1. Wieso leise?!
Jonas studiert Ingenieurwissenschaften an einer Technischen Hochschule mit einem sehr guten Ruf. Er hat zwei Freunde, mit denen er sich gern trifft – etwa, um ins Kino zu gehen oder Sport zu treiben. Auch im Web 2.0 ist er aktiv und hält über Facebook und Twitter Kontakt zu Schulfreunden und Bekannten aus diversen Praktika. Gerade ist er Praktikant bei einem der bekanntesten deutschen Automobilhersteller. In Sachen Liebe und Romanze ist Jonas weniger erfolgreich: An der Hochschule ist der Frauenanteil niedrig, und Jonas geht so gut wie nie zu Partys oder Konzerten – die Lautstärke und die Menschenmengen findet er schlicht anstrengend. Inzwischen überlegt er, ob er über eine Dating-Website Kontakt zu passenden Frauen suchen soll.
Im Studium kommt Jonas gut voran; er hat bis jetzt alle Scheine bestanden und bereitet sich systematisch auf Klausuren vor. Unangenehm sind ihm Referate vor großen Seminargruppen – und vor mündlichen Prüfungen graut ihm. In seiner Freizeit läuft Jonas gern. Manchmal findet er beim Joggen Ideen für sein zweites Hobby: Er fotografiert Motive, in denen sich Landschaft und Technik zu etwas Neuem verbinden, z. B. Brücken und Industriegebäude.
Was, bitte, ist ein leiser Mensch?
Menschen lassen sich in extrovertierte und introvertierte Persönlichkeiten unterteilen. Fast jeder kann sich unter diesen Begriffen etwas vorstellen und verbindet bestimmte Eigenschaften mit ihnen. Beim genaueren Hinsehen – sei es ins wirkliche Leben oder in die Literatur – wird die Abgrenzung von extrovertiert und introvertiert schnell unscharf. Denn es gibt bei den Erscheinungsformen und in der Bestimmung der Intro- bzw. Extroversion große Bewegungsspielräume.
Die Eigenschaft ist erstens persönlichkeitsabhängig. Wir werden mit einer Tendenz zu Intro- oder Extroversion geboren – und damit auch mit bestimmten Merkmalen und Bedürfnissen, die uns prägen. Schon bei Kindern treten Intro- und Extro-Eigenschaften deutlich zutage. Die Begriffe lassen sich klarer verstehen, wenn man sie nicht als Gegensätze sieht, sondern als äußerste Punkte eines Kontinuums. Jeder Mensch verfügt sowohl über introvertierte als auch extrovertierte Eigenschaften. Und jeder wird außerdem mit einem Bewegungsspielraum geboren, einer Art Komfortzone auf dem Intro-Extro-Kontinuum, in deren Rahmen er sich wohlfühlt. Die meisten Menschen befinden sich dabei in einem gemäßigten mittleren Bereich, allerdings mit einer Tendenz zur Intro- oder zur Extro-Seite. Alle Bandbreiten sind gesund – nur äußerste Extreme können Probleme bekommen. Davon betroffen sind Menschen, die ganz am Ende des Kontinuums angesiedelt sind, unabhängig davon, ob es sich um das Intro- oder das Extro-Ende handelt. Ganz und gar ungesund ist es allerdings, ständig außerhalb der persönlichen Komfortzone zu leben. Wird ein akustisch empfindlicher Intro wie Jonas z. B. dauerhaft einem hohen Geräuschpegel ausgesetzt, so kostet ihn das viel Energie – und gleichzeitig ist es ihm unmöglich, neue Energie zu tanken. Wenn er ständig gezwungen wäre, Autos zu verkaufen anstatt in der Verwaltung des Unternehmens sein Praktikum zu machen, wäre er auf Dauer unglücklich und ausgelaugt. Im Extremfall kann ein Leben mit zu viel Anteil außerhalb der eigenen Komfortzone tatsächlich krank machen.
Intro- und Extroversion sind zweitens situationsabhängig: also wie Ausrichtungen einer Schiene, die jeder Mensch zur Verfügung hat, um sich je nach Lage eher nach außen oder eher nach innen zu wenden. Wir Menschen sind wunderbar anpassungsfähig – die Fähigkeit, unser Denken und Handeln je nach Situation flexibel zu verändern, macht uns gerade aus. Wir können uns im Prinzip an jedem Punkt unseres Lebens so oder eben auch anders verhalten. Das hat nichts mit Intro- oder Extroversion zu tun, sondern mit Intelligenz oder auch Disziplin – etwa, wenn wir uns bewusst für ein Verhalten entscheiden, das ganz anders wäre, wenn wir impulsiv handeln würden. Und auch die Rolle, die wir in einer Situation einnehmen, prägt unsere Entscheidung darüber, wie wir kommunizieren. Dann können ganz andere Fragen unser Verhalten bestimmen: Sind wir im Verhältnis zu anderen stark oder schwach? Was wird von uns erwartet? Wie wollen wir uns darstellen?
Deshalb wird Jonas auf dem Geburtstag seiner Mutter im Familienkreis mit seinen jüngeren Cousins fröhlich und als cooles älteres Rollenvorbild plaudern. Seinen alten Tanten wird er höflich begegnen und geduldig Fragen beantworten. Am Messestand seiner Praktikantenfirma wird er eher zurückhaltend sein, wenn es darum geht, in Kontakt mit lauter Unbekannten zu kommen. Doch er wird sich auch anstrengen, genau dies zu tun – schließlich ist das seine professionelle Aufgabe. Selbst eine ausgeprägte Extro-Persönlichkeit wie Anke Engelke hat mit Sicherheit Momente, die ihr die Sprache rauben oder in denen sie sich bewusst zurückhält. Viele Extros, die ich kenne, genießen (und brauchen sogar!) Momente der Stille in turbulenten Zeiten. Insgesamt ist diese Flexibilität ein Glück: Denn die Intro-Extro-Schiene gibt uns Bewegungsfreiheit und einen Reichtum an Handlungsmöglichkeiten.
Drittens fordert die Kultur, die uns umgibt, mehr oder weniger Anpassungsfähigkeit in Richtung Intro- oder Extroversion. In einem Land wie Japan werden Stille, Alleinsein und Besinnung geschätzt. Gemeinsames Schweigen gehört in einem normalen Gespräch unter Bekannten dazu. Intros aus anderen Ländern finden diese Erfahrung sehr angenehm. In den USA, einer klassischen »Extro-Kultur«, wird dagegen ein Schweigen beider Gesprächspartner meist als peinlich oder zumindest unangenehm empfunden. Es gilt als normal, sowohl im Privatleben als auch im Beruf ständig Zeit in Gruppen zu verbringen. Ein Intro wird sich deshalb in den USA (oder auch bei uns in Deutschland und anderen europäischen Ländern) stärker mit extrovertierten Verhaltensweisen an seine Umwelt anpassen müssen als in Japan, wo er eine »intro-freundliche« Kultur vorfindet.
Nicht zuletzt gibt es viertens auch im Verlauf eines Lebens Verschiebungen. Mit dem Älterwerden entwickeln sich die meisten Menschen in die Mitte des Kontinuums, werden also »gemäßigter« in ihrer Intro- oder Extro-Ausprägung. In der zweiten Lebenshälfte wird die Introversion für extrovertierte Menschen damit zugänglicher und hat einen besonderen Wert: Sie hilft, über sich selbst und das eigene Leben zu reflektieren, über Werte und Sinn nachzudenken.
Trotz der Abhängigkeit von Situation, Kultur und sogar Lebensalter ist die Introversion bzw. Extroversion ein relativ stabiles Persönlichkeitsmerkmal, das sich an bestimmten Eigenschaften und Neigungen zeigt. Vor allem die Antwort auf eine Schlüsselfrage ist entscheidend:
| Die Intro- / Extro-Schlüsselfrage: Woher kommt die Energie? |
Wie also verhält sich ein Mensch, wenn er gestresst und / oder erschöpft ist und seine Batterien wieder aufladen will?
Energiequellen von Extros und Intros
Grundsätzlich gibt es auf diese Frage zwei Antworten: Entweder holt dieser Mensch seine Energie aus dem Austausch mit anderen. Mein Mann ist solch ein Mensch: Nach einem anstrengenden Tag findet er es entspannend, mit Freunden auszugehen, in seiner Fußballmannschaft zu spielen oder an einem Clubtreffen teilzunehmen. Wer das tut, ist in seiner Ausrichtung eher extrovertiert. Oder dieser Mensch »macht zu« und regeneriert sich möglichst allein, möglichst reizarm und ohne viele Worte. Dazu gehöre ich. Nach einem Seminartag genieße ich es, allein im Hotelzimmer zu sitzen und zu lesen. Ohne ein Wort. Oder ich treffe eine gute Freundin und regeneriere mich bei einem entspannten Gespräch zu zweit. Nach drei Tagen Seminar brauche ich einen halben Tag für mich, bis wieder alle Batterien geladen sind. Sie ahnen schon: Wer sich so erholt, gehört eher zur introvertierten Seite.
Zu viel Stimulation wirkt auf Intros energiezehrend. Das kann im Beruf eine Aufgabe mit vielen unterschiedlichen Dingen sein, die gleichzeitig zu berücksichtigen sind. Im Privatleben ist es beispielsweise eine Party mit unbekannten Menschen und lauter Musik – eine Situation, die schon junge Intros wie Jonas als anstrengend empfinden. Eine Überstimulation bewirkt bei Intros auch, dass sie ein Bedürfnis nach Rückzug verspüren. Extros dagegen mögen Stimulation, weil sie Energie liefert. Sie suchen deshalb oft Abwechslung, wenn sie auf sich allein zurückgeworfen sind und zu wenig neue Eindrücke bekommen: So suchen sie in Bibliotheken, Krankenhäusern oder Firmen mit Einzelbüros gern...