Mitten im August oder auch früher eilt der Winzer in den Weinberg, um einen Teil seiner Trauben, die ihm die Rebe für die herbstliche Ernte angeboten hat, vom Stock zu schneiden. Er tut das nicht grundlos und ganz im Interesse seines Weines und auch zur Freude seiner Kunden. Er nennt es „Grüne Lese“ und das Ziel ist eine Optimierung des späteren Lesegutes. Denn: Weniger Trauben bedeuten mehr Extrakt und mehr Extrakt bedeutet bessere Qualität.
Doch leider ist das, so muss man klagen, die pure Verschwendung. Oder genauer gesagt: Leider war in Vergessenheit geraten, dass aus diesen wertvollen überschüssigen Beeren, die abgeschnitten nun sinnlos am Boden verkommen, ebenso wie aus den „Geizen“ einst ein hochgeschätztes Würzmittel hergestellt wurde, das die besten Köche nicht nur zu Höchstleistungen inspirierte, sondern dem Winzer auch klingende Münze brachte. Selbst die armen Leute profitierten davon, durften sie doch nach Abschluss der Lese in den wieder geöffneten Weinbergen ungehindert nach den übersehenen Beeren und den „Geizen“ suchen, jenen unreif gebliebenen Beeren, die aus der zweiten Generation der Blüten nachgewachsen sind. Für sie hat der Winzer heute nicht mehr als Verachtung übrig, wenn er sie nicht sogar schon frühzeitig vom Stock geschnitten hat. Die einfachen Leute machten daraus „natürlich milden Essig“. Der war kostenlos und wurde in jeder Küche geschätzt.
Damit haben wir schon einen ersten historischen Faden in der Hand. Die Praxis dieser Nachlese war bereits in biblischen Zeiten bekannt, wie im dritten Buch Moses, Vers 19,10 belegt ist: „Und in deinem Weinberg sollst du nicht nachlesen, und die abgefallenen Beeren deines Weinbergs sollst du nicht auflesen; für den Armen und für den Fremden sollst du sie lassen.“ Der Gebrauch unreifer, saurer Trauben war vom Genuss keineswegs ausgeschlossen, wie auch die Vorschrift 4. Mose 6,4 bezeugt: „Solange sein Gelübde währt, soll er nichts essen, was man vom Weinstock nimmt, von den unreifen bis zu den überreifen Trauben.“
Über Jahrhunderte hinweg hat man aus unreifen Trauben eine kulinarische Spezialität gewonnen, mit der sich manch herrschaftlicher Hofkoch gleich fassweise bevorratete. In der Tat war der ausgepresste und unvergorene Saft aus „unzeitigen“ Beeren eine der Säulen der mittelalterlichen Küche und gehörte bis weit ins 18. Jahrhundert zum Würz-Repertoire eines jeden Kochs, der etwas auf sich hielt. Der Name dieser kulinarischen Spezialität aus dem Weinberg: Agrest.
Ein vergessenes Wort
Seit mehr als hundert Jahren steht das einst so gebräuchliche Wort „Agrest“ in keinem deutschen Lexikon, in keinem Wörterbuch mehr. Mit jedem verschwundenen Wort verschwindet aber auch ein Teil des kulturellen Gedächtnisses. Anders als ausgestorbene Tiere oder Pflanzen haben verschwundene Wörter jedoch die Chance für einen Wiederauftritt auf der großen Geschichtsbühne. Man muss sie nur wieder aussprechen und ihren alten Spuren folgen. Und wir werden dabei die Beobachtung machen, dass beim Kochen auch die Wörter zu den wichtigen Zutaten gehören.
Beginnen wir also unsere kleine Küchen-Archäologie mit dem eigenartigen Begriff, der aus unseren Wörterbüchern ebenso gründlich verschwunden ist wie die Würze aus unseren Küchen. In der ältesten deutschen Quelle, einer Handschrift, die etwa um 1200 entstand, lautet der Name Agraz, der sich in den folgenden Jahrhunderten mit mehr oder weniger Variationen zu Agrest stabilisiert. Der Begriff stammt von dem italienischen agresto und verweist auf die lateinische Wurzel agrestis für wild wachsend. Die Deutschen, so scheint es, basteln noch eine zeitlang an dem raukehligen Wort, das doch eine so angenehme Sache bezeichnen wollte. Wir finden Varianten wie Agressz bei Brunnfels (1532), Agreßsafft beim Übersetzer des Tacuinum Sanitatis (1533), Philippine Welser (1540) schreibt Agerest, der Mainzer Mundkoch Max Rumpolt (1581) diktiert seinem Schreiber Agrastwasser in die Feder und im ersten in Österreich gedruckten „Grazer Kochbuch“ von 1668 finden wir die Variante Agriß. Die renommierte Kennerin der deutschen Kochbuchliteratur, Trude Ehlert, sieht die Wurzel im provenzalischen agras, was gar nicht so abwegig erscheint. Das Provenzalische zeigte sich besonders aufnahmebereit für sprachliche Einflüsse aus dem Spanischen, Französischen und Italienischen. Und agras entspricht sehr wohl dem Katalanischen, wo die Tradition dieser Würze noch weiter zurückreicht und heute unter dem Begriff el agraz wieder gebräuchlich ist.
Die Franzosen schaffen schon früh ihre eigene Version. Sie nennen ihn jus-vert, grünen Saft. In dem um 1393 entstandenen Hausbuch „Le ménagier de Paris“, in dem auch eine umfangreiche Rezeptsammlung enthalten ist, hat der Schreiber den ursprünglichen Begriff noch beibehalten. Gut hundert Mal taucht bei seinen Rezepten der vertjus auf. Daneben begegnen wir aber auch schon der Schreibung verjus, die sich zu dieser Zeit bereits stabilisiert, wie die Befunde in den Handschriftenvarianten des „Taillevent“ (zwischen 1373 und 1392) zeigen. Dieses frühe kulinarische Kompendium wird dem Hauptkoch des französischen Königs Karl V. (reg. 1364–1380) zugeschrieben und bestimmte über mehrere Jahrhunderte hinweg die französische Kochbuchliteratur. Noch früher findet sich der Verjus in einer Handschriften- Variante des „Viandier“ (Lebensmittel) der Bibliothèque Cantonale von Sion im Wallis belegt. Ihre Entstehung datiert man bereits in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts. Unter den dort aufgeführten 153 Rezepten erscheint der Verjus allein bei einem Drittel aller Zubereitungen als entscheidendes Würzmittel.
Das englische verjous, veriaws oder verious, wie es im „Forme of Cury“, dem frühesten englischen Kochbuch vom Ende des 14. Jahrhunderts, in schöner Abwechslung geschrieben steht, leitet sich gleichfalls vom französischen verjus ab. Was die Schreibweise betrifft, kämpfen die Engländer allerdings über längere Zeit mit diesem semantischkulinarischem Import. Mitte des 15. Jahrhunderts schreibt der aus Nordengland stammende Autor des „Liber Cure Cocorum“ verius, das sich ein Jahrhundert später im „Proper newe Booke of Cokerye“ in vergis verwandelt hat. Und John Murrell schreibt in seinem „New booke of Cookerie“ (London, 1615) als eigene Variante Uergis, wenn er seine aus der französischen Küche entlehnten Rezepte ("on the French fashion") vorstellt. Heute hat sich im englischsprachigen Raum allgemein der Begriff Verjuice eingebürgert.
Oft waren es die geschäftstüchtigen holländischen Weinhändler, die diese begehrte Würze von Frankreich nach England brachten. Und auch sie hatten anfangs ihre Schwierigkeiten, diese sanften französischen Zischlaute (verschü) ins Niederländische zu transponieren. Im ersten niederländischen Kochbuch des Brüsseler Druckers Thomas Van der Noot (1475–1525) „En notabel boecriten van cokeryrn“ (Brüssel 1510), das mehrer Wiederauflagen erlebte, lesen wir gleich im zweiten – und dann in 30 weiteren – der 174 Rezepte „veriups“, was fast ein wenig an Schluckauf erinnert, auf jeden Fall aber gut gelaunt klingt. Tatsächlich ist mit dem Buchstaben p aber ein y gemeint, das dem Schriftgießer freilich etwas verquer geraten war.
Im Flämischen hält sich als weitere Variante bis ins 17. Jahrhundert die Schreibung veriu, wie man im Kochbuch des Lancelot de Casteau, „Ouverture de Cuisine“, Lüttich 1604 nachlesen kann. Angesichts all dieser Varianten holt der flämische Arzt und Botaniker Rembert Dodoens (1517–1585) in seinem “Cruyde Boeck” (Gewürzbuch) Antwerpen 1563, zu einer breiten lexikalischen Auskunft aus, in der er zugleich noch einmal die enge Verbindung von Küche und Apotheke unterstreicht: “Der Saft, der aus den unreifen Beeren des wilden Weinstocks und ebenso aus jeglichen unreifen Trauben, sowohl angebauten als auch wild wachsenden, gepresst wird, heißt auf Griechisch òmphakion und auf Lateinisch Omphacium. In den Apotheken Agresta, in Niederdeutsch / Niederländisch Veryus.“
Agrest – und seine Varianten
Im deutschen Sprachraum hält sich der Begriff Agrest zwar bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, doch schon im 16. Jahrhundert und unter dem europaweiten Einfluss der französischen Hofkultur wandert der Verjus auch in die deutsche Sprache ein. Daneben sprechen die Kochbuchautoren jedoch meist vom „Saft aus unzeitigen Beeren“ oder einfach von „grünen Winbeeren“, und sie machen damit zugleich auch die Vielgestaltigkeit dieser Zutat kenntlich. Denn wie hinter dem französischen Verjus verbirgt sich hier mehr als nur der ausgepresste Saft. Bei vielen Gerichten – so sagen es die Zubereitungsvorschriften – wird der Saft erst gar nicht ausgepresst, sondern die Beeren werden zur Würzung direkt dem Gericht beigefügt. Hierzulande sind sie unter dem Namen...