Vorwort
Eine der zentralen Lebensentscheidungen, die man als Mensch zu treffen hat, ist die Berufswahl. Denn der spätere berufliche Erfolg, die berufliche Zufriedenheit und womöglich auch das Lebensglück hängen entscheidend davon ab, dass man die richtige Wahl trifft. Beruflich orientieren müssen sich heutzutage nicht nur junge Menschen, auch später im Leben wollen oder müssen sich Menschen umorientieren, entweder weil sie unglücklich mit ihrer derzeitigen Tätigkeit sind oder weil es in ihrem angestammten Beruf keine Arbeit mehr gibt. Für eine gute Entscheidung ist es hilfreich, sich selbst gut zu kennen, das heißt, über seine eigenen Talente und Fähigkeiten, über seinen Charakter und über seine Interessen gut Bescheid zu wissen.
Das ist aber bei erstaunlich vielen Menschen nicht der Fall: Aktuelle psychologische Forschung der letzten zehn Jahre hat zutage gefördert, dass Menschen die eigenen Begabungen und Talente erstaunlich schlecht (er-)kennen, so wie sie auch über den eigenen Charakter manchmal erstaunlich wenig wissen, ja gar nicht selten einer Selbsttäuschung erliegen. Dieses Phänomen wurde als blind spot (blinder Fleck) in der Selbstwahrnehmung bereits vor sechzig Jahren erstmalig beschrieben, die eigentlichen Wurzeln liegen sogar noch früher, nämlich bei Sigmund Freud. Umso bemerkenswerter ist es, dass es in der wissenschaftlichen Psychologie erst seit gut zehn Jahren Gegenstand intensiverer Forschungsbemühungen ist. Dabei hat man herausgefunden, dass Menschen über manche ihrer Begabungen und Charaktereigenschaften eine erstaunliche geringe Selbsterkenntnis haben, ja dass manchmal sogar andere Menschen einen besser beurteilen und einschätzen können als man selbst.
Aber für eine verbesserte Selbsterkenntnis über die eigenen Talente und die eigene Persönlichkeit ist es nie zu spät. Denn wollen wir nicht alle wissen, wo unsere wirklichen Stärken, wo unsere Potenziale liegen, ob z. B. eher im technischen oder im sozialen Bereich? Und wollen wir nicht erfahren, wie wir auf andere Menschen wirken, wie sie unseren Charakter wahrnehmen? Und schließlich ist da noch das Interesse. Das ist oft dadurch gesteuert, dass wir uns für etwas interessieren, weil wir glauben, es gut zu können. Aber wenn wir unsere eigenen Talente so schlecht erkennen, kann das auch dazu führen, dass wir uns für andere berufliche Tätigkeiten interessieren als für jene, für die wir begabt sind. Und auch das kommt laut den Erkenntnissen jüngerer psychologischer Forschung häufig vor: Denn die Zusammenhänge zwischen Begabungen und beruflichen Interessen sind erstaunlich niedrig.
Es lohnt also, sich mit seinen tatsächlichen Begabungen auseinanderzusetzen und zu schauen, ob und wo Übereinstimmungen mit den Interessen bestehen bzw. ob man sich womöglich für etwas interessiert, für das man gar keine Begabung hat. Oder ob man umgekehrt ein besonderes Talent in einem Bereich hat, für den man gar kein Interesse entwickelt hat, vielleicht einfach nur deshalb, weil man sich nie darin ausprobiert hat.
Mit diesem Buch will ich nichts anderes, als für dieses Phänomen, das auch zum Problem werden kann, zu sensibilisieren. Dabei möchte ich einerseits den wissenschaftlichen Background der Bedeutung von Begabungen, Interessen und Persönlichkeit für beruflichen Erfolg und Zufriedenheit vorstellen und andererseits die Befunde, die die Psychologie zur mangelhaften Selbsterkenntnis des Menschen über seine Begabungen generiert hat. Und ich möchte Ihnen konkrete Hinweise geben, wie man seine Selbsterkenntnis für die eigenen Begabungen verbessern und herausfinden kann, welcher Beruf der richtige für einen ist.
Das Buch richtet sich somit an (fast) alle: An diejenigen, die mit Fragen der Ausbildungs- und Berufswahl nach der Schulausbildung befasst sind, aber ich möchte auch all die Menschen ansprechen, die mit ihrer gegenwärtigen beruflichen Situation unzufrieden sind und eine Neuorientierung ins Auge fassen oder fassen müssen:
Gleichsam als Appetizer, sich mit den eigenen Begabungen, Interessen und dem eigenen Charakter zu befassen, habe ich den Kapiteln 2 bis 4 jeweils kurze Selbsttests mit einer Auswertung vorangestellt. Natürlich können diese eine eingehende psychologische Diagnostik und Berufsberatung nicht ersetzen, sie können aber einen ersten Einblick geben, was einen erwartet, wenn man sich bei der beruflichen Erst- oder Neuorientierung professioneller Hilfe bedient. Warum ich ausdrücklich dazu anregen möchte, lege ich im Laufe dieses Buchs dar.
Neben der Bedeutung, die die Berufswahl für jeden Einzelnen hat, gibt es aber auch eine gesellschaftliche Dimension. In Zeiten des globalen Wandels, vor allem aber der knapper werdenden verfügbaren Arbeitskräfte wird – sowohl in Politik als auch Wirtschaft – gerne darauf hingewiesen, wie wichtig es für ein Land sei, die eigenen Talente bestmöglich zu erkennen und zu fördern. Insbesondere in Ländern mit wenig Rohstoffen und Bodenschätzen wird allenthalben darauf verwiesen, dass die wichtigste Ressource des eigenen Landes zwischen den Ohren seiner Bewohner sitzt: im Gehirn.
Mit dem Wandel von Industrie- zu Informationsgesellschaften haben viele erkannt, dass im globalen Wettbewerb eine positive wirtschaftliche Entwicklung nur dann möglich ist, wenn man die Ressourcen der Mitbürger effizient nutzt. Das bedeutet, Talente idealerweise schon während der Schul- und Ausbildungszeiten, aber auch später bestmöglich zu fördern, indem man auf die individuellen Stärken setzt, statt – so die häufig vorgebrachte Kritik – auf den Schwächen herumzureiten (was nicht heißt, dass man sich mit unzureichenden Grundkompetenzen im Lesen, Schreiben, Rechnen abfinden sollte). Immer mehr Bundesländer in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben zu diesen Zwecken Begabungskompasse, Talente-Checks und Ähnliches mehr entwickelt und eingeführt.
Ich selber durfte in einem österreichischen Bundesland ein derartiges Vorhaben wissenschaftlich begleiten: einen Talente-Check, mit dem seit mehr als zehn Jahren jährlich rund 12000 Schüler im Hinblick auf ihre Talente getestet und anschließend hinsichtlich ihres weiteren Karrierewegs beraten werden. Diese Maßnahme richtet sich nicht nur an Abiturienten, sondern vor allem auch an potenzielle Lehrlinge, die meines Erachtens in der Begabungsdebatte viel zu wenig beachtet werden. Der von Julian Nida-Rümelin trefflich beschriebene »Akademisierungswahn« führt nämlich dazu, dass letztlich beide Seiten zu kurz kommen: »Durch die Botschaft, dass jeder, der halbwegs gescheit ist, studieren sollte, wertet man die nicht-akademischen Bildungswege und Traditionen massiv ab … zum anderen zerstört man den Kern der akademischen Bildung …«1 Die »kognitive Schlagseite« in unseren Bildungssystemen führt zu einer zunehmenden Akademikerarbeitslosigkeit. Gleichzeitig herrscht im handwerklichen Gewerbe ein Mangel an qualifizierten Fachkräften. Die Abwertung der Lehre in Deutschland und Österreich, die ja international sogar als Erfolgsmodell gilt, ist daher unverantwortlich.
Obgleich die akademische Psychologie keine Schuld an dieser Entwicklung trägt, kann ihren Vertretern aber auch nicht zugutegehalten werden, dass sie wirksam etwas dagegen getan hätte. Vielmehr lässt sich auch hier eine bevorzugte Orientierung an höheren Bildungsschichten nicht ganz leugnen. Das geht Hand in Hand mit einer Fokussierung der psychologischen Begabungsforschung auf kognitive Bereiche, wie sprachliche, mathematische und räumliche Begabungen, die man gemeinhin unter dem Schlagwort Intelligenz subsumiert. Obgleich ich selbst Intelligenzforscher bin, erscheint mir eine solche Fokussierung der Begabungsforschung als zu eng, weshalb ich in der Konzeption des von mir langjährig betreuten Talente-Checks darauf hingewirkt habe, dass nicht nur kognitive, sondern auch soziale und emotionale Kompetenz bzw. Intelligenz, Kreativität und eine Praktische Alltagsintelligenz, eine Art Hausverstand, erfasst und in der Laufbahnberatung berücksichtigt werden.
Die verschiedenen Begabungen und Talente des Menschen sind wichtige Mitspieler bei der beruflichen (Neu-)Orientierung. Es sind aber nicht die einzigen: Auch die Interessen und der Charakter eines Menschen müssen bei der Berufsfindung berücksichtigt werden, wenn man eine befriedigende berufliche Tätigkeit ergreifen will. Denn, auch das zeigt psychologische Forschung, das Lebensglück eines Menschen ist in den meisten Fällen eng mit beruflicher Zufriedenheit verknüpft.
Allerdings soll es hier keineswegs um eine neoliberale Optimierungsdiagnostik gehen: Psychologische Karriereberatung sollte meines Erachtens nicht das primäre Ziel verfolgen,...