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E-Book

Lob der Scham

Nur wer sich achtet, kann sich schämen

AutorDaniel Hell
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783451816864
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Weil Scham zumeist mit sozialer Schande oder narzisstischer Kränkung gleichgesetzt wird, genießt sie gemeinhin einen schlechten Ruf - doch zu Unrecht, wie Daniel Hell aufzeigt: Wir sollten sie als 'Türhüterin des Selbst' achten und schätzen lernen. Der renommierte Psychiater und Psychotherapeut Hell gibt der Scham wieder diejenige Bedeutung zurück, die ihr im menschlichen Leben zukommt.

Daniel Hell, geboren in der Schweiz, war von 1991-2009 Professor für Klinische Psychiatrie und Klinikdirektor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Seit seiner Emeritierung als Ordinarius für Klinische Psychiatrie an der Universität Zürich führt er an der Privatklinik Hohenegg eine eigene psychiatrisch-psychotherapeutische Praxis und engagiert sich in der Stiftung Hohenegg sozialpsychiatrisch.  Als Autor von Fach- und Sachbüchern sowie Medienbeiträgen ist er weit über sein Fachgebiet hinaus bekannt.

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Leseprobe

1. Scham als historisch konstante ­Herausforderung

Eine kurze Kulturgeschichte der Scham

Es wird oft diskutiert, ob Schamgefühle in den letzten Jahrhunderten zu- oder abgenommen haben. Auch die Möglichkeit, dass man sich in der Neuzeit für anderes schämt als etwa im Mittelalter oder gar bei schriftlosen Stammesvölkern, wird dabei zu Recht in Erwägung gezogen. Fest steht, dass bisher in unserer Welt keine Bevölkerung gefunden wurde, in der Schamreaktionen fehlen. Auch geschichtlich finden sich keine Hinweise auf vergangene Kulturen, die frei von Scham gewesen sind. Die gesellschaftlichen Strukturen mögen sich noch so stark unterschieden haben – Scham fehlte in keiner von ihnen. Zwar finden sich in einzelnen Kulturen subkulturelle Gegenbewegungen, die Schamlosigkeit als Mittel einsetzen, um herrschende gesellschaftliche Normen bloßzustellen und zu bekämpfen. Ein drastisches Beispiel dafür ist die philosophische Schule der Kyniker in der griechischen Antike, zu dessen bekanntesten Mitgliedern Diogenes gehörte. Diogenes wohnte nicht nur in einer Tonne und wünschte sich von Kaiser Alexander, dass er ihm aus der Sonne gehe, sondern urinierte und onanierte auch in aller Öffentlichkeit, um damit gegen die herrschende Schamkultur zu demonstrieren. Doch seine Unverschämtheit konnte nur in die Geschichte eingehen, weil sie außerordentlich war. Im Grunde benutzte Diogenes gerade die Schamhaftigkeit der Menschen, um auf sein Anliegen besonders provokant aufmerksam zu machen. An der Verbreitung des Schamgefühls änderte sich nichts.

Die meisten Evolutionsbiologen gehen davon aus, dass das Reaktionsmuster der Scham beim Menschen genetisch angelegt ist. Es braucht zwar weitere psychologische und soziale Voraussetzungen, damit es im Verlaufe der frühen Kindheit zum Ausdruck kommen kann. Doch ist unbestritten, dass Scham kein bloß gesellschaftliches oder erzieherisches Konstrukt ist. So findet sich der für Scham typische Gesichtsausdruck transkulturell in der ganzen Welt. Dazu gehört neben dem Senken der Augenlider, dem Abwenden des Blickes und einer Kopfdrehung zur Seite auch die besonders auffallende Rot- oder Dunkelfärbung der Haut, was im Übrigen dazu geführt hat, dass Scham in sehr vielen Sprachen mit der Farbe Rot assoziiert ist.

Manchmal wird gegenüber solchen Befunden kritisch eingewendet, es gebe doch schriftlose Primärkulturen wie Indianerstämme, bei denen sich Menschen ihrer Nacktheit und anderer natürlicher Verhaltensweisen nicht schämten. Dem ist allerdings nicht so. Körperscham findet sich in allen Kulturen, die studiert worden sind. Sie wirkt sich nur unterschiedlich aus. Doch bedeutet der Umstand, dass Menschen in solchen Primärkulturen unbekleidet leben, keineswegs, dass ihnen Körperscham fremd ist. Zum einen können bereits Schmuckstücke oder Tätowierungen einen Menschen kleiden. So reagieren etwa Yanomami-Frauen, die lediglich eine dünne Schnur um die Körpermitte tragen, höchst verlegen, wenn sie aufgefordert werden, diese abzulegen. In diesem Falle kann eben auch die Schnur eine Grenze bezeichnen, die es zu beachten gilt. Zum anderen müssen sich auch Menschen, die keineswegs »nackte Wilde« sind, bestimmten Verhaltensregeln unterwerfen:

»[Insbesondere] kennen und achten derartige Kulturen ein striktes Reglement der Blicke. Jemandem unverhohlen auf die Genitalien zu starren kann strengste Sanktionen nach sich ziehen. Von Nacktheit auf Zwang- und Zügellosigkeit zu schließen, ist ein modernes Phantasma. Den Leidenschaften wird in einfachen Kulturen keineswegs freier Lauf gelassen, es wird nicht ›wie wild‹ vor aller Augen kopuliert« (Paul, 2007, S. 81).

Ganz im Gegenteil unterliegt die sexuelle Tätigkeit – anders als bei Tieren inklusive Primaten – strengen Tabus. Sie wird den Blicken Dritter entzogen.

Übrigens blicken auch moderne Angehörige der FKK-Kultur einander in den Nudistencamps vornehmlich in die Augen. Auf den nackten Körper zu starren oder gar zuzuschauen, wie Paare miteinander schlafen, ist weitgehend tabu. Es wird auch nicht öffentlich uriniert oder defäkiert.

Nur Kleinkinder bilden hierzu in allen Kulturen eine Ausnahme. Sie haben meist kein Problem, sich nackt zu zeigen – manche genießen sogar das exhibitionistische Zurschaustellen ihrer Genitalien. Erst im Vor- und Grundschulalter verändert sich ihr Verhalten. Dann stellen auch Eltern, die ihre Kinder zu schamfreiem Umgang mit ihrem Körper oder dem anderen Geschlecht erziehen wollen, plötzlich Körperscham fest: Der Nachwuchs verhüllt den Körper und insbesondere die Genitalien.

Evolutionsbiologen wie Irenäus Eibl-Eibesfeldt schließen daraus, dass es eine Art »Ur-Scham« gibt. Sie könnte ihren Ursprung in einem Reaktionsmuster der Primaten haben, die ebenfalls die Gesichtsfarbe verändern oder zu Boden schauen, wenn sie zum Beispiel von einem Alphatier in sexueller Hinsicht »gedemütigt« werden. Allerdings lässt eine physiologische Körperreaktion nicht sicher auf eine bestimmte Emotion schließen. Gesichtsrötung kann auch generell durch innere Erregtheit hervorgerufen ­werden.

Von Evolutionsbiologen wird zudem manchmal postuliert, dass die menschliche Tabuisierung der Geschlechts- bzw. Schamregion und das Zudecken dieser Körperteile mit Kleidern zu einer sexuellen Entspannung innerhalb der Stammesgemeinschaft beigetragen haben. Es habe die Konzentration auf andere Aufgaben ermöglicht und damit die menschliche Entwicklung gefördert.

Die postulierte Ur-Scham ist allerdings eine biologische Reaktionsweise, die durch die menschliche Kultur- und Individual­geschichte überformt und unterschiedlich ausgestaltet wird. Auch beschränkt sich die Scham in der menschlichen Entwicklung keineswegs auf die primären Geschlechtsorgane oder die erwachende Sexualität. Neben Körper- und Geschlechtsscham finden sich auch andere Schamformen, etwa die Scham, leistungsmäßig versagt zu haben (Kompetenzscham), die Scham, einen Fehler gemacht oder ein Unrecht begangen zu haben (moralische Scham), oder die Scham, nicht genügend selbst­ständig zu sein (Abhängigkeitsscham). In der kindlichen Entwicklung treten solche Schamformen sogar deutlich vor der diskutierten Körperscham auf. Davon wissen wir heute dank der Kleinkindforschung. So schämt sich zum Beispiel ein drei- oder vierjähriges Kind, wenn es eingenässt hat, nicht für seinen Körper, sondern dass ihm die gelernte Kontrolle misslang, auf die es sonst stolz ist.

Es stellt sich deshalb die Frage, ob solche Schamformen nicht auch kulturgeschichtlich der Körper- und Geschlechtsscham vorausgegangen sein könnten. Wir wissen aber nicht, wie es in der Frühgeschichte der Menschheit war. Dazu fehlen uns die schriftlichen Zeugnisse. Doch können uns alte Mythen immerhin indirekte Hinweise geben, wie es damals gewesen sein könnte. In besonders eindrücklicher Weise kommen diese Zusammenhänge im biblischen Mythos von Adam und Eva zum Ausdruck. In der Bildersprache solcher Mythen drückt sich Scham vor allem dadurch aus, dass sich Menschen verbergen. Insbesondere die primären Geschlechtsorgane werden durch schützende Blätter oder geflochtene Schürze den Blicken entzogen. Menschen können sich aber auch hinter Büschen verstecken. Diese körperbezogene Darstellungsweise lässt das schamvolle Element in Mythen besonders eindrücklich zum Ausdruck kommen und dürfte auch aus diesem Grund gewählt worden sein. Schwieriger sind innere seelische Vorgänge abzubilden. Aber auch sie kommen in diesen Mythen indirekt zur Sprache. So wird aufkommende Scham oft mit einer Veränderung des Bewusstseins in Verbindung gebracht, indem von Menschen gesagt wird, dass sie sich und die Mitmenschen auf neue Weise sehen. Die Augen, in denen sich das seelische Erleben spiegelt, bekommen einen anderen Blick.

Das ist auch so im biblischen Mythos von Adam und Eva. Knapp zusammengefasst wird im ersten Buch der Bibel, der Genesis, erzählt, wie Adam und Eva zunächst in ungebrochener Einmütigkeit im Paradies leben: »Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht« (Gen 2,25). Dann wurde Eva von der Schlange dazu verführt, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, von dem Gott ihnen zu essen verboten hatte. Auch Adam aß davon.

»Da gingen ihnen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Und sie flochten Feigenblätter und machten sich Schürze. Und sie hörten die Schritte des Herrn. […] Da versteckten sich der Mensch und seine Frau unter den Bäumen des Gartens. Aber der Herr, Gott, rief den Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du? Da sprach er: Ich habe deine Schritte im Garten gehört. Da fürchtete ich mich, weil ich nackt bin, und verbarg mich.« (Gen 3,7–9)

Im Grunde bringt diese biblische Geschichte ein prägnantes Bild, was modernen entwicklungspsychologischen Erkenntnissen entspricht. Ohne ein Sich-selber-Erkennen, ohne Selbstbewusstsein, gibt es auch keine Scham. Scham ist Folge einer kognitiven und emotionalen Entwicklung. Sie ist tief menschlich. Sind wir uns einmal selbst bewusst und erkennen wir auch unsere eigenen Grenzen an, verändert sich mit dem Auftreten von Scham sowohl die Beziehung zu uns selbst wie auch unser Verhältnis zu den Mitmenschen.

Das dürfte in den frühesten Stammeskulturen nicht anders gewesen sein als heute. Weil Säuglinge und Kleinkinder zunächst in einer fast unbegrenzten Verbundenheit mit der Mutter leben, dann aber mit einsetzendem Selbstbewusstsein und abgrenzender Scham ein differenzierteres und selbstständigeres Eigenleben entwickeln, ist es eine der wichtigsten persönlichen und gemeinschaftlichen Aufgaben, wachsende Selbstständigkeit und verbleibende Abhängigkeit in ein Gleichgewicht zu bringen. Mit...

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