischen Acetylcholin.
Sinne und Gedanken
Unterschiedliche Verarbeitung von Außeneindrücken
Der zweite Unterschied betrifft die Verarbeitung von Außeneindrücken. Die nach außen gewandten Extrovertierten haben im Vergleich zu ihren Intro-Brüdern und -Schwestern eine solide Ausstattung mitbekommen: Sie können viel über die Sinne aufnehmen und finden neue Eindrücke und Erfahrungen angenehm anregend. Unruhig oder gereizt werden Extros, wenn sie zu wenig mit Außenreizen versorgt werden: zum Beispiel bei Routinetätigkeiten oder in langweiliger Gesellschaft. Viel Abwechslung und ein gutes Tempo im täglichen Leben finden sie dagegen gut.
Intros dagegen bekommen eher das gegenteilige Problem: Ihnen wird es leicht zu anstrengend, wenn zu viel auf einmal auf sie einprasselt. Leise Menschen brauchen auch zuweilen längere Zeit zum Nachdenken und wirken womöglich nach außen inaktiv. Dafür haben...