Kapitän Bachs schwimmendes Wohnzimmer
Eine Fahrt auf dem Frachtschiff
Einen seiner besten Freunde sieht Rolf Bach durchschnittlich alle zwei Wochen, wenn die Herren im Laufe einer Minute aneinander vorbeifahren, sich freundlich zuwinken und der Freund ihm anschließend per Funk einen schlüpfrigen Witz erzählt, wobei Bach kurz und trocken lachen muss. Wenn der Freund vorbeigefahren ist, hat Bach die bleiche Nebelsuppe vor seinen großen Fenstern wieder für sich allein. Freundschaften pflegen gehört zu den schwierigeren Dingen in seinem Leben. Bach erinnert sich an den Oktobertag, als er eben jenen Freund länger als eine Minute sah. Man verbrachte einen Tag in Regensburg, aß Schweinshaxe und Knödel in einem Festzelt, das Wetter war ungewöhnlich warm. Es wird wohl noch ein wenig dauern, bis die Freunde auf dem Festland wieder aufeinandertreffen.
Sein Frachtschiff hat der groß gewachsene fünfzigjährige Deutsche »El Niño« genannt. Hier wohnt und arbeitet er, schippert die meiste Zeit des Jahres über Rhein, Main und Donau, voll beladen mit Transportgütern aller Art. »Auf dem Schiff hat man Zeit«, sagt er, »das ist Fluch und Segen zugleich.« Obwohl Bach und seine Berufsgenossen Millionen Tonnen Güter jährlich quer durch Europa befördern, ist es nicht die Binnenschifffahrt, die einem beim Wort Gütertransport in den Sinn kommt. Gerade die Donau ist ein bedeutsamer Transportweg: Sie verbindet zehn Länder – so viele wie kein anderer Fluss auf der Welt. Auf dem deutschen Abschnitt wurden im Jahr 2012 insgesamt über sechs Millionen Tonnen Güter – etwa Eisen, Stahl, Düngemittel, Autos – transportiert. Das ist eine Steigerung von 7,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Binnenschifffahrt erholt sich langsam, denn die Wirtschaftskrise ist nicht spurlos an den nassen Wegen vorübergegangen. 2011 wurden fast sechzehn Prozent weniger Güter transportiert als im Jahr davor.
Rolf Bach kann ein Lied davon singen. Noch vor fünf Jahren habe er netto doppelt so viel verdient wie heute, auch wenn es laut den neuesten Prognosen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV) wieder aufwärts geht. Bei Bach geht die Rechnung noch auf, erzählt er, aber insgesamt betrachtet befinde sich die Binnenschifffahrt noch in einer Schieflage.
Bachs warmes Steuerhaus ist auch sein Wohnzimmer. Von hier aus steuert er El Niños hundertfünfundachtzig Meter Länge und zehneinhalb Meter Breite. Zu allen Seiten sind die Wände verglast, ein weicher Teppich – Besucher ziehen vor dem Eintreten die Schuhe aus –, eine Eckbank, eine kleine Holztreppe führt in die Schlafräume und Küche im unteren Stockwerk. An diesem Tag ist Bach kurz nach Sonnenaufgang von Regensburg, wo er über Nacht angelegt hatte, aufgebrochen. Während der Fahrt hält seine Frau die Fenster geschlossen, sonst fliegen die rostroten Partikel quer durch die Küche. Diesmal transportiert Bach Eisenerz. Es wurde in Brasilien abgebaut, per Schiff nach Rotterdam gebracht, wo Bach mit seinem frisch geschrubbten El Niño schon gewartet hat. Mit der Ladung ist er den Rhein hinunter zum Main-Donau-Kanal – und fährt nun auf der Donau Richtung Linz, wo er das Eisenerz für die voestalpine abladen wird. Insgesamt zwei Wochen wird er dafür unterwegs gewesen sein.
Ein Drittel der Ladung hat Bach – sehr unfreiwillig – in Regensburg gelassen. Von Rotterdam bis hierher war alles ein Kinderspiel, aber kurz nach Regensburg kommt Straubing, und dort beginnt das ganze Dilemma. Die Donau ist in Deutschland weitgehend reguliert, bis auf den siebzig Kilometer langen Abschnitt in Bayern zwischen Straubing und Vilshofen. Hatte Bach bisher eine Abladetiefe von durchschnittlich zweieinhalb Metern, sind in diesem Abschnitt bestenfalls ein Meter sechzig möglich. In anderen Worten: Wäre das Schiff voll beladen, würde es am kiesigen Boden entlangschrammen und nebenher die Fische zerquetschen.
Über fünfzig Jahre lang wurde über die Regulierung dieses Abschnitts diskutiert. Bund und Bayern haben verschiedene Ausbaumöglichkeiten angedacht und wieder verworfen, politische Wechsel haben den Verlauf des Prozesses gehemmt, passiert ist jedenfalls nie etwas. Ein Ärgernis für die Schifffahrer. Was er an Zeit und Geld sparen könnte, würde er nicht in Regensburg abladen müssen!, klagt Bach. »Und das sind Kosten, die der Kunde zahlen muss.«
Zur Debatte standen zwei Varianten mit den sperrigen Namen A und C 2,80, wobei manchmal auch die Beibehaltung der Ist-Situation angedacht wurde. Bei der Variante A würde der Flusslauf gleich bleiben, Steinhaufen an den Ufern sollten das Wasser stauen, damit der Fluss in der Mitte tiefer würde. Auch bei der Variante C würde der Flusslauf weitgehend bestehen bleiben, dafür könnten die Schiffe an anderer Stelle einen künstlichen, noch tieferen Übergang passieren. In diesem Fall würde eine mehrere Meter hohe Dichtwand im Wasser die natürlichen und für die Aulandschaft nötigen Überschwemmungen verhindern. Hier hat die WSV – Wasser- und Schifffahrtsverwaltung – stets auf den volkswirtschaftlichen Nutzen hingewiesen: Werden derzeit sechs Millionen Tonnen pro Jahr über die Main-Donau-Wasserstraße transportiert, könnte das Volumen auf zwölf bis dreizehn Millionen Tonnen erhöht werden, rechnet WSV-Präsident Detlef Aster vor. Jedenfalls wurden beide Möglichkeiten evaluiert, ehe die Politik im Frühjahr 2013 entschieden hat: Es wird einen Ausbau geben, allerdings nach der umweltfreundlicheren Variante A. Damit hat die in Bayern regierende CSU auf die zahlreichen Bürgerproteste reagiert, auch wenn sich Naturschützer bisweilen nicht sicher sind, ob dieser Beschluss endgültig ist. Der Nachfolger von Ministerpräsident Horst Seehofer kann diese Entscheidung wieder aufheben.
Der Ausbau nach Variante A ist eine Entscheidung, die für Georg Kestel gleichzeitig besser und schlechter sein könnte. Der hagere Landschaftsarchitekt mit den runden Brillengläsern schließt seine wetterfeste Jacke. Er steht an der diesigen Donau nahe des Örtchens Mühlham, wo der grauschlammige Fluss eine Schleife macht. Der steinige Boden ist an manchen Stellen rutschig, es ist kurz vor der Abenddämmerung. Niemand ist zu sehen. Jahrelang hat Kestel gegen eine Regulierung dieses Abschnittes gekämpft, gemeinsam mit anderen Naturschützern, Vogelschützern, Anrainern, die Liste ist lang. Sie alle wollten verhindern, dass die Auenlandschaft in diesem Abschnitt zerstört wird: Über fünfzig Fischarten sind hier heimisch, erzählt Kestel, viele davon sind endemisch, leben also nur hier, der Moorfrosch und die Wechselkröte sind überhaupt vom Aussterben bedroht. Sechsunddreißig Vogelarten wurden hier gezählt, zweihundert Pflanzenarten können nur in der Auenlandschaft leben, die Liste ist ebenfalls lang. Der Ausbau nach der Variante C 2,80 hätte den Naturhaushalt empfindlich getroffen. Zuletzt, sagt Kestel, sei der Naturschutz zu einem politischen Spielball verkommen: Die eine Partei war für diese Variante, die andere für eine weitere Variante, auch der Bund war für eine Variante und bis vor Kurzem konnten sich die Entscheidungsträger nie einig werden.
Ein Schiff pro Stunde wäre Kestels Einschätzung nach verkraftbar für die Natur: »Wir wollen die Schifffahrt hier nicht komplett rausschmeißen.« Bisweilen seien die Schifffahrer selbst an ihn herangetreten und hätten ihn gedrängt, nicht lockerzulassen. Denn bei einem großflächigen Ausbau wären erst recht die großen Haie gekommen, die Haie der Schifffahrt versteht sich, und die kleinen Schiffer hätten eine ganze Armee von Konkurrenten bekommen. Zusätzlich zu den Schäden, die der bayerische Amazonas, wie die Naturschützer ihre Gegend hier auch nennen, davongetragen hätte.
Die Baumkronen sind kaum mehr vom Himmel zu unterscheiden, der Abend ist schnell hereingebrochen. Genau dort, wo Kestel steht und sich kämpferisch zeigt, surrt am nächsten Tag mit weniger als zehn Stundenkilometern El Niño vorbei. Einen Arbeitstag braucht Bach, um die ganze unregulierte Strecke zu schaffen. Der Name eines Ortes, an dem Bach vorbeigefahren ist, ist hier Programm: Einöd. Nur Kirchtürme lockern manchmal das Baumpanorama auf. Auf dem Rhein ist eindeutig mehr los, sagt er. Bach hat – bis auf die schulpflichtigen Jahre – sein Leben auf dem Schiff verbracht. Sein Großvater und sein Vater haben bereits auf Gewässern gearbeitet, ein Schiff konnte Bach schon mit neun Jahren steuern. Es ist ein sehr unkonventionelles Arbeitsleben, sagt der Kapitän über seinen Alltag. Wobei: Das Schiff bestimmt alles. Ausgehen, Stadtbummel, Einkaufen – das passiert nur dann, wenn es der Betrieb zulässt. Wenn er zum Spaß irgendwo anlegt, sagt Bach, dann koste ihn das »echtes Geld«. Aber selbst in diesem Lebensfluss ist Platz für Routine, nicht nur im Bauch des Schiffes: Bach und seine thailändische Frau kennen wohl die meisten Thai-Shops entlang der Donau, sie haben Lieblingsrestaurants in vielen Städten am Fluss, selten aber doch verabreden sie sich dort mit anderen Paaren, die ihre Wohnzimmer ebenfalls auf der Donau haben.
Bei Wahlen gibt Bach seine Stimme per Briefwahl ab, Arzttermine sind da schon schwieriger. Die Urlaube verbringen er und seine Frau in Thailand. »Als Frau auf dem Schiff können Sie nur das Leben des Mannes mitmachen«, sagt Bach, »die Frau muss auch die Schifffahrt lieben. Sonst ist die Ehe kaputt.« Seine Frau nickt zustimmend. Sie hat unten in der Küche, wo ein großes Bild des thailändischen Königspaares hängt, Zitronengrassuppe gekocht, nun sitzt sie im Steuerhaus und sieht fern. Auf dem thailändischen Sender kreischt gerade der Moderator im Superman-T-Shirt aufgeregt ins Mikrofon. Dann deckt Bachs Frau den Tisch und holt den Topf mit der dampfenden Suppe. Auch der Kapitän verlässt...