Die erste Nacht
Irgendetwas stimmte nicht. Mein Mann Joe hatte mein Krankenhauszimmer erst vor wenigen Minuten verlassen, und schon erfasste mich eine düstere Vorahnung. Ich würde die Nacht über alleine sein, allein am Vorabend einer der beängstigendsten Herausforderungen meines Lebens. Gedanken an den Tod befielen mich. Gedanken wie diese hatte ich seit Jahren nicht gehabt. Warum drängten sie sich heute derart in den Vordergrund?
Wir schrieben den 18. November 1973. Ich war in die Klinik aufgenommen worden, um mir einen Teil der Gebärmutter herausnehmen zu lassen. Ich war einunddreißig, hatte sieben Kinder zur Welt gebracht und war ansonsten bei guter Gesundheit; so hatte ich mich auf Anraten meines Arztes zu dieser Operation entschlossen. Sowohl mein Mann als auch ich selbst hatten die Operation als etwas Sinnvolles und Notwendiges akzeptiert. Auch an jenem Abend stand ich hinter meinem Entschluss; es war etwas anderes, das mich beunruhigte – ich konnte nicht sagen, was.
In all den Jahren unserer Ehe hatten Joe und ich nur wenige Nächte getrennt voneinander verbracht, und ich versuchte mich mit Gedanken an meine Familie und unsere außerordentlich enge Verbundenheit miteinander abzulenken. Trotz des Trubels, den unsere sechs Kinder (eines war im Babyalter an plötzlichem Kindstod gestorben) zu Hause verbreiteten, gingen wir ungern allein aus. Selbst an unseren »freien Abenden« blieben wir daheim und überließen den Kindern die Gestaltung des Programms. Manchmal sorgten sie sogar für ein Abendessen. Nicht einmal Kerzenlicht, ein knisterndes Kaminfeuer und die passende Musik durften fehlen – vielleicht nicht die Art von Musik, die wir selbst ausgewählt hätten, doch irgendwie stimmte das Ganze für uns. Einmal überraschten sie uns beispielsweise mit einem chinesischen Essen. Es wurde auf dem Couchtisch serviert, und wir mussten auf eigens herbeigeschafften Kissen auf dem Boden Platz nehmen. Sie dimmten das Licht, gaben uns noch einen Gutenachtkuss und verschwanden dann kichernd nach oben. Joe und ich schienen ein Zipfelchen vom Himmel auf Erden gefunden zu haben. Ich dachte, welches Glück ich hatte, einen so liebevollen und einfühlsamen Partner wie Joe gefunden zu haben. Er hatte sich freigenommen, um vor meinem Krankenhausaufenthalt möglichst viel bei mir sein zu können, und wollte auch im Anschluss an meine Entlassung eine Woche daheim bleiben. Gemeinsam mit unseren beiden ältesten Töchtern, die damals gerade fünfzehn und vierzehn Jahre alt waren, schmiedete er bereits Pläne für ein ganz besonders tolles Essen am Erntedanktag.
Die Gefühle der Vorahnung wurden zunehmend bedrückender. Vielleicht lag es an der Dunkelheit des Zimmers, dieser schrecklichen Dunkelheit, die ich als Kind hatte fürchten gelernt. Oder vielleicht rührte dieses Gefühl der Bedrohung von einer Erfahrung her, die ich vor vielen Jahren in einem Krankenhaus gemacht hatte und die ich mir noch immer nicht so ganz erklären konnte.
Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich vier Jahre alt war. Mein Vater sagte immer, zur damaligen Zeit eine Indianerfrau geheiratet zu haben sei wohl das Schlimmste gewesen, was ein weißer Mann habe tun können. Er war blond und von schottisch-irischer Abstammung, und sie war eine Vollblutindianerin vom Stamme der Sioux. Als siebtes von zehn Kindern hatte ich kaum eine Chance, Vater oder Mutter richtig kennenzulernen, bevor sich diese trennten. Meine Mutter kehrte ins Reservat zurück, und mein Vater zog zu seinen Eltern in die Stadt. Damals wurden sechs von uns Kindern in ein katholisches Internat geschickt.
In jenem ersten Winter im Internat bekam ich einen schrecklichen Husten und litt ständig unter Schüttelfrost. Vierzig Mädchen teilten sich einen Schlafsaal, und ich erinnere mich noch daran, wie ich eines Nachts aus meinem Bett kroch und bei meiner Schwester Joyce unter die Decke schlüpfte. So lagen wir nebeneinander und weinten – ich im Fieber und sie aus Angst um mich. Eine der Schwestern entdeckte mich bei ihrem nächtlichen Rundgang und schickte mich in mein eigenes schweißnasses und eiskaltes Bett zurück. Joyce versuchte, der Schwester zu erklären, wie krank ich sei, doch man schenkte ihr keinen Glauben. In der dritten Nacht schließlich wurde ich in ein Krankenhaus eingeliefert.
Der Doktor stellte Keuchhusten und eine schwere Lungenentzündung fest, und er wies die Schwester an, sich mit meinen Eltern in Verbindung zu setzen. Ich erinnere mich daran, wie er ihr sagte, ich würde die Nacht aller Voraussicht nach nicht überleben. Ich lag auf meinem Bett, glühend vor Fieber, und fiel immer wieder in einen unruhigen Schlaf. Einmal fühlte ich, wie Hände meine Stirn berührten, und als ich die Augen aufschlug, sah ich die Schwester, die sich über mich beugte. Sie fuhr mit ihren Fingern durch mein Haar und sagte: »Sie ist doch noch so klein.« Nie werde ich vergessen, wie liebevoll ich ihre Worte empfand. Ich kuschelte mich in meine Decke und fühlte mich warm und wohlig. Ihre Worte gaben mir Frieden, und so schloss ich die Augen und schlief wieder ein.
Als ich das nächste Mal erwachte, hörte ich, wie der Arzt sagte: »Es ist zu spät. Wir haben sie verloren«, und ich fühlte, wie die Bettdecke über meinen Kopf gezogen wurde. Ich war verwirrt. Warum war es zu spät? Ich drehte meinen Kopf und sah mich im Zimmer um. Das erschien mir nicht ungewöhnlich, obwohl doch die Bettdecke über meinem Gesicht lag. Ich sah den Arzt und die Krankenschwester neben meinem Bett stehen. Ich sah mir den Raum an, und er erschien mir heller als zuvor. Das Bett erschien mir riesig, und ich erinnere mich, wie ich dachte: »Ich bin ein kleiner brauner Käfer mitten in einem großen weißen Bett.« Dann verließ der Arzt das Zimmer, und ich spürte eine andere Gegenwärtigkeit im Raum. Plötzlich lag ich nicht mehr auf dem Bett, sondern in jemandes Armen. Ich blickte auf und sah einen Mann mit einem wunderschönen weißen Bart, der mich anschaute. Ich war fasziniert von seinem Bart. Ein leuchtendes Licht schien darin zu funkeln, ein Licht, das aus dem Inneren des Bartes kam. Ich kicherte, fuhr mit den Händen durch den Bart und zwirbelte die Haare um meine Finger. Ich war absolut ruhig und glücklich bei ihm. Er wiegte mich sanft in seinen Armen, und wenn ich auch nicht wusste, wer er war, wollte ich ihn doch nie wieder verlassen.
»Sie atmet wieder!«, rief die Schwester, und der Arzt stürzte zurück ins Zimmer. Doch es war ein anderes Zimmer. Ich war in einen kleineren Raum verlegt worden, in dem es sehr dunkel war. Der Mann mit dem weißen Bart war verschwunden. Ich war schweißgebadet vor Fieber, und ich hatte Angst. Der Arzt schaltete das Licht an, und man schob mein Bett wieder in den ersten Raum zurück.
Als meine Eltern eintrafen, sagte man ihnen, ich wäre um ein Haar verloren gewesen. Ich hörte die Worte, doch ich verstand immer noch nicht. Wie hatte ich verloren gewesen sein können, wo ich doch die ganze Zeit über da gewesen war. Doch es war gut, wieder bei meinen Eltern zu sein, bei Menschen, die mich wirklich kannten und liebten – so wie der Mann mit dem weißen Bart. Ich fragte sie, wer der Mann war und wohin er gegangen sei, doch sie wussten nicht, wovon ich sprach. Ich erzählte ihnen davon, wie der Arzt gesagt hatte, es sei zu spät, wie der Mann mit dem weißen leuchtenden Bart gekommen war und mich in seinen Armen gehalten hatte, doch sie wussten nichts darauf zu sagen. Es sollte ihnen für immer unerklärlich bleiben. Die Erfahrung blieb mir ganz allein vorbehalten, und sie war wie eine Oase der Liebe, die ich während meiner ganzen Kindheit wie ein Kleinod hütete. Die Erinnerung daran blieb stets erhalten, und jedes Mal, wenn ich daran denke, überkommt mich wieder dieses Gefühl der Ruhe und des Glücks, das ich damals in seinen Armen empfunden hatte.
Wie ich jetzt so in meinem Krankenbett lag und Dunkelheit in das Zimmer kroch, versuchte ich, mir ebendiese Erinnerung wieder zu vergegenwärtigen. Seit jenen Tagen, die ich getrennt von meinen Eltern zugebracht hatte, fürchtete ich mich vor der Dunkelheit. Jetzt, da ich wieder allein im Dunkeln lag, überkam mich ein sonderbares Gefühl. Der Tod schien überall rings um mich herumzuwirbeln. Meine Gedanken füllten sich damit, verstrickten sich darin. Tod. Der Tod und Gott. Beide schienen auf ewig miteinander verbunden zu sein. Was erwartete mich auf der anderen Seite? Wenn ich morgen sterben würde, was käme dann wohl auf mich zu? Ewiger Tod? Ewigkeit und ein rachsüchtiger Gott? Ich war mir nicht sicher. Und wie würde Gott wohl sein? Ich hoffte nur, dass er nicht so sei, wie man ihn uns damals im Internat beschrieben hatte.
Ich erinnere mich noch genau an jene erste Schule mit ihren riesigen Backsteinmauern und ihren dunklen, kalten Räumen. Ein Maschendrahtzaun trennte die Schlafsäle der Jungen von denjenigen der Mädchen, und ein weiterer Zaun verlief rings um das Schulgelände. Wir waren von der Welt und voneinander getrennt. Ich erinnere mich noch an den ersten Morgen, an dem meine Brüder in eines der Gebäude und meine Schwestern und ich in ein anderes geführt wurden. Nie vergesse ich die Furcht in ihren Augen, als sie uns einen letzten Blick zuwarfen. Ich dachte, mein Herz würde brechen.
Meine beiden Schwestern und ich wurden in einen kleinen Raum gebracht, wo die Nonnen uns mit irgendeinem chemischen Mittel entlausten und uns die Haare schnitten. Sie gaben uns je zwei Kleider – die eine Farbe wurde in einer Woche, die andere in der nächsten getragen. Diese Uniform diente unter anderem zur Erleichterung des Auffindens entlaufener Zöglinge. Meine älteste Schwester Thelma, von uns Sis genannt, wurde von uns getrennt und in einen anderen Raum für ältere Mädchen einquartiert. In jener ersten...