Am Anfang war Dschinghis Khan
»Dein Traumprinz wird als Dschingis Khan mit wehenden Haaren durch die Tundra geritten kommen, schwingt dich auf sein Pferd, und dann lebt ihr glücklich und zufrieden in seiner Jurte!« Zusammen mit meinen Kommilitonen saß ich im Kreml, unserer Lieblingsbar in der nordfranzösischen Stadt Lille, wo wir Politikwissenschaft studierten. Sie hatten mir mein bevorstehendes Praktikum in Osteuropa irgendwie realitätsfern ausgemalt. Demokratie will ich nach Belarus und vorher auch noch in die Ukraine bringen, nicht einen Kosaken ehelichen!
Bei der Erinnerung an dieses Treffen lache ich leise in mich hinein. Dann greife ich nach meinem riesigen Koffer, sammle noch meine sonstigen Habseligkeiten zusammen und klettere verschlafen aus dem Nachtzug, der mich von Kiew in die belarussische Hauptstadt Minsk gebracht hat.
Was habe ich für eine Angst ausgestanden in dieser letzten Nacht, denn oft genug hatte ich zu hören bekommen, dass es nicht so einfach wäre, nach Belarus einzureisen. Ständig kreisten meine Gedanken um immer dieselben Fragen: Waren meine Papiere in Ordnung? Hatte ich die Einreisebestimmungen richtig verstanden? Ich war mir mehr als unsicher gewesen. Und dann waren sie da, die belarussischen Grenzbeamten. Sie trugen riesige Mützen, die zusammen mit ihren bitterernsten Mienen ihre Wirkung nicht verfehlten: Sie schüchterten mich und andere arglose Reisende ein. Doch dann war alle Aufregung umsonst gewesen, alles war in Ordnung, alles klappte reibungslos.
Jetzt bin ich in Belarus!
Eine Tatsache, um die mich kaum einer aus der Delegation der Europäischen Kommission in der Ukraine, wo ich den ersten Teil meines Praktikums absolvierte, beneidet. Eine EU-Delegation ist übrigens eine Art Botschaft, in der Diplomaten aus allen EU-Mitgliedsstaaten zusammenarbeiten. Die erfahrenen Kollegen verspotteten mich milde. Ich habe noch ihre Worte im Ohr: »Ach, du bist die, die nach Minsk muss? Du Arme! Na, viel Spaß. Wir sind immer froh, wenn wir da nicht hinmüssen.« So der Tenor ihrer mitfühlenden Bemerkungen. Für mich hatten sie dennoch vielversprechend geklungen, in welcher Hinsicht auch immer.
Alfredo, ein wohlmeinender älterer Diplomat aus Italien, gab mir sogar den Rat, mich nicht zu verlieben: »Das ist die Masche des KGB! Attenzione! Die schicken dir einen gut aussehenden jungen Mann, du verliebst dich, und schwupps, schon spioniert er dich aus!«
Immerhin war nicht von spionierenden Kosaken, die mich in ihre Jurte entführen wollten, die Rede gewesen.
Ich hatte über Alfredos Worte nur lachen können. Bitte, als ob ich mich in einen Belarussen verlieben könnte … Undenkbar! Mein Plan war, das Praktikum zu absolvieren, einen Franzosen zu heiraten, zweisprachige Kinder großzuziehen und dann Weltpräsidentin zu werden. Darum hatte ich schließlich in Frankreich studiert! Und ein Franzose war für mich der Inbegriff eines stilvollen Lebens, eben mit süßen kleinen Kindern, die fließend in der schönsten Sprache der Welt parlieren würden. Mit einundzwanzig darf man noch Träume haben.
Egal. Zwei Wochen lang hatte man mich in Kiew auf Minsk vorbereitet. Ich hatte die Verantwortlichen für Belarus kennengelernt, die aufgrund der angespannten politischen Lage oft in Kiew arbeiteten und nicht in der belarussischen Hauptstadt. Ich hatte Konferenzen zur politischen Lage in der Ukraine und in Belarus besucht und mich in die europäische Nachbarschaftspolitik eingearbeitet.
Alfredo hatte mich bei einem Mittagessen in einem Lokal auf dem Taras-Schewtschenko-Boulevard über die Geschichte von Belarus informiert. Während wir unter Linden und Kastanienbäumen saßen, die Schutz vor der sengenden Julisonne spendeten, bekam ich einen Schnellkurs.
»Belarus, so muss man wissen«, dozierte Alfredo, »ist als Nationalstaat noch nicht sehr erprobt. Gewachsen aus dem Großfürstentum Litauen, wo das Altbelarussische Staatssprache war, hat es nur eine begrenzte Tradition als eigenständiger Staat. Als Teil des Russischen Reichs wurde es 1917 nach dem Sonderfrieden von Brest-Litowsk kurzzeitig als Belarussische Volksrepublik unabhängig. Der junge Staat konnte sich jedoch nicht etablieren, denn die Bolschewiken hatten ihrerseits in Smolensk eine Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik ausgerufen, die 1922 die Sowjetunion mitbegründete. Dann begann das neue Sowjetreich zu expandieren, und die Republik Belarus wurde der UdSSR als Belarussische Sowjetische Sozialistische Republik einverleibt, kurz BSSR.«
Alfredo nahm ein Taschentuch aus dem Sakko, das er über seinem gestärkten weißen Hemd trug – er war stets korrekt gekleidet, auch bei 35 Grad Celsius im Schatten. »Himmel, ist das warm heute«, beschwerte er sich. »Hätten wir uns lieber nicht auf die Terrasse gesetzt, drinnen im Restaurant gibt es wenigstens eine Klimaanlage!«
Einem Italiener war es zu heiß! Dieses Praktikum half mir auch dabei, mit nationalen Stereotypen aufzuräumen.
»Ich bin Historiker, musst du wissen. Wenn es dir zu langweilig wird, sag Bescheid, dann versuche ich, mich knapp zu fassen.« Bei diesem Scherz musste er selbst lachen. Alfredo fasste sich nie kurz, schon gar nicht, wenn es um osteuropäische Geschichte der Neuzeit, sein Steckenpferd, ging. Die Kollegen in der Delegation hatten mich gewarnt, bevor wir zu diesem Arbeitsessen aufgebrochen waren.
»Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, 1922. Der westliche Teil des heutigen belarussischen Territoriums ist nach dem Rigaer Frieden ein Jahr zuvor, also 1921, dem Polen der Zwischenkriegszeit zugefallen. Nach Jahren einer hoffnungsvollen Entwicklung der jungen BSSR unter Wladimir Iljitsch Lenin fingen Kollektivierung und Repressionen an. In den Dreißigerjahren begann dann – wie in allen Teilrepubliken der UdSSR – ein Prozess der Sowjetisierung und Russifizierung unter Josef Stalin, der zur Folge hatte, dass das belarussische Nationalgefühl im Keim erstickt wurde. Als der Zweite Weltkrieg vorbei war, wurde Belarus als Mitgliedsstaat der Sowjetunion sogar Gründerstaat der UNO. Auf diese Weise dankte man dem belarussischen Volk für seine Heldentaten während des Kriegs, dem jeder dritte Belarusse zum Opfer fiel.«
An dieser Stelle wurde Alfredos Redefluss von einem Kellner unterbrochen, der uns unsere Soljanka brachte. In Kiew isst man gern Soljanka, obwohl die typisch ukrainische Suppe eigentlich Borschtsch ist. Aber Borschtsch, gekocht mit Roter Bete, ist eher eine Wintersuppe.
Während wir die köstliche Suppe löffelten, die mit Zitronen und Oliven sehr sommerlich schmeckte, konnte ich das Gehörte ein bisschen sacken lassen. Jeder dritte Belarusse war im Krieg umgekommen? Wie würde man dann mich als Deutsche dort empfangen? Weiter wollte ich mir das aber nicht ausmalen, besser, ich ließ es auf mich zukommen.
Nach dem Mittagessen zahlten wir und begaben uns zu Fuß zurück zur Delegation. Unterwegs setzte Alfredo seinen Vortrag fort: »Bis Ende der Achtzigerjahre genoss die BSSR ein hohes Ansehen innerhalb der Sowjetunion und verspürte keinerlei Wunsch, selbstständig zu werden. Auf dementsprechend wenig Enthusiasmus stießen denn auch die Auflösung der Sowjetunion und die damit notwendig gewordene Unabhängigkeitserklärung im Sommer 1991.«
Mein »Lehrer« holte Luft, aber nur, um gleich darauf sein Wissen weiter auszubreiten: »Als eine der letzten Sowjetrepubliken wurde Belarus unabhängig und erlebte in den folgenden Jahren eine zweite Blüte als eigenständiger Staat. In Schulen wurde in belarussischer Sprache unterrichtet, im Land fing ein Demokratisierungsprozess an, und es versuchte, sich der Europäischen Gemeinschaft anzunähern. Dann wählte man 1995 jedoch Alexander Lukaschenko zum Präsidenten, und das Land wurde unter ihm zu einem russischen Satellitenstaat mit autoritärem Herrscher an der Spitze. Wie sich in den meisten Nachfolgestaaten der Sowjetunion zeigen sollte, war der Übergang zur Demokratie kein leichter. Das sieht man ja auch hier in der Ukraine, die Orangene Revolution und die Regierung unter Leonid Kutschma haben gezeigt, dass der Demokratisierungsprozess noch lange nicht abgeschlossen ist.«
Recht hat Alfredo, dachte ich. Während des Mittagessens und des kurzen Spaziergangs hatte ich mehr gelernt als in einem Uniseminar zur ukrainischen Außenpolitik.
Nach den zwei Vorbereitungswochen hatte mich meine Praktikumsleiterin mit Tickets für den Nachtzug ausgestattet und Richtung Minsk geschickt. Nicht nur wegen der Grenzbeamten war es eine denkwürdige Nacht gewesen, denn noch nie war ich länger als von Essen nach München in einem Zug unterwegs gewesen. Und jetzt sollte ich gleich eine ganze Nacht auf Gleisen zubringen. Ich durfte erster Klasse reisen, zum Glück, es wäre mir unangenehm gewesen, mit drei Menschen, die ich gar nicht kannte, so viele Stunden ein Abteil zu teilen. Eigentlich war das schon mit einem einzigen Fremden seltsam. Die erste Klasse hatte aber zwei mehr oder weniger gemütliche Betten gehabt und Blümchengardinen. Eine redselige Mitreisende nahm mich unter ihre Fittiche.
Als ich ins Abteil trat, saß dort eine Dame Mitte fünfzig, die sich bereits in ihr Reiseoutfit geschmissen hatte: einen pinkfarbenen Hausanzug aus Frottee. »Guten Tag, djewuschka!«, begrüßte sie mich überschwänglich. Djewuschka war das russische Wort für »Mädchen« oder auch »Fräulein«. »Warten Sie, ich helfe Ihnen mit dem Koffer … Der ist aber groß! Was haben Sie denn nur vor?«
Ich erzählte, dass ich zum Studieren nach Minsk wolle. Alfredo hatte mich geimpft, bloß niemandem auf die Nase zu binden, dass ich in der belarussischen Hauptstadt bei der Europäischen Kommission tätig sein würde. Bloß dem KGB nicht in...