I. Führen
Wo immer Menschen zusammen leben oder arbeiten, beeinflussen sie einander in ihrem Handeln. Das ist Führung. Sie findet zwischen Menschen statt. Wenn Eltern ihre Kinder anhalten, ihr Zimmer aufzuräumen oder ihre Hausaufgaben zu erledigen, übernehmen sie Führung: Sie beeinflussen das Verhalten ihrer Kinder. Wenn das kleine Kind an der Supermarktkasse quengelt und schreit, bis die Mutter entnervt das Überraschungs-Ei auf das Band legt, übernimmt es Führung: Es beeinflusst das Verhalten der Mutter. Wenn der Werksleiter seine Mitarbeiter dazu bringt, für den Großauftrag eine zusätzliche Schicht zu fahren, übernimmt er Führung: Er beeinflusst das Verhalten seiner Mitarbeiter.
Führung findet sich immer in der Beziehungsgestaltung und der Zusammenarbeit von Menschen in sozialen Systemen, sei es in einer Familie, einer Organisation oder einem Unternehmen. Führung wird auch vollzogen, wenn sie nicht ausdrücklich zugeteilt oder vereinbart wurde. Das ist zum Beispiel zu beobachten, wenn eine Gruppe Menschen versucht, gemeinsam ein steckengebliebenes Auto flott zu machen: Meist übernimmt eine Person die Führung und sagt das „Ho-Ruck“ für alle an. Sogar schon bei Kindern, die eine Sandburg bauen, kann man beobachten, dass häufig eines Ideen vorgibt, wie die Burg aussehen soll, die anderen zum Wasserholen oder zum Füllen der Eimer mit Sand einteilt und den Bau koordiniert.
In Organisationen ist Führung eine abgesprochene und zugeteilte Funktion. Führen ist hier das aktive und bewusste Gestalten von Beziehungen und Rahmenbedingungen, um vereinbarte oder vorgegebene Ziele zu erreichen. Indem wir führen, sorgen wir für das Funktionieren und für die Zukunftsfähigkeit der Organisation. Wir dienen ihrem Existenzgrund. Dieser kann sehr unterschiedlich sein: In einem Industriebetrieb ist es die Produktion von Gütern, in einem Amt die öffentliche Verwaltung einer Kommune, in einer karitativen Organisation eine soziale Hilfeleistung und in einer Regionalbank das Anlegen und Verleihen von Kundengeldern. Der Dirigent Sir Simon Rattle beschrieb seine Führungsarbeit am Dirigentenpult einmal mit den Worten: „Sobald du denkst, es geht um dich, scheiterst du. Wenn man nicht glaubt, dass die Musik das Wichtigste ist, hat man ein Problem.“1 Es geht also bei Führung nicht um Selbstdarstellung und Bedienen des eigenen Egoismus, sondern um ein Dienen zur Erfüllung des Existenzgrundes und der Ziele der Organisation.
FührungsKRAFT sein bedeutet
▪ unsere Welt verantwortungsvoll gestalten,
▪ Träume und Visionen verfolgen,
▪ attraktive und sinnvolle Ziele verfolgen,
▪ mit Hingabe und im Flow arbeiten und
▪ an den Herausforderungen persönlich reifen.
Bekommen Sie Lust darauf? Dann beginnen Sie, sich damit auseinanderzusetzen, wie Sie Führungsbeziehungen gestalten, welche Ziele Sie verfolgen, wie Sie tatsächlich führen wollen und was das mit Ihrer ganz persönlichen Geschichte zu tun hat.
Der Führungsbaum: eine Analogie
Wer den Baum verstehen will,
muss erkennen,
dass es über den Teil hinaus,
den er sieht, noch etwas gibt,
was er nicht sieht, und dass es das ist,
was den Baum entstehen lässt.
(Renée Weber)
Die Art und Weise, wie ich führe, ist ein Ergebnis meiner Geschichte. Ich vergleiche daher Führung gerne mit dem Bild eines Baumes:
Schauen wir uns den Baum genauer an: Von der Ferne sieht man zuerst die große Krone. Diese ist offensichtlich. Die Baumkrone in der Führungsarbeit zeigt das heutige Verhalten der Führungskraft im Alltag und ihre Wirkung: Wie sie ihren Mitarbeitern vertraut, mit ihnen kommuniziert, sie in Entscheidungen einbindet, Kontakt hält, Feedback gibt, fordert und fördert, in Konflikten agiert, mit Regeln und Grenzen umgeht oder Verantwortung überträgt.
Und wir können beobachten, dass es Führungskräfte gibt, die wunderbar vertrauen und delegieren können, und andere, die ihren Mitarbeitern gar nichts zutrauen und alles kontrollieren. Die einen sprechen Konflikte an und aus, andere sind einfach unversöhnlich und wieder andere meiden jeden Streit und versuchen, es allen recht zu machen.
Die Basis dieses unterschiedlichen Führungsverhaltens – oder die Wurzeln, um in der Analogie des Baumes zu bleiben – sind Lernmodelle, die wir seit frühester Kindheit erlebt haben: Eltern, Geschwister, Lehrer und wichtige Menschen, die uns Führung mehr oder weniger wirkungsvoll vorgelebt haben.
Elterliche Lernmodelle als Wurzeln
Die Wurzeln dieses Verhaltens können schon lange zurückliegen. Denn von frühester Kindheit an machen wir prägende Erfahrungen zum Thema Führung: Die ersten Vorbilder oder Lernmodelle boten uns die Eltern oder die Erwachsenen, die uns großgezogen haben. Schon durch sie erlebten wir die gesamte Bandbreite von Führungsthemen.
Überlegen Sie einmal:
▪ Wertschätzung und Abwertung: Erhielt ich Lob bzw. Anerkennung? Wofür? Wie handelten die Erwachsenen, bei denen ich aufgewachsen bin: Lobten sie einander? Wie wurde auf Lob reagiert? Oder war „Nichts Sagen“ (also: keine Kritik) schon Lob genug? Wie wurde kritisiert?
▪ Vertrauen, Zutrauen oder Misstrauen: Welche Botschaft erhielt ich? „Aus dir wird sowieso nichts“ oder „Du schaffst das, wenn du dich anstrengst und willst!“? Ließ man mich auch mal Fehler machen?
▪ Umgang mit Entscheidungen: Wurde ich einbezogen (z.B. in die Auswahl meiner Schule / Ausbildung / Kleidung / Hobbys) oder hat man für mich bestimmt?
▪ Klare oder diffuse Regeln: Waren Regeln und Grenzen immer gleich oder hieß es: Heute so, morgen anders? Bei Papa so und bei Mama anders? Waren die Regeln ausgesprochen oder musste ich sie „erahnen“? Wie war der Umgang mit Regelverstößen? Was passierte, wenn ich mich nicht an Regeln gehalten habe?
▪ Kommunikation: Welche Gesprächskultur habe ich daheim erlebt? Wurden Themen klar angesprochen? Wurde man nur gehört, wenn man laut war und andere unterbrach?
▪ Wie erlebte ich den Umgang mit Konflikten? Wurden diese offen ausgesprochen oder „totgeschwiegen“ und man ging sich einfach aus dem Weg? Gab es Verletzungen? Habe ich Verzeihen und Versöhnungsrituale erlebt?
▪ Fordern und fördern? Hat man viel von mir verlangt, mich auch einmal an die Grenze gehen lassen oder geschont und mir alles aus der Hand genommen? Durfte ich Fehler machen und daraus lernen oder musste ich alles perfekt machen? Hat man meine Interessen und Fähigkeiten (z.B. Lesen, Musik, Sport, Basteln, Gestalten) gefördert und ermöglicht, dass ich diese weiterentwickeln kann?
Viele dieser Themen, mit denen wir schon in der Kindheit konfrontiert waren, haben mit Führung zu tun. Eine besondere Rolle hat auch der eigene Platz in der Ursprungsfamilie.
Die Geschwisterposition – „Vorschule“ für Führung?
Der amerikanische Familientherapeut Kevin Leman erforschte über Jahre die Auswirkung der Geschwisterposition in der Ursprungsfamilie auf die Verhaltensweisen von Menschen. Dabei entdeckte er, dass durch jede Konstellation in der Kindheit (Einzelkind, Älteste, Mittel und Letztgeborene) besondere Stärken und Schwächen entwickelt werden, welche sich auch im Erwachsenenalter zeigen.2
So stellte er z.B. fest, dass Erstgeborene häufig schon eine natürliche Autorität ausstrahlen und energisch und gut organisiert wirken. Sie übernehmen oft „wie von selbst“ Verantwortung in Gruppen, zeichnen sich aber auch durch gute Teamarbeit aus. Trotzdem wirkt ihr Verhalten oft zu aggressiv und andere fühlen sich von ihnen überrollt. Ihre perfektionistische Ader verleiht ihnen gern eine wissenschaftliche bis schulmeisterliche Art. Dabei kümmern sie sich manchmal zu sehr um Details und Perfektion (machen die Dinge „richtig“), übersehen aber dabei das große Ganze und verlieren den Blick für das Wesentliche (die „richtigen Dinge“).
In Seminaren mit Topmanagement-Gruppen beobachte ich meist eine Häufung an Erstgeborenen – ihr Anteil ist weit höher als der entsprechende Anteil in der Durchschnittsbevölkerung. Offensichtlich sind Erstgeborene schon von Kindheit an gewohnt zu führen: „Pass auf die Kleinen auf ...“
Einzelkinder erleben für viele Jahre die Situation der Erstgeborenen: Die Aufmerksamkeit der Eltern richtet sich zentral auf sie. Mangels Geschwistern müssen sie sich Spielkameraden unter Gleichaltrigen selbst organisieren. Auch diese Situation fördert spezielle Eigenschaften. Einzelkinder vertrauen ihrer eigenen Meinung und haben meist keine Angst vor Entscheidungen. Ähnlich wie Erstgeborene sind sie häufig Perfektionisten und lassen keinen Stein auf dem anderen, wenn es darum geht, einen guten Job zu machen. Dabei sind sie gut organisiert, arbeiten effizient ihre Checklisten ab und sind großartige Planer und Wissenssammler. Sie haben sich und überhaupt alles unter Kontrolle. Sie sind ehrgeizig, unternehmerisch und kraftvoll.
Dabei übertreiben sie oft und übersehen vor lauter Listen, was im jeweiligen Moment wichtig wäre und...