Hallstatt
Schattenwelt
Kein Mensch würde sich freiwillig dort ansiedeln, wo heute Hallstatt steht: Es gibt kaum Platz zum Wohnen und keinen Boden für die Landwirtschaft. Die Berge kommen einem unanständig nahe, und während man sich ängstlich nach ihnen umdreht, liegt man auch schon fast im See. Und das Schlimmste: Viele Plätze dieses ungastlichen Fleckens sehen monatelang keine Sonne.
Und doch hat Hallstatt einer ganzen geschichtlichen Epoche ihren Namen gegeben. Denn bereits vor dreitausendzweihundert Jahren kamen unsere Vorfahren auf die Idee, hier Salz in Gruben abzubauen. Der Handel mit dem kostbaren Gut und der daraus resultierende Reichtum brachten eine Kultur zum Blühen, die als Hallstattzeit (8.–5. Jahrhundert vor Christus) bekannt ist und deren Kunst- und Gebrauchsgegenstände eine für das damalige Europa einmalige Perfektion erreichten. »Rom war noch nicht gebaut, als Hallstatt bereits Weltgeltung als Handelspartner hatte«, so Alfred Komarek.
Hallstatt ist heute noch eine eigene Welt und die Hallstätter sind, das sagen sogar sie selbst, eigene Leute. Wenn sich diese Welt von ihrer schönsten Seite zeigt, an ruhigen, sonnigen Tagen im Herbst, dann bekommt sie etwas Überirdisches. Weil das Überirdische mit dem Tod zu tun hat, wirkt Hallstatt vielleicht auf viele Menschen unheimlich. »Oh wie schön«, sagen die Touristen, fotografieren reihum den Hauptplatz und wanken durch die engen Gassen, in denen man sich, so wunderbar wie sonst nur in italienischen Altstädten, vorstellen kann, man lebe in einer anderen Zeit. Die Touristen bewundern die Hallstätter Häuser mit ihren Spalierbäumen und schütteln den Kopf über die Tatsache, dass viele dieser Häuser an der Vorderseite drei Stockwerke haben, in dessen oberstes man auf der Rückseite, am Hang, ebenerdig eintreten kann. Aber immer wieder werfen die Besucher sorgenvolle Blicke auf den schwarzen tiefen See, auf die schroffen Felswände, zum Gräberfeld hinauf, zum mächtigen Dachstein hinüber, der seinen alten Namen Thorstein dem blitzeschleudernden Donnergott verdankt. Und wenn sie dann wieder in ihren Bussen sitzen, die Touristen, den Gosaubach überqueren und bei Goisern merken, dass der Druck der Gebirge langsam nachlässt, dann atmen manche von ihnen ein klein wenig auf.
Hamlet in Hallstatt
In einem Gewölbe auf dem Friedhof neben der katholischen Kirche, im Karner oder Beinhaus, liegen Tausende Schienbeine und Armknochen, fein säuberlich gestapelt wie Weinflaschen in einem Regal. Und in der Mitte, da liegen die Totenschädel, beschriftet und bemalt, mit Eichenlaub und Efeu für die Männer, mit Rosen und Blütenkränzen für die Frauen. In Hallstatt gibt es schon für die Lebenden so wenig Platz, dass man ihn bei den Toten einsparen muss. Und so entstand hier schon vor Jahrhunderten die Sitte, die Toten nach zehn Jahren Friedhofsruhe auszugraben und im Beinhaus aufzuschlichten, um den neuen Toten auch einige Jahre Ruhe in der Erde zu ermöglichen.
Vergänglichkeit – das ist so ein Wort. Wir wissen natürlich, dass wir alle einmal sterben müssen, aber so wirklich glauben tut es ja doch niemand. Wer einen echten Eindruck von Vergänglichkeit bekommen will, der muss sich nur die Totenschädel im Hallstätter Beinhaus ansehen. »Der Schädel hatte einmal eine Zunge und konnte singen …« (Shakespeare, Hamlet, 5. Aufzug, 1. Szene). Der Text auf den Hallstätter Totenköpfen ist einfacher: »Johann Dengler, 1865–1938«, »Fani Egger, 1872–1959«, »Karl Trausner, 1887–1936« – ob Förster, Hausfrau oder »Salinenarb. i. P.«, ob evangelisch oder katholisch, ob arm oder reich, ob gut oder böse – was bleibt, ist ein Schädel, der ausgegraben, abgestaubt, in der Sonne ausgebleicht und dann liebevoll bemalt wird.
Aber gut. Uns Nicht-Hallstättern wird das nicht passieren. Jedenfalls nicht die Sache mit dem Bemalen.
Unter Tag
Wer das Salzbergwerk betritt, der betritt gleichzeitig eine andere Welt. Hier ist man nicht in einem Bergwerk, sondern »unter Tag«. Man sagt dafür nicht mehr »guten Tag«, sondern »Glück auf«. Ich glaube, dass auch das obligatorische Anlegen der Schutzkleidung in erster Linie dazu dient, ein äußeres Zeichen für die beginnende Wandlung zu setzen. Ich wüsste nicht, wo man sich im Bergwerk schmutzig machen sollte. Ich vermute, dass nicht das Gewand der Besucher geschützt werden soll, sondern vielmehr das Bergwerk vor den Besuchern. Keine weltliche, bunte, aufreizende Kleidung soll das Innere des Berges profanieren, keine lauten Schreie dürfen die mächtigen Berggeister zornig stimmen. Die Besucher spüren das. Im Inneren des Berges wird geflüstert. Das wäre eigentlich nicht nötig. Warum schleichen alle durch die endlosen Gänge, warum reden sie nicht, warum raunen sie sich nur von Zeit zu Zeit etwas ins Ohr? Es gibt natürlich auch jene, die genau spüren, dass sie eigentlich still sein sollten und gerade deshalb laut werden, wie ungezogene Kinder in einer Kirche. Aber sie werden von den anderen zurechtgewiesen.
Mit einer Schmalspurbahn geht es in das Innere des Stollens. Dann schreitet man einträchtig hinter dem Bergmann her, der immer wieder Geschichten erzählt, die selten beruhigend sind. Zum Beispiel dass wir uns siebenhundert Meter weit in das Innere des Berges vorgewagt haben, oder dass ganze zweihundert Meter Berg über uns liegen, hoffentlich ruhig. Die Holzrutschen, die auf die verschiedenen Ebenen des Stollens führen, erfreuen nicht nur die Kinder – im Gegensatz zu den eigenartigen, halb humoristischen, halb belehrenden Tonbändern, mit denen man von Zeit zu Zeit traktiert wird und die auch die Kinder als infantil empfinden.
Und so ist man froh, wenn man nach zwei Stunden das Tageslicht wiedersieht. Froh, kein Bergarbeiter – und nicht ewig Tourist sein zu müssen.
Salz auf unseren Straßen
Den Salzstreuer beim Mittagessen nach dem Bergwerksbesuch betrachtet man jedenfalls mit anderen Augen. Vierzig Meter unter dem Schaubergwerk arbeiten die Bergleute noch heute an der Salzgewinnung. Die computergesteuerten Anlagen, über die sie verfügen, machen es auch nicht angenehmer, täglich acht Stunden unter Tag zu verbringen. Unglaubliche fünfundzwanzig Tonnen Salz pro Stunde (!) werden allein aus der Hallstätter Produktion gewonnen – das entspricht der Kapazität eines anständigen Lastwagens. Die Salzvorkommen sind so groß, dass man noch hundertfünfzig Jahre in diesem Tempo weitermachen könnte, ohne den Berg zu gefährden.
Nur ein Zehntel der heutigen Tagesproduktion der Salinen kommt als Speisesalz auf unsere Tische. Der Rest landet als Basisstoff in der chemischen Industrie oder als Mittel gegen Glatteis auf den Straßen. Müsste ein prähistorischer Bergmann, der den Stollen stundenlang mit seinem Bronzepickel bearbeitete, um einen der Tragsäcke aus Tierhaut zu füllen, mitansehen, dass große, blinkende Fahrzeuge über riesige Straßen rollen und dabei schön gleichmäßig Tonnen von Salz ausstreuen: Ich glaube, er würde in der Sekunde dem Wahnsinn verfallen.
Der größte Fortschritt in der Technik der Salzgewinnung passierte im Mittelalter. Damals kamen findige Geister auf die Idee, Wasser in die Grubenschächte einzuleiten, um das Salz aus dem Stein zu lösen. Daraus entstand die Sole. Dieses salzhaltige Wasser wurde in großen Sudpfannen verdampft. Übrig blieb das reine Salz. Nach diesem simplen, aber genialen Prinzip arbeiten die Salinen noch heute, auch wenn keine eisernen Pfannen mehr über dem Holzfeuer glühen, sondern hochmoderne Verdampfer in Verwendung sind.
Dass diese Verdampfer heute im salzlosen Ebensee stehen, ist zwar erstaunlich, aber auch nicht neu – die Saline Ebensee gibt es seit 1607, und zwar dank einer außergewöhnlichen technischen Glanzleistung.
Die erste Pipeline der Welt
Das Holz in der Hallstätter Gegend wurde knapp; mühsam musste es aus anderen Gebieten traunaufwärts geschleppt werden. Das Salz dagegen hatte eine lange, gefährliche Reise über die Stromschnellen der oberen Traun zu absolvieren. In Steeg, am Ausfluss des Hallstätter Sees, kann man heute noch eine 1511 errichtete Konstruktion sehen, mittels derer das Wasser aufgestaut und dann abgelassen wurde, um den Zillen den nötigen Schwung mitzugeben. Doch schon bald lauerte die erste Gefahr: der Wilde Lauffen, eine (heute noch bei Lauffen sichtbare) gefürchtete Stromschnelle, die schon Joseph August Schultes 1809 erzittern ließ: »Ich bin diese Passage selbst herabgefahren; ich habe gezittert, und das werden Sie mir auch verzeihen, wenn Sie hier ein Schiff durchfliegen sehen durch diese grausenvollen Katarrhakten.« Der Wilde Lauffen forderte viele Opfer, zumal vom Kammeramt bevorzugt solche Salzschiffer angestellt wurden, die nicht schwimmen konnten. Das hatte für die Salzherren den Vorteil, dass die Besatzung auch in Gefahr die Zille mit dem wertvollen Gut nicht verlassen...