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Lesereise Barcelona

Metro zum Strand oder die vermessene Stadt

AutorMarkus Jakob
VerlagPicus
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl132 Seiten
ISBN9783711750525
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Nach einer Epoche, die als eine der glanzvollsten in ihre Geschichte eingehen dürfte, ist die katalanische Hauptstadt heute einmal mehr von Selbstzweifeln zernagt. Während Barcelona in den letzten zehn Jahren annähernd eine Million Immigranten aus aller Welt mit einer in Europa einzigartigen Selbstverständlichkeit aufnahm, begannen ihre Einwohner den Massentourismus zunehmend als zerstörerischen Faktor zu empfinden. Solche Paradoxe, die Mischung aus Vernunft und Wahn, machen zweifellos das eigentliche Wesen Barcelonas aus. Noch immer ist Barcelona Europas Stadt mit den meisten und schönsten Märkten, die nun nach und nach erneuert werden; noch immer ist die katalanische Küche authentisch. Ebenso sind die engen Altstadtgassen wie auch die Prachtstraßen des 19. und 20. Jahrhunderts lebenspralle Schauplätze einer nie abbrechenden Ereignishaftigkeit geblieben. Markus Jakob spürt den urbanistischen und gesellschaftlichen Wandlungen nach, in denen sich die Stadt nach Jahrhunderten der Despotie und des Aufruhrs unter stabilen demokratischen Verhältnissen neu entwickeln und neu verwirklichen konnte.

Markus Jakob, geboren 1954 in Bern, blieb 1984 in Barcelona hängen. Er schrieb Reportagen u.?a. für 'Das Magazin' des 'TagesAnzeigers' und war bis 2008 als spanischer Kulturkorrespondent für die 'Neue Zürcher Zeitung' tätig. Daneben übersetzte er Bücher - von Simenon bis Valéry - und hielt sich zwischenzeitlich in anderen Lieblingsstädten wie Paris, Buenos Aires, New York, Tokio und Amsterdam auf. Im Picus Verlag erschien seine Lesereise Barcelona.

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Leseprobe
Im Namen der Trümmer (S. 87-88)

Eine Debatte um spätmittelalterliche Ausgrabungen in Barcelona


Der Stadt Barcelona lässt sich schwerlich ein pingeliger Umgang mit ihrem Bauerbe nachsagen. So weit geht die Selbstgewissheit der Planer (und der Spekulanten), dass der Sanierung verschiedener Altstadtteile ganze mittelalterliche Gassenstrukturen geopfert wurden, ohne dass sich, außer in den betroffenen Vierteln, Opposition dagegen regte. Umso grotesker mutete die breite Front jener an, die die vollständige Erhaltung von Mauerresten aus dem 14. bis 17. Jahrhundert forderten, auf die man beim Umbau der Markthalle El Born gestoßen war. Kaum hatte man es nur mehr mit Relikten zu tun, nicht mit der sehr lebendigen und sehr wirklichen Altstadt, schlug die Selbstgewissheit um – in Selbstvergewisserung.

Dreißig Jahre lang war der Born leergestanden. Als die großartige Eisenkonstruktion, ein 1876 vollendeter Bau des Gaudí-Lehrers Fontseré, 1971 als städtischer Zentralmarkt ausgedient hatte, blieb sie – im Gegensatz zu Les Halles in Paris – dank einer Kampagne der Anwohner vor dem Abriss bewahrt und wurde wenig später sogar renoviert. Über eine neue Verwendung wurden sich die Behörden jedoch erst 1997 einig: El Born sollte zu einer vom Madrider Kulturministerium finanzierten Bibliothek umgebaut werden. Um ein Untergeschoss einzuziehen, erhielten die schlanken Eisenstützen neue Fundamente.

Doch bei den Aushubarbeiten trat eine ältere Geschichte zutage, gleichsam die Vorvergangenheit des Quartiers, und es entbrannte die hitzigste städtische Debatte seit Jahren. Denn was da unter den achttausend Quadratmetern des lichten Hallendachs ausgegraben wurde, waren die Überreste jenes Stadtteils, den Spaniens erster bourbonischer Herrscher, Philipp V., nach seinem Sieg im Spanischen Erbfolgekrieg zerstören ließ. Katalonien hatte sich damals auf die Seite des habsburgischen Thronanwärters geschlagen. In Erinnerung an die heroische Niederlage wurde dieses Datum, ausgerechnet, später zum katalanischen Nationalfeiertag bestimmt.

Philipp V. ließ, um das rebellische Barcelona unter Kontrolle zu halten, eine Festung errichten, deren Glacis das fragliche Viertel zu weichen hatte: an die tausend Häuser, die von den Bewohnern teils eigenhändig abgerissen werden mussten – ein Urbanizid der grausamsten Sorte. Die Zitadelle blieb, bis sie ihrerseits 1869 beseitigt werden konnte, ein Sinnbild der bourbonischen Despotie. Die Debatte um die Reste jenes Viertels und ihre Bedeutung brachte freilich auch einige Mythen des katalanischen Nationalismus ins Wanken. Denn anders als es katalanische Schulbücher heute predigen, nahm der Niedergang Barcelonas hier nicht seinen Anfang, sondern eher sein Ende.
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