Mein Strand und ich
Palheiros da Tocha im Winter: Vor der Haustür nichts als Strand und Meer
So ein Haus muss nicht hundert sein, um alt auszusehen. Es reicht weniger als die Hälfte an Zeit. Schließlich führt es mit jedem seiner Balken, jeder Faser des Holzes, jedem Dachziegel und jedem Pinselstrich Farbe einen permanenten Kampf gegen den Wind, das Wasser, den Sand und das Salz. Hundertfünfzig Meter sind es bis zu den Wellen, dazwischen ist Sand. Und eine schmale Straße. Sonst nichts. Nach über fünftausend Kilometern kommt geradeaus Amerika. Im Weg liegt nichts. Wenn der Wind Anlauf nimmt, vom Ozean kommt und an etwas zerren will, dann packt er sich zuerst dieses Haus und rüttelt es durch. Es ist, als schöbe er es zusammen und zöge es wieder auseinander. Solche Töne macht es bei Sturm. Es ist derselbe Sound, den auch die Nachbarhütten fabrizieren.
Fischer haben sie gebaut – als einfache Quartiere zwischen den Fangfahrten. Als Übernachtungsplatz, wenn die Zeit nicht reichte, bis nach Hause zu kommen – weiter hinein ins Hinterland, wo ihre Heimatorte waren. So nah am offenen Ozean lebte hier früher keiner. Nicht auf Dauer. Gar nicht im Winter. Heute sind es um die hundertsiebzig Menschen, die ganzjährig in Palheiros da Tocha am Atlantik zu Hause sind. Ein paar Tausend werden es während des Sommers, wenn all die Feriengäste da sind, die Wohnungen und Appartements in den Querstraßen in zweiter, dritter und vierter Reihe beziehen, jedes Bett belegt ist und die Menschen jeden Morgen mit Sonnenschirm und Badematte unterm Arm an den Strand spazieren. Aber im Winter herkommen? Die ganze Praia da Tocha und all den Wind für sich alleine haben? Wenn nur die zwei Tante-Emma-Läden geöffnet sind und manches Regal nur halb voll ist, weil der Laster mit der Ware noch nicht wieder da war? Von nichts abgelenkt werden, Zeit für die eigenen Gedanken haben? In so einem Haus, das nachts quietscht? Massentauglich ist das nicht. Dabei ist es so ein schöner Gedanke: sich einmal auf den Zwang zum Nichtstun einlassen. Loslassen. Wieder wahrzunehmen lernen. Aus der permanenten Reizüberflutung aussteigen, bei stundenlangen Strandspaziergängen den Kopf durchgepustet und die Gedanken neu sortiert bekommen.
Zwischen Lissabon und Porto gibt es mehrfach über Dutzende Kilometer keine Küstenstraße, sondern nur ab und an wenige Querwege von der Hinterlandstraße, die in gerader Linie an den Ozean führen: in winzige Orte, die im Winter fast ausgestorben sind und nicht mal über ein Hotel verfügen. Sechs Kilometer geradeaus durch den Pinienwald führt die Stichstraße vom eigentlichen Tocha, gut viertausend Einwohner stark, nach Palheiros da Tocha. Siebenhundert Meter vorm Ziel gibt es links und rechts Abzweiger in den Pinienwald hinein: meistens Sand, tiefe Schlaglöcher, Reste von Kopfsteinpflaster. Das war einmal so etwas wie die Küstenstraße, als die Menschen noch mit Pferden und Eseln unterwegs waren. Heute ist sie nur etwas für Geländewagen.
Palheiros da Tocha ist ein Mini-Ort mit sensationellem Sandstrand. Fast die ganze Küste hier ist ein einziger sensationeller Sandstrand. Im Süden liegt Lissabon als Endpunkt dieses Strandes nach etwa zweihundertfünfzig Kilometern – von ein paar kleinen Unterbrechungen abgesehen. Im Norden ist es Porto – nach gut hundert Kilometern. Gefühlt ist beides gleich weit weg.
Im Haus riecht es muffig, nach fünf Monaten Leerstand. Und nach dem Salz, das hier überall in der Luft liegt. Auf dem schweren, alten Esstisch liegt ein Rüschendeckchen, an der Wand hängen Ölgemälde, die Kutter auf See zeigen. Die Kaffeemaschine hat ein Etikett, auf dem das Baujahr vermerkt ist: 1962. Sie hat tapfer durchgehalten. In eine Ecke des Hauses ist eine Toilette hineinimprovisiert, direkt daneben die Dusche. Das Schlafzimmer ist kaum größer als das zwanzig Zentimeter zu kurze Bett, auf dem Nachttischchen steht eine schmächtige Lampe, und irgendwer muss kurz zuvor den Linolfußboden frisch gewischt haben. In den Ecken ist es noch feucht.
Ein bisschen ist es, als zöge ich hier in das Leben von jemand anderem ein. Aber soll es nicht genau so sein? Gehört nicht genau das dazu, wenn es darum geht, für ein paar Tage loszulassen, nur den Atlantik vor der Nase, Strandsand unter den Füßen zu haben? Und als Rückzugswinkel dieses Haus mit der Mini-Küche, ein paar Vorräten und einem alten UKW-Kofferradio?
Die ersten Stunden ist es, als störte ich hier. Als käme jeden Moment der alte Mann mit Bart und dicker Strickjacke herein, der eigentlich hierhergehört. Den gibt es aber nicht, er kommt nicht. Und der Besitzer wohnt weit weg in Coimbra. Er hat wie so viele andere seinen Schlüsselbund im Mini-Supermarkt zwei Querstraßen weiter gelassen, und wenn jemand fragt, vermietet die Frau an der Kasse das Haus. Dieses oder ein anderes. Ganz nach Wunsch. Eine Internetpräsenz? Gibt es nicht. Veranstalter, die so etwas vermitteln? Keine Spur. Vorreservieren? So gut wie unmöglich. Das Telefon im Mini-Supermarkt hebt fast nie einer ab. Kommen, fragen, schauen, über den Preis einig werden. So funktioniert das hier. Ein Händedruck, ein kurzer Blick in die Augen, ein bisschen Zeichensprache als Ergänzung zu drei Brocken Portugiesisch. Anders geht es nicht.
Im Winter ist die Auswahl groß, der Schlüsselbund der Supermarktfrau gut bestückt. »Weil keiner fragt«, sagt sie. »Die Fremden sind im Sommer da. Es gibt nichts, was sie hier im Winter wollen.« Sie täuscht sich: Sie könnten den Wind wollen, den ganzen Strand für sich alleine. Die Stille. Falls es sie gibt.
Schon in der ersten Nacht will der Sturm das vielleicht vierzig Quadratmeter große Holzhaus mitnehmen. Er zerrt von allen Seiten daran, rüttelt an den verkeilten Fensterläden. Der Ozean ist es, der den Soundtrack zur Finsternis liefert. Ein einziges großes Rauschen. Es schwillt an, schwillt wieder ab. Mit jedem neuen Schwung Wellen, die er auftürmt und nicht weit von der Verandatür auf den Strand schleudert. Eine Straßenlampe sorgt für ein bisschen Licht und leuchtet am Ende nichts von dem wirklich aus, was dort draußen geschieht. Eher verwandelt sie die schmale Straße mit den Holzhäusern auf der einen und Strand und Ozean gleich auf der anderen Seite in ein Szenario wie aus einem Gemälde von Edward Hopper. Und ich unverhofft mittendrin.
Fast alles übertönt dieses Tosen der Wellen und das Brausen des Windes. Nur nicht die beiden Männer in Kapuzenpullis, die irgendwann gegen drei Uhr morgens vorm Haus auftauchen, die Motoren ihrer am Straßenrand unter der Hopper-Laterne geparkten Autos weiterlaufen lassen, gemeinsam eine rauchen, nicht ahnen können, dass das alte Holzhaus mit der Einfachverglasung ausnahmsweise bewohnt ist. Mit aller Kraft plaudern sie gegen den Sturm an, brüllen sich aus nächster Nähe einen minimalistischen Dialog zu, den der Wind neu sortiert und durch die Fensterritzen ins winzige Schlafzimmer schiebt. Eine Zigarettenlänge später steigen sie wieder ein, fahren weiter, verschwinden mit weißem Mazda und silbernem Opel in der unwirklichen Nacht. Was sie hier gemacht haben? Wahrscheinlich das Einzige, was Menschen im Winter hierherlockt: gar nichts. Absolut nichts. Sie sind völlig grundlos da gewesen. Wie schön, etwas ohne Grund zu tun. Der Wind hat da längst nach den Kippen gegriffen, als könnte er sich vor Gier nicht halten und wollte schnell noch zwei Züge aus den fremden Stängeln heraussaugen, ehe nichts mehr geht.
Im Haus ist es derweil wie auf einem riesigen Schiff, wie in der billigsten Kabine direkt über dem Maschinenraum mit all seinem Krach und seinen Schwingungen. Auch die Hütte zittert im Sturm, als wollte sie ablegen. Als wäre sie auf großer Fahrt sogar. Doch seekrank werden nur meine Ohren, denn mehr Bewegung als diese Vibration gibt es nicht. Alles darüber hinaus ist Illusion. Vom Gehirn gestrickt, weil es so gut passen würde. Weil nach aller Lebenserfahrung normalerweise in Fahrt ist, was so klingt und so zittert. Und während die Illusion noch entsteht, ruft der Verstand dazwischen, dass du an Land bist. In Sicherheit. In einem irgendwie baufälligen Holzhaus, das mindestens ein halbes Jahrhundert alt und eigentlich nur im Sommer bewohnt ist. Im totalen Off Westeuropas. Dort, wo es in Portugal sehr einsam sein kann. Angenehm einsam.
Am nächsten Morgen ist der Strand aufgeräumt, wie neu sortiert. Der Wind war es. Jetzt ist er verschwunden, weitergezogen, randaliert woanders. Die Holztreppe hat er stehen lassen, auch das bis Mitte Mai geschlossene Strandrestaurant mit seiner viel zu modernen Glasfassade duckt sich noch immer in den Schatten der Dünenreihe. Und überall auf dem Weg vorm Haus liegen jetzt kleine Sandverwehungen. Manche von ihnen haben ein Muster wie in der Wüste, das der Wind hineingezeichnet hat. Diese seltsamen Rillen. Zwei Tage wird es dauern, bis ein in Orange und Blau gekleidetes Räumkommando der zuständigen Kreisverwaltung Cantanhede eintreffen und die größeren Verwehungen zusammenfegen und auf der Ladefläche eines Lieferwagens abfahren wird.
Strandangler João kann ein...