Bevor ich mich den lesefördernden Aspekten der Märchen annähere, gehe ich zunächst auf einige allgemeine Grundlagen dieser epischen Form ein.
Der Begriff Märchen entstammt dem mittelhochdeutschen ‚maere’ und bezeichnet einen „berichtenswerten Erzählstoff“ (Lexer 1983 in: Jesch 2003, S.214). Während Märchen in der älteren Forschung lediglich der Unterhaltung und moralischen Belehrung dienten (Jesch 2003, S.24), werden sie heute als eine literarische Kunstform der Erzählung angesehen.
Märchen zählen zu den ältesten überlieferten Geschichten der Menschheit. Bereits im alten Ägypten tauchten erste märchenhafte Elemente auf, die eigentliche schriftliche Überlieferung beginnt allerdings erst im sechzehnten Jahrhundert
Am bekanntesten sind die Märchen von Jakob und Wilhelm Grimm, deren Märchensammlung noch immer zu den „meist gedruckten und übersetzten Büchern deutscher Sprache“ zählt (Röhrich 2002, S.1). Durch die Gebrüder Grimm sind die Begriffe ‚Sage’ und ‚Märchen’ als wissenschaftliche Begriffe etabliert worden, wobei sich das Märchen weiter untergliedern lässt in Kategorien wie „Zauber-, Tier-, Ketten-, Warn-, Legenden-, Schwank-, Lügenmärchen“ (Röhrich in: Franz 2004, S.6) und viele andere mehr. Neben Abgrenzungen zu anderen Gattungen, ist die zwischen den Märchen und Sagen sehr wesentlich. Unterschiede lassen sich schon vom Umfang her erkennen, da Sagen im Gegensatz zu den mehrepisodigen Märchen meist eine einepisodige Kurzform darstellen. Die Grimms unterschieden zwischen den „poetischen“ Märchen und den „historischen“ Sagen. Ersteres zeigt durch den fortwährenden Sieg des Guten über das Schlechte eine optimistische Grundhaltung, während die Sage den Menschen häufig als Verlierer im Kampf gegen übernatürliche Kräfte darstellt und somit ein eher pessimistisches Weltbild aufweist. Diese Unterscheidung bezieht sich auf wesentliche Elemente, ist allerdings in Einzelfällen weitaus kritischer zu betrachten (Röhrich in: Franz 2004, S.6-7).
Außerdem wird differenziert zwischen den vom Volk erzählten ‚Volksmärchen’ und den ‚Kunstmärchen’, die von Autoren verfasst wurden. Sie unterscheiden sich insbesondere im Handlungsverlauf, der bei den Volksmärchen ein- und bei den Kunstmärchen mehrsträngig ist. Während das Volksmärchen den Helden typisiert und mit einem guten Ende schließt, werden im Kunstmärchen, das meist ein offenes Ende aufweist, die Hauptfiguren durch psychologische Eigenschaften näher beschrieben und charakterisiert (Rösch 2000, S.105).
Als Prototyp für den gängigen Begriff Volksmärchen können die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm angesehen werden, dessen Motive und Symbole der mündlichen Überlieferung entstammen. Die Herkunft liegt meist in den untersten sozialen Schichten, während sich die Kunstmärchen eher mit „gesellschaftlich-geschichtlichen Problemstellungen“ beschäftigen (Freund 1996, S.183).
Die Gebrüder Grimm haben die Märchen nicht nur gesammelt und geordnet, sondern auch in besonderer literarischer Form deren Stil und Struktur geprägt. Während Jakob Grimm für eine unverfälschte Aufzeichnung der niederdeutschen Märchentexte war, setzte sein Bruder Wilhelm bewusst Stilisierungen ein, um die Märchen, die ursprünglich nicht für Kinder geschrieben waren, dem derzeit vornehmlichen Leserkreis in den „bürgerlichen Kinderstuben“ anzupassen (Freund 1996, S.189). Aus diesen Stilisierungen resultiert ein poetischer Ton, der geprägt ist durch einen einfachen klaren Satzbau, in dem Ausdrücke häufig wiederholt werden. Es wird überwiegend auf einer anschaulichen Art und Weise im Imperfekt erzählt, wobei indirekte Rede und Fremdwörter vermieden werden. Wesentliche Merkmale sind die häufigen Verwendungen von volkstümlichen Ausdrücken und Diminutivbildungen. Die sinnbildliche Sprache ist durchgehend fiktional und beinhaltet zeitlose Beispiele, wobei Lokalisierungen und Temporalisierungen bewusst vermieden werden.
Max Lüthi hat die Stil- und Wesensmerkmale der europäischen Volksmärchen zusammengestellt, die sehr klare und strukturierte Eigenschaften aufweisen (Lüthi 2004, S. 25-31). Diese Merkmale zeigen sich im Handlungsablauf, im Personal- und Requisitenbestand und der Darstellungsart.
Betrachtet man die Handlungsgegenstände der Märchen, fällt auf, dass stets eine Schwierigkeit und ihre Bewältigung im Vordergrund stehen. Dabei wird dem Held bzw. der Heldin meist eine Aufgabe gestellt, um aus dieser Ausgangssituation zu entkommen und das charakteristische gute Ende zu erreichen. Vermehrt treten in den Handlungen Zweier- oder Dreierrhythmen auf, dessen Formelhaftigkeit das Märchengeschehen bestimmt (Zitzlsperger 1980, S.13). So folgt nach der Bewältigung des eigentlichen Problems vielfach eine weitere Notlage. Die Zweiheit zeigt sich zudem in den typischen Gegensätzen von Gut und Böse, Alt und Jung etc..
Neben dieser Zweiteiligkeit wird das Geschehene oft in drei Abläufen dargestellt. So müssen beispielsweise drei Aufgaben gelöst werden, um zum Ziel zu gelangen. Insgesamt werden inhaltlich elementare Handlungsweisen und Unternehmungen der Menschen thematisiert, wie Hochzeiten, Intrigen und jede Art von zwischenmenschlichen Konflikten.
Zudem kommen im Märchen zahlreiche Handlungen übernatürlicher Art zur Sprache, durch die die Situationen verändert oder sogar in ihr Gegenteil verkehrt werden. Vielfach enthält die Handlung dabei ironische Elemente. Lüthi hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „Konträrironie“ geprägt, durch die sich die Situation nicht als schlechter, sondern besser erweist, als es zunächst scheint. Insgesamt ist die Isolation ein entscheidendes Merkmal, das sowohl bei der Darstellung der Figuren als auch der Handlungslinie verstärkt auftritt (Jesch 2003, S.24).
Dieses Merkmal zeigt sich auch im Personal und Requisitenbestand der Märchen, bei dem überwiegend der Held bzw. die Heldin im Vordergrund steht. Die Hauptträger der Handlung sind zumeist aus der diesseitigen Welt und treten als „statische, zeitlose und isolierte Typen“ (Köppert in: Jesch 2003, S.130) auf, die die zu bewältigende Aufgabe zumeist im Alleingang in Angriff nehmen. Alle Figuren sind charakterisiert durch sehr eindeutige Eigenschaften, die entweder äußerst positiv oder negativ sind, wobei die Hauptfigur auch beide gegenteiligen Eigenschaften nacheinander aufweisen kann. In den Personen zeigen sich die wesentlichen menschlichen Erscheinungen, wobei alle gesellschaftlichen Schichten auftreten können. Sie werden dabei in scharfen Konturen dargestellt, ohne differenziert beschrieben zu werden (Zitzlsperger 1980, S.11). Alle wichtigen Figuren, die neben der Hauptfigur auftreten, stehen intensiv mit dieser im Zusammenhang. Sie können unter anderem als dessen Partner, Gegner oder als Kontrastfigur auftreten und entstammen häufig der außermenschlichen Welt.
Als Requisiten werden überwiegend Dinge genannt, die an die Seite der Hauptfigur treten. Das signifikante Requisit ist dabei stets die Gabe, durch die der Held in die Lage versetzt wird, die jeweilige Aufgabe zu lösen. Viele Dinge werden im Märchen metallisiert oder in „klaren, exponierten“ Farben benannt (Zitzlsperger 1980, S.12), was den geordneten Aufbau unterstützt.
Insgesamt werden weder die Personen noch die Requisiten individuell gekennzeichnet. Wenn überhaupt Namen genannt werden sind diese sehr gewöhnlich, so dass keine Persönlichkeit dargestellt wird. Der Held des Märchens wird damit nicht zu einem bestimmten Typus, sondern zu einer allgemeinen Figur.
Die Darstellungsart der Märchen ist sehr handlungsfreudig. Sie beschränkt sich auf das Wesentliche, so dass Figuren und Requisiten nur kurz benannt werden. Beschreibungen der Umgebung werden eher selten vorgenommen. Die durchgängige Einsträngigkeit erzeugt eine Klarheit der Handlung, welche verstärkt wird durch das Auftreten zahlreicher Verse und Formeln. Neben den formelhaften Anfängen und Schlüssen treten Verse und wiederholte wörtliche Rede auf, die nebenbei auch gliedernd wirken (Zitzlsperger 1980, S.13). Wiederholungen erscheinen insgesamt in vielen Variationen. Die Dreizahl tritt oft in Verbindung mit Steigerungen auf und bestimmt, im Gegensatz zu anderen Zahlen, häufig die Handlung mit. Dabei kann der dritte Ablauf statt durch eine Steigerung auch durch eine Umkehrung oder Wende bestimmt sein. Das Geschehen ist im Wesentlichen von außen herbeigeführt, was sich in zahlreichen Aufgaben, Verboten und Bedingungen zeigt.
Entscheidend ist dabei die sogenannte Flächenhaftigkeit, bei der Eigenschaften durch Handlungen und die Beziehungen durch Gaben ausgedrückt werden. Alles wird sozusagen „auf die gleiche Fläche projiziert“ (Jesch 2003, S.30), in der sich die direkte Handlung abspielt. Das Geschehen im Hintergrund, die Umgebung und andere Personen werden nicht berücksichtigt. Die Bilder des Märchens treten flächenhaft hintereinander auf, die Personen isoliert voneinander. Jede Handlung ist in sich geschlossen und entwickelt sich hauptsächlich aus sich selbst.
Die Darstellungsweise kann insgesamt als abstrakt bezeichnet werden, was sich besonders in der Gestalt der...