Typisch wienerisch
Die Bim, ein grantiger Loser und ein raunzerisches »Geeh biiitte …!«
Das Wiener Würstchen heißt hier Frankfurter. Und das Wiener Schnitzel kommt eigentlich aus Mailand. Logisch? Typisch für Wien ist das Unlogische. Wien ist jedenfalls nicht mit der reinen Vernunft zu begreifen. Kant wäre hier verzweifelt. Gegen die Wand gerannt. Oder gegen eine Bim. Aber Kant war ein Preuße und kein Wiener. Hier gab es dafür einen Freud für jedes Leid in der Liebe.
Diese Stadt entzieht sich dem Raster, nicht ganz, aber immer ein bisschen. Immer ein wenig neben der Linie, nie ganz gerade, nie ganz streng. Für alles gibt es eine Ausnahme. Die Bauordnung ist so gefinkelt, dass selbst Architekten verzweifeln. Die Kurzparkzonen sind ein Fleckerlteppich, auch für die »Parkpickerl« gibt es verschiedene Zonen mit unterschiedlichen Beginn- und Endzeiten und erlaubten Stehzeiten und diverse Ausnahmezonen, sodass die Autofahrer immer unsicher sind, ob sie jetzt korrekt bezahlt haben. Die Verwirrung ist System, das die Einnahmen für die Stadt erhöht.
Überall anders ist die laut bimmelnde Bim einfach eine Straßenbahn. Hier kann sie auch eine Tram sein. Tram, wie Tramway, sagen die Älteren – aber bitte ja nicht richtig englisch ausgesprochen! Wien hat ein Tramwaymuseum, aber kein Bimmuseum.
Man ahnt es schon, die Stadt ist kompliziert. Von ihrer Geschichte her, in ihrem Innenleben, in ihrer Struktur. Fremde mögen glauben, die Wiener leben alle als Fiaker, Kellner und Heurigenmusiker. Werkelmann und Wäschermädel sind leider ausgestorben, sonst wäre das Freilichtmuseum perfekt. In der Tat bezieht Wien seine Identität aus der Geschichte. Sie lässt sich als Kaiserstadt hofieren, obwohl der letzte Kaiser schon vor mehr als hundert Jahren verjagt worden ist. An solchen Doppelbödigkeiten ist diese Stadt beileibe nicht arm. Man sagt den Wienern ein großes Herz nach, weich und großzügig ist es, das goldene Wienerherz. Angeblich. Wenn es nicht schon im schwarzen Humor erstickt ist. Das Chanson vom Tauben vergiften im Park von Georg Kreisler hat sich hunderttausendfach verkauft. Gut, man hat Georg Kreisler ja auch nicht gut behandelt in dieser Stadt. Wie so viele andere. Mit jüdischer Herkunft waren die, die fliehen konnten, noch am besten dran. Kreisler, der kein begeisterter Jude war, wie er über sich selbst sagte, überlebte in den USA. Dort hat er sich seine satirische Scharfzüngigkeit bewahrt. Der guate, alte Franz demaskierte die Gutmütigkeit als Gemeinheit. Kreisler gab gerne den Aufmüpfigen. »Du kriegst einen Titel und ein Zertifikat. Dann bist du ein Starker, und fort mit den Schwachen«, sang er, der giftige Anarchist, in Wir sind doch alle, alle Terroristen. Auch das ist das goldene Wienerherz.
Kreisler wurde vorgeworfen, von anderen abgeschrieben zu haben. In Wien verschwimmt leicht, was ein Original ist und was nicht. Wahrscheinlich eine Folge dessen, dass hier so viele ihre DNA-Spuren eingebracht haben. Oft haben Kriege das Wienerische mitgeformt. Die Türken wurden 1683 zwar abgewehrt, aber Kipferln und Kaffee sind seither nicht wegzudenken. Die Franzosen unter Napoleon wollten die Habsburger niederringen, und kurze Zeit residierte Bonaparte sogar im Schloss Schönbrunn. Er hatte Wien besetzt, das war die größte Schmach, aber wer vornehm wirken wollte, ließ seitdem trotzdem französische Brocken in seinen wienerischen Wortschatz einfließen. Da flanierten nasal parlierende Großbürger und Hausmeister auf dem Trottoir und zückten beim Heurigen ihr Portemonnaie. Und dann waren da noch die vielen Volksgruppen, die mehr oder weniger freiwillig und friedlich unter der Krone der Doppelmonarchie zusammenlebten. Und in der Hauptreichsund Residenzstadt ihre Spuren hinterließen. Ungarn, Polen, Ukrainer, Slowenen, Italiener, Kroaten, Serben und Rumänen gehörten zur Monarchie. Die größte Volksgruppe außer den Deutschsprechenden waren die Tschechen.
Das ergab eine Mischkulanz von ungeheurer Buntheit. Ein Schmelztiegel war die Stadt, doch von ungehemmter Offenheit gegenüber den Fremden ist Wien bis heute nicht. Zu viele Ausländer sollen es bitte nicht sein, gibt es doch schon Schulklassen, in denen alle Kinder eine andere Muttersprache haben als Deutsch. Und zu viele Touristen bitte auch nicht. Millionen überschwemmen immerhin Jahr für Jahr das Schloss Schönbrunn, die Hofburg und den Stephansdom. Italiener, Chinesen, Deutsche, Koreaner, Franzosen. Die ganze Welt ist hier gerne zu Gast. Und lässt Geld da. Aber die Wiener sind auch gerne unter sich und genießen ihr Gulasch und die Zwetschkenknödel und denken dabei nicht darüber nach, dass das auch aus dem Ausland gekommen ist. Das Gulyas aus Ungarn und die Knödel aus Böhmen. Die nördlichen Nachbarn haben überhaupt viel in die Kaiserstadt importiert. Dienstmädel und Ziegelarbeiter. Die Ziegelböhm waren die ausgebeuteten Hilfsarbeiter im Bauboom der Gründerzeit, an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. Ohne die von ihnen geformten Ziegel stünden heute viele Prachtbauten an der Ringstraße nicht. Ihre Frauen mussten dazuverdienen und wurden als Dienstboten zum Statussymbol des aufblühenden Bürgertums. Die böhmischen Köchinnen brachten den deftigen Schweinsbraten mit Sauerkraut und Knödel, die Rindsrouladen, gefüllte Paprika, duftende Buchteln und die verlockenden Powideltascherl in die Menükarten ein.
Als das Wiener Telefonbuch noch ein Telefonbuch war, bis zu vier richtig dicke Wälzer, bevor alle mit ihrem Handy nur noch online nach Nummern suchten, da konnte man schwarz auf weiß erkennen, welche Spuren die Tschechen sonst noch im Wiener Völkchen hinterlassen haben. Von Bednarik bis Zapletal wimmelt es von Nachfahren der Zugewanderten von damals, von Busek über Klestil bis Vranitzky haben es Politiker mit tschechischen Namen an die Spitze der Republik gebracht. Zum Glück haben die Österreicher aber immer der lustigen Versuchung widerstanden, die tschechischen Namen in ihrer wörtlichen Übersetzung zu verwenden. Da wäre dann aus Blecha der Floh geworden und aus Cap der Storch, aus Morak der Truthahn, aus Sykora die Meise und aus Wrabetz der Spatz.
Sie alle sind aber sowieso Minderheiten im Vergleich zu den Novaks und den Nowaks. Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gab es mehrere Untersuchungen über die Namen in Wien. Rund vierzig Prozent der Eintragungen im Adressbuch attestierte man tschechischen Ursprung. Eindeutig an der Spitze, fast in den Top-Hundert aller Namen in Österreich, steht Novak. An zweiter Stelle: Nowak. Erst dann kommen Swoboda, Pokorny und Co. Die Novaks allein sind schon fast doppelt so viele wie die Nowaks. Die mit »W« sind also eindeutig die elitäreren. Trotzdem keine Seltenheit, dass sich zwei dieser Spezies über den Weg laufen. Der Autor dieser Zeilen und Reinhard Nowak, der Schauspieler und Kabarettist. Beide mit »W«, aber weder verwandt noch verschwägert. Und beide irgendwie stolz, wenigstens nicht zu der ganz profanen Mehrheit derer mit »V« zu gehören, wenngleich Cissy Kraner ihr berühmtes Lied über den Novak, der sie nicht verkommen lässt, einem mit »V« gewidmet hat.
Der mit »W«, der Schauspieler und Kabarettist, gilt als typischer Vertreter der Wiener Spezies. Keiner kann das raunzerische »Geeh biiitte …!« so schicksalsergeben dehnen wie er. Und doch kann auch er das typisch Wienerische nicht leicht definieren. Ob das daran liegt, dass er eigentlich gebürtiger Münchner ist? Nein, natürlich sei er ein Wiener, ein waschechter, protestiert er. Geprägt wird man dort, wo man aufwächst. Die Oma kommt irgendwo aus dem Böhmischen, woher genau weiß er gar nicht. Der Vater, ein Werkzeugmacher, der ihm das sagen könnte, ist früh gestorben. Der aber wurde schon in Wien geboren. Die Mutter war Burgenländerin, die beiden haben aber bei BMW in München gearbeitet und so ist ihnen dort ungeplantermaßen der Reinhard »passiert«.
Nach seiner Geburt haben die Eltern geheiratet und sind zurück nach Wien. Da ist er zunächst im zweiten Bezirk aufgewachsen, in einer Wohnung mit der Oma, auf Zimmer-Küche-Kabinett, und als er drei war, ist die kleine Familie in den vierzehnten Bezirk gezogen. Heute wohnt er mit seiner Frau und seiner Tochter im Zwanzigsten.
Er muss den Typus, den er zumeist verkörpert, gar nicht besonders studieren und erforschen. Seit dem Kinohit Hinterholz 8 in den neunziger Jahren, und noch viel mehr in den Fernsehserien Kaisermühlen-Blues und erst recht in Die Lottosieger, ist er der, der sein Schicksal bejammert, selbst wenn dieses es gar nicht so schlecht mit ihm gemeint hat. Der Wiener grantelt eben gerne und nörgelt. »Ein Kellner im Kaffeehaus muss granteln, der darf gar nicht gut aufgelegt sein«, sagt Reinhard Nowak. Österreich sei schließlich nicht ohne Grund in einer Umfrage einmal zu einem der unfreundlichsten Länder überhaupt gewählt worden. Ob das nicht einfach nur ein Klischee ist? Natürlich. Und ob er dieses Klischee nicht auch ganz bewusst pflegt? Klar doch, gibt er...