Kapitel 1
Verhungert im Schlaraffenland
Es gibt Schönheiten, die sind zeitlos. Die verbinden Kraft mit Eleganz, Provokation mit Versprechen. Männer mögen diesen Mix. Dann schwärmen sie, dann begehren sie. Für eine kurze Sequenz geben sie sich ihren Emotionen hin, bevor die Ratio nach den Daten fragt: 300 PS, zwölf Zylinder,1,8 Tonnen, ein Motorengeräusch wie Musik in den Ohren. Wunderbar. Bei mir war es Liebe auf den ersten Blick zu einem Götterauto: dem Powercoupé 850i. Damals erfand BMW das Fahren neu, baute eine Sehnsucht aus Stahl und Glas mit Technologie vom Feinsten. Der Wagen berührte Männer, Männer wie mich.
Vor rund 25 Jahren schwang ich mich auf den Fahrersitz, tippte auf das Gaspedal und donnerte meiner Freiheit entgegen. Dachte ich. Heute weiß ich: Der Besitz dieses Autos symbolisierte lediglich einen Mangel in mir. Vielleicht regte sich schon damals eine innere Stimme, die mir davon erzählen wollte, aber die leisen Töne waren nicht meine Tonalität. Ich sah gerne auf das, was ich erreicht hatte: eine Kanzlei in bester Hamburger Lage mit Mandanten aus der High Society. Ich war angesagt als Anwalt. Und hatte noch viel vor. Das Auto, so fand ich, passte zu mir, zu meinem Image, das ich pflegte, als erfolgreicher Macher. Die Blicke der anderen waren wie Balsam im Stress. Da traf es sich gut, dass ein Mandant aus dem Filmbusiness mich am Ende eines vertrauensvollen Gespräches fragte: „Ich habe noch ein ganz besonderes Anliegen: Morgen kommt mein Boss aus Hollywood. Ich weiß, er ist Autoliebhaber, schwärmt geradezu für ein Auto wie Ihres. Also … könnte ich mir Ihr Auto für einen Tag ausleihen und den Boss aus L.A. beeindrucken?“ Ich wusste, dass es den Wagen auf dem amerikanischen Markt noch nicht gab – und fühlte mich an meinem Stolz gekitzelt. Ich nickte meinem Mandanten zu – und gab ihm den Schlüssel mit großer Geste. Erfolg ist teilbar, dachte ich, und blickte dem blitzstartenden Hollywoodmann hinterher. Er hatte Staub aufgewirbelt, die Ruhe durchdröhnt, er schoss um die Ecke, als gehöre die Straße ihm. Ein ungutes Gefühl schlich in mir hoch, und meine innere Stimme spottete: „Willst du so wirken?“ Dieses Mal hörte ich hin. Sehr genau, sehr kritisch. Das Ergebnis war der Zweifel.
Brauchte ich eine solche Show? Jubelte ich den Motor ebenso nach oben, damit andere dachten: „Wow, der Typ hat es geschafft!“? Es war, als würde ich zu meinem eigenen Beobachter, und was ich sah, gefiel mir nicht. Ich fragte mich: Was sagt ein Auto über den Menschen aus? Der Fahrer kann ein Mechaniker einer Werkstatt sein, gerade auf einer Testfahrt unterwegs. Er kann ein Luxussöhnchen sein, dessen Mutter das Auto finanzierte. Er kann ein Mensch sein, der sein letztes Geld zusammenkratzt, nur um die Leasingraten zu bezahlen. Alles ist möglich – im Leben gibt es keine verlässlichen Koordinaten, keine äußerlichen Symbole für Glück. Wer anderes behauptet, der baut eine Fassade auf, um seine Leere zu verdecken. Je teurer, imposanter, höher diese Fassade ist, desto armseliger gestaltet sich der Raum dahinter. Eine traurige Einsicht, fand ich, und hielt das Bild dennoch in mir fest.
Ich hatte es nicht geschafft, auch wenn andere das dachten. Jener innere Raum füllt sich nicht durch 70 Stunden Arbeit in der Woche, nicht durch Aktionismus, Designermöbel im Büro und den BMW vor der Tür. Freunde hatten mich schon viel früher gewarnt, und es gab auch damals bereits meterweise Bücher über den wirklichen Sinn des Lebens. Als nette Lektüre habe ich sie sogar gelesen, aber sie haben mich in der Tiefe meines Bewusstseins nie berührt. Das war plötzlich anders. Denn diese Einsicht war völlig losgelöst von fremden Ratschlägen. Sie krabbelte in mir hoch, vom Bauch durchs Herz in den Verstand, und pochte immerzu: „Ich habe nicht das Leben gelebt, das ich wollte.“ Mir wurde übel – und doch war es eine Sternstunde des Glücks, denn ich startete neu auf einem Weg hin zu mir selbst.
Außen golden, innen hohl
Erfolg und Ansehen sind keine Garantie für Zufriedenheit und Glück im Leben. Das habe ich an jenem Montagmorgen vor über 25 Jahren in einer der schönsten Hamburger Straßen schmerzlich gespürt. Was meine ich damit?
Ich fuhr wie auf Schienen durch mein Leben, dachte, ich müsse einem Fahrplan folgen, den andere entworfen hatten als einen Plan für Erfolg. Er mochte sich millionenfach bewährt haben, mochte für viele Menschen ein Traumziel bieten, für mich war er anstrengend und einengend geworden. Ich wollte raus aus dieser Spur, wollte die Weichen verstellen. Aber wo war der Hebel, um das Tempo zu drosseln? Wo war eine Haltestelle, um auszusteigen, um wieder die Weite im Leben zu erkennen und die Stille zu atmen? Wo war mein vergessener Zukunftsplan? Ich suchte eine andere Art der Freiheit, die kein Coupé, kein Goldschmuck, keine feine Adresse auf der Visitenkarte versprechen kann. Langsam, ganz langsam blubberten meine Ideen aus Kindertagen wieder an die Oberfläche. Ich spazierte ein Stück diese schöne Straße entlang, fand eine Bank und tat etwas, das mir viele Jahre nicht mehr in den Sinn gekommen war: Ich setzte mich. Am helllichten Tag, zur besten Arbeitszeit. Ich streckte die Beine weit von mir, sah in den Himmel und ließ meine Gedanken ziehen wie die Wolken über mir. Welch ein Luxus. Ich begann meine Zukunft umzudenken. Was anfangs nur ein Gedankenspiel war, nahm Konturen an. Ich saß lange auf dieser Bank.
Stellen Sie sich vor, Sie bauen sich Ihre ideale Zukunft auf. Sie sind der Architekt, der über Fassade und Raumgestaltung entscheidet. Sie überlegen sich, wer Sie in 10 oder 20 Jahren sein wollen, wie Sie leben wollen – und malen sich das Bild bunt und detailreich aus. Dann setzen Sie sich, so wie Sie es vermutlich gelernt haben, für die nächsten fünf Jahre Zwischenziele. Die sollen Sie zu diesem idealen Ich führen. Voller Ehrgeiz, Disziplin und Engagement marschieren Sie los. Jeden Tag nähern Sie sich Ihrem Ziel ein wenig mehr: Sie schließen Ausbildung oder Studium zügig ab, gehen zur nächsten Stufe über, schichten Ihre Berufstätigkeit genau so auf, wie es Ihrer Vision entspricht, schließen brav Bausparvertrag, Lebensversicherung und Co. ab – und haben nach einigen Jahren Ihre Ziele erreicht oder sogar übertroffen. Ja, Sie sind dort angekommen, wo Sie ankommen wollten.
Und dann? Das Gefühl der Zufriedenheit stellt sich nicht ein, denn dieses Ziel ist nicht wirklich Ihr Ding. Wenn Sie jetzt einen Moment stehen bleiben, den Blick nach innen richten, dann werden Sie wahrnehmen: Das Erreichte fühlt sich sogar fremd an. Ein erschütterndes Gefühl. Und doch eine Alltäglichkeit.
Stephen Covey, Bestseller-Autor, Unternehmens- und Lebensberater, beschreibt in seinem Buch „7 Wege zur Effektivität“1 dieses Phänomen des Ankommens ohne Gefühl von Glück. Dazu interpretiert er Veröffentlichungen der vergangenen 50 Jahre und stellt fest: „Sie bezogen sich auf die Wahrnehmung des sozialen Images, boten Techniken und Patentlösungen – soziale Pflaster und Aspirin für akute Probleme. Manchmal half dies sogar vorübergehend, aber die grundlegenden, chronischen Wunden schmerzten weiter und brachen immer wieder auf.“ –Eine „Image-Ethik“ also, die uns fortführt von unserem Ich und hin zu den Diktaten anderer. Er wäre nicht Covey gewesen, hätte er hier den Schlusspunkt gesetzt. Als Professor für Business-Management wollte er den wahren Grund für Glück und Erfolg erforschen. Er nahm sich ältere Texte vor, verglich Charakterstudien, die vor mehr als 150 Jahren erschienen waren. Und was er las erinnerte an Tugenden, die wir heute unter ihrem Staub kaum noch sehen – und doch liegt darunter der Schlüssel zum spürbaren Glück. Es war, so Covey, „die Charakter-Ethik als Voraussetzung für Erfolg; sie basiert auf charakterlichen Eigenschaften wie etwa Integrität, Demut, Treue, Mäßigung, Mut, Gerechtigkeit, Geduld, Fleiß, Einfachheit und Bescheidenheit.“ (ebd. 2013, S. 27)
Wie oft tappen wir in die Falle der „Image-Ethik“, anstatt die Persönlichkeit strahlen zu lassen. Wie oft verbiegen wir uns, um anderen zu gefallen, weil wir dieses Muster verinnerlicht haben? Image aber ist ein Lack, unter dem das innere, das wahre Glück erstickt. Auch ich bin nur einer Idee hinterhergelaufen, die wie Erfolg aussah, und baute eine Fassade, die eigentlich nichts mit mir selbst zu tun hatte. Ich hatte mich verloren über die Jahre. Das schmerzte.
Auf dieser Bank in Hamburg überklebte ich den Schmerz nicht mit einem Pflaster. Ich ließ ihn zu, indem ich meine Gedanken genau darauf fokussierte und der inneren Stimme endlich wieder zuhörte: Ich hatte meinen Ehrgeiz, mein Talent und meine Fähigkeiten investiert, um etwas aus mir zu machen –war stattdessen aber wie zersplittert: außen der erfolgreiche Unternehmer, innen mehr ein kleines, hilfloses Kind. Das war der Moment, in dem ich...