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Gerechtigkeit
Gerechtigkeit ist – spätestens in Zeiten der Globalisierung – wieder zu einem unsere Welt neu bestimmenden Thema geworden. Wir werden Zeugen, wie immer mehr Menschen ungehalten reagieren, wenn sie Ungerechtigkeit in ihren vielen Varianten entdecken. Sie gehen auf die Straße und demonstrieren für Freiheit und Gerechtigkeit. Wer sich ungerecht behandelt fühlt, will das nicht hinnehmen und reagiert zu Recht für das Recht. Wenn Frauen unterdrückt oder misshandelt werden, löst das – auch in konservativen Kulturen wie Indien und im arabischen Raum – immer stärkere Reaktionen aus. Dass Regierungen und Organisationen es sich immer noch leisten, Ungerechtigkeit und Korruption zu dulden oder gar zu decken, zeigt nur den Zustand unserer Welt und wie nötig es ist, die von Gott geforderte Gerechtigkeit ernst zu nehmen.
Es ist in unserer Zeit eine neue Sensibilität für Gerechtigkeit entstanden, und ungerechte wirtschaftliche und politische Strukturen werden deutlicher wahrgenommen. Keiner kann heute mehr die Augen davor verschließen, dass Schokolade zu essen oder Kaffee zu trinken etwas mit unserem Thema zu tun hat. Wenn Kinder unter unzumutbaren Bedingungen schuften müssen oder Menschen (vor allem Frauen und Kinder) missbraucht und ausgebeutet werden, damit wir unsere hippen Klamotten preiswert einkaufen oder unsere tollen Smartphones benutzen können, dann kann man nicht mehr länger wegsehen und muss sich dem Thema Armut, Ausbeutung und Gerechtigkeit stellen. Wenn Menschen auf Kosten anderer leben, ist das ungerecht und nicht hinnehmbar.
Geschichtliche Überlegungen
Gerechtigkeit bezeichnet – in ihrer klassischen Definition des römischen Juristen Ulpian und des einflussreichen Kirchenlehrers Thomas v. Aquin – jene Verhaltensweise, die „jedem das Seine“ – suum cuique – zukommen lässt. D. h., jedem soll das, was ihm (von Natur aus) zusteht, auch gewährt werden. Dass diese Einsicht pervertiert werden kann (und pervertiert worden ist), zeigt die zynische Aufschrift „Arbeit macht frei“ auf den Eingangstoren der NS-Konzentrationslager.
Nach Aristoteles (in seiner Nikomachischen Ethik) ist derjenige gerecht, der die gerechten Gesetze beobachtet. Von dieser allgemeinen Gerechtigkeit unterscheidet er eine partikulare Gerechtigkeit. Dabei geht es sowohl um eine Gerechtigkeit der Verteilung als auch um eine Gerechtigkeit des ordnend Ausgleichenden. Hier werden bereits Grundlagen für eine soziale bzw. gesellschaftliche oder (wirtschafts-) politische Gerechtigkeit aufgezeigt.
Gerechtigkeit darf aber nicht mit Egalisierung (Gleichmachung) verwechselt werden. Alles gleichmachen zu wollen, kann zu großer Ungerechtigkeit führen, weil Eigentum und unterschiedliche Potenziale missachtet und nivelliert werden. Die Forderung von Umverteilung und Enteignung (das alte sozialistische und kommunistische Anliegen) hat letztlich nicht zu Gerechtigkeit geführt, sondern zu Unfreiheit und Ungerechtigkeit, wie die Geschichte gezeigt hat.
Aber auch die von Werten völlig losgelöste Freiheit – zügelloser Kapitalismus – führt nicht zu mehr Gerechtigkeit. Wenn Freiheit nicht mit sozialer Verantwortung gepaart wird, führt sie zu Ungerechtigkeit. Es ist z. B. ungerecht, wenn Steuerzahler für die Rettung von Banken aufkommen sollen, die durch ihr verantwortungsloses Handeln zur Weltwirtschaftskrise beigetragen oder sie gar ausgelöst haben.
Das Spannende ist nun, dass sich einerseits immer mehr Christen konkret für soziale und gesellschaftspolitische Gerechtigkeit einsetzen. Sie sind bereit, Konsequenzen bis in ihre Lebensgestaltung hinein zu ziehen und z. B. ihr Konsumverhalten zu ändern. Andererseits meinen nicht wenige Christen, dass diese gesellschaftspolitischen Themen nichts mit dem Evangelium zu tun hätten. Es sei nicht Aufgabe von Christen, sich für soziale und politische Gerechtigkeit einzusetzen. Diese Argumentation hat eine längere Tradition und geht letztlich auf eine Verkürzung biblischer Kernbegriffe auf die geistliche Sphäre zurück. Die bahnbrechenden Erkenntnisse der Reformation im Blick auf die Glaubensgerechtigkeit wurden einseitig auf den Aspekt einer individuellen, verinnerlichten und nur auf Gott bezogenen Perspektive reduziert. „Wie werde ich gerecht vor Gott?“ (M. Luther)
Doch die Bibel sagt mehr zum Thema Gerechtigkeit. Deshalb ist es wichtig, sich neu damit auseinanderzusetzen und zu fragen, was sie wirklich sagt und was das für uns bedeutet.
Gerechtigkeit in der Bibel
Gerechtigkeit ist eins der biblischen Hauptworte. Es kommt einige Hundert Male im Alten und Neuen Testament vor. Den Gott der Bibel charakterisieren seine Gerechtigkeit und sein gerechtes Handeln. „Der HERR hat das Recht lieb“ (Ps 37,28). Der gerechte Gott will, dass sündige Menschen gerecht werden (d. h. in Übereinstimmung mit ihm und seinem Willen sind) und ihrerseits gerecht handeln. Dazu hat er sein Wort und am Sinai sein Gesetz gegeben als Ausdruck seiner Gerechtigkeit und seines Gemeinschaft stiftenden Handelns.
Man kann an Verbindungen von Gerechtigkeit mit anderen Leitbegriffen erkennen, wie Gerechtigkeit in der Bibel verstanden wird (Hecht):
•Recht und Gerechtigkeit: das Recht als gerechte Grundstruktur sozialen Lebens.
•Treue und Gerechtigkeit: die Verlässlichkeit, die dauerhafte menschliche Bindung im sozialen Gefüge.
•Leben und Gerechtigkeit: die menschliche Gemeinschaft in ihrer Solidarität, besonders mit den Bedürftigen.
Die Sozialgesetzgebung im Alten Testament verlangte die Sorge für die schwachen Glieder der Gemeinschaft. Dazu gehörten besonders Abgaben für die Ärmsten, für Waisen und Witwen, die sonst keine Möglichkeiten hatten, würdevoll zu leben. Auch sollten Möglichkeiten der Entschuldung gegeben werden wegen der Würde und Freiheit, die Menschen von Gott verliehen ist. Die Befreiung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens durch Gott wurde so zum verpflichtenden Vorbild, sich ebenso für Freiheit und Gerechtigkeit anderen gegenüber einzusetzen. Das Mitgefühl und schützende Verhalten gegenüber Mitmenschen und Mitgeschöpfen, z. B. den Fremdlingen und Tieren und sogar der Pflanzenwelt (im Jobeljahr sollten die Felder ruhen) galt als Ausdruck gerechten Handelns. Hier fand sich eine Kultur der Erinnerung an Gottes Gerechtigkeit schaffendes Handeln, die das soziale Verhalten und den Einsatz für gerechte gesellschaftliche Strukturen von diesem Handeln ableitete.
Gerade die alttestamentlichen Propheten mahnen immer wieder leidenschaftlich das Volk Gottes, auf Gerechtigkeit zu achten: „Schafft Recht und Gerechtigkeit und errettet den Bedrückten von des Frevlers Hand und bedrängt nicht die Fremdlinge, Waisen und Witwen und tut niemand Gewalt an und vergießt nicht unschuldiges Blut“ (Jer 22,3). Angesichts des Elends seines Volkes Israel verheißt Gott schließlich selbst, ihm in Zukunft einen Hirten zu erwecken, der als König wohl regieren, verständig handeln und Recht und Gerechtigkeit im Land üben wird. Sein Name: „König der Gerechtigkeit“ (Jer 23,4-6). „So spricht der HERR: Wahret das Recht und übt Gerechtigkeit! Denn mein Heil ist nahe, dass es kommt, und meine Gerechtigkeit, dass sie offenbart wird“ (Jes 56,1f.). Gerechtigkeit als sozialer Verhältnisbegriff bedeutet so viel wie Gemeinschaftstreue. So wie Gott treu ist, will er auch, dass seine Menschen untereinander und ihm gegenüber treu sind und gerecht handeln.
An dieser Stelle kommt ein neuer biblischer Gedanke hinzu, der über alle gesellschaftspolitischen horizontalen Aspekte von Gerechtigkeit weit hinausgeht, quasi die vertikale Dimension der Gerechtigkeit. Die Menschen halten nach biblischem Zeugnis – aufgrund ihres Sünderseins – „die Wahrheit durch Ungerechtigkeit nieder“ (Röm 1,18) und sind „alle unter der Sünde“ (Röm 3,9). „Da ist kein Gerechter, auch nicht einer“ (Röm 3,10), d. h., sie sind zu einem Gott adäquaten Handeln nicht fähig. Die Konsequenz: „Die ganze Welt ist dem Gericht Gottes verfallen“ und aus „Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden“ (Röm 3,20). Angesichts dieser schier aussichtslosen Lage handelt Gott schließlich selbst an ihnen in Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeit Gottes ist völlig anders als die Gerechtigkeit der Menschen. Das unerhört Neue daran ist, dass Gott seine Gerechtigkeit ausgerechnet an denen erweist, die sie völlig ermangeln lassen. „Alle haben gesündigt … und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist“ (Röm 3,23f.).
Dass Gott „den Gottlosen gerecht macht“ und dessen „Glauben zur Gerechtigkeit anrechnet“ (Röm 4,5), scheint auf den ersten Blick ungerecht zu sein. Es zeigt aber nur, dass die „eigene Gerechtigkeit aufgrund des Gesetzes“ (der eigenen moralischen Leistung) vor Gott keinen Bestand hat und nur durch die...