KAPITEL 1
Ein neuzeitliches Schlaraffenland
Sollte mich jemand fragen, ob ich so etwas wie ein neuzeitliches Schlaraffenland kenne, würde ich sofort antworten: „Aber ja, ich betrete mindestens einmal pro Woche solch einen Ort, nämlich beim Einkaufen in einem Supermarkt.“
Nachdem ich meine ersten 17 Lebensjahre im damals kommunistischen Rumänien verbracht habe, sind Kaufhäuser bis heute für mich Schlaraffenländer. Warum?
Zur Verdeutlichung lassen sie mich an dieser Stelle zwei Passagen aus meinem Buch „Schule ein Leben lang?“ einfügen, welche meine selbst gemachten Erfahrungen zu diesem Thema schildern.
„Um sein tägliches Leben im kommunistischen „Arbeiter und Bauernparadies“ organisiert zu bekommen, muss man viele Beziehungen, viele „Schmiergelder“ und viel Zeit zum Schlangestehen haben. Alle Läden sind staatlich, aber so manche Lieferung geht nur unter dem Verkaufstresen an ausgewählte Kunden. So konnte es einem passieren, dass stundenlanges Anstehen für ein bisschen Fleisch (meistens Mangelware) dann vergeblich war. Ideal ist es, wenn in Großfamilien rüstige Rentner das Schlangestehen übernehmen können, da man nicht immer jeden Arbeitsplatz für mehrere Stunden zum Einkaufen verlassen kann. Der rumänische Galgenhumor hat sich auch diesem Thema angenommen: wenn es mal ausnahmsweise Hühnerschenkel zu kaufen gab, ging die Nachricht wie ein Lauffeuer durch die Stadt: geh schnell, es gibt „Adidas“! Mir ist auch die Zeit noch in guter Erinnerung, als ich im Alter von 7/8 Jahren mit Brotbezugsscheinen (Kartellen) Schlange stehen musste, um die meiner Familie zustehende Wochenration an Brot zu erhalten. In ländlichen Gebieten gibt es nach wie vor die Möglichkeit ein paar Haustiere zu halten und durch diesen nicht staatlich kontrollierten Verkauf ein Zusatzeinkommen zu erzielen. Städter mit Beziehungen zum Land können so leichter an Nahrungsmittel kommen. Im Sommer und Herbst gibt es auch die Chance, sich auf dem Wochenmarkt mit den privat verkauften Produkten der Privatgärten einzudecken. Diese Preise sind nicht staatlich festgelegt und somit Verhandlungsbasis. Wer nur kann und die räumliche Möglichkeit hat, muss für die langen Wintermonate Vorratshaltung betreiben. Jeden Herbst lagerte mein Vater in unserem Keller Kartoffeln, Karotten, Nüsse und Äpfel ein. Für die Äpfel gab es ein Holzregal, in dem jeder Apfel mit Abstand zum nächsten hingelegt wurde, damit ein gleichzeitiges Faulen vermieden wird. Ich war eines der glücklichen Kinder, die nie hungern mussten und sogar jeden Tag einen Apfel hatten. Das schönste Mitbringsel meines Vaters aus Deutschland 1967 waren Orangen und die erste Banane meines Lebens. Luxusgüter wie Schokolade, Kakao, Kaffee, Alkohol, ausländische Zigaretten u.a. kann man in Rumänien zwar auch kaufen, aber nur in den „Intershops“ für Touristen und gegen Valuta wie DM oder Dollar, die rumänische Staatsbürger nicht besitzen dürfen. So, und nun besteht die Aussicht auf ein Leben ohne Schlangestehen und ohne die kräftezehrende Organisation des Alltags? Was wird man mit der vielen „Freizeit“ machen?“
„Obwohl ich 1968 schon einmal zu Besuch in Tübingen gewesen bin, erlebte ich 1970, in den ersten Wochen in Deutschland einen Kulturschock. Bei jedem Einkauf in den Supermärkten fühlte ich mich von den Unmengen an Waren und deren Vielfalt wie erschlagen. In meinem alten Leben wusste man nie, wann es was zu kaufen gab und man freute sich riesig über jeden ergatterten Gegenstand, auch wenn man diesen nicht gleich nötig hatte. Und nun stand ich beispielsweise bei Tengelmann vor einem vollen Regal Toilettenpapier (im Rumänien meiner Kindheit ständig Mangelware) und dies auch noch in mehreren Sorten, Marken und Farben. Aus dem alten Überlebensmuster der Vorratshaltung auszusteigen, musste auch zuerst gelernt werden. „Wie langweilig“ es gab ja jeden Tag das gleiche Angebot. Es bedurfte ebenfalls eines längeren Lernprozesses, ohne die aus dem kommunistischen Rumänien gewohnten staatlichen Einheitspreise, aus der neuen Warenvielfalt immer das günstigste Preis - Leistungsverhältnis herauszufinden. Natürlich war es phantastisch, alle zum Leben notwendigen Dinge einfach so, ohne Beziehungen und Schlange stehen, kaufen zu können, aber wieder Erwarten machte mir in der für mich neuen deutschen Überflussgesellschaft das Einkaufen nicht viel Freude. Sehr verwirrend und gleichzeitig beeindruckend war das saisonunabhängige Angebot an Gemüse und vor allem an Früchten. Unvergessen sind die täglich kaufbaren Zitrusfrüchte und Bananen. Nachdem jeder Mensch Luxus anders definiert, gehört frisches Obst für mich bis heute dazu, ebenso wie deutsche Schokolade oder fließend warmes Wasser zu jeder Tageszeit.
Wir lernten auch die Selbstbedienung in allen Läden schätzen und waren sehr angenehm überrascht, wie kompetent und freundlich das Personal einen beraten hat. In rumänischen Geschäften gab es damals nur spärlich gefüllte Regale hinter einem Tresen, unzugänglich für die Kundschaft. Das Personal war demotiviert und unfreundlich, da der Monatslohn unabhängig davon war, wie viel Einsatz man brachte. So war man als Kunde auf die Gnade der Verkäufer oder auf Beziehungen angewiesen. An die Freiheit der eigenen Wahl gewöhnten wir uns schnell, was besonders das Einkaufen von Kleidung wesentlich erleichterte.
Ein Besuch des Modehauses „Zinser“ war damals 1970 für mich ebenfalls ein Beweis für den Wohlstand der deutschen Gesellschaft. Auch hier Unmengen von Kleidung in jeder Farbe und Größe.“
Wenn man bedenkt wie groß die Veränderungen sind, vom rumänischen Laden meiner Kindheit, über die Tengelmannfiliale in Tübingen im Jahre 1970 bis hin zu den Megamärkten beispielsweise der Carrefour Kette in Südeuropa, so kann man vielleicht nachvollziehen, warum solche Kaufhäuser für mich Schlaraffenländer sind. Für die meisten Menschen sind diese Schlaraffenländer selbstverständlich und sie betreten sie mit Erwartungen wie:
- Sauberkeit
- Alles soll immer verfügbar sein
- Eine große Auswahl bei einzelnen Artikeln wie beispielsweise ca. 300 verschiedene Käsesorten in Frankreich, dem Land der Gourmets. Wie kommt es zu dieser Käsevielfalt gerade in Frankreich? Unser westliches Nachbarland hat Anteil an drei verschiedenen Klimazonen: das gemäßigt ozeanische Klima im Westen, das Übergangsklima zwischen gemäßigt ozeanisch und gemäßigt kontinental im Osten und subtropisches Mittelmeerklima im Süden. Kühe, Ziegen und Schafe fressen abhängig von klimatischen Bedingungen demnach unterschiedliche Gräser und Sträucher, wodurch sie in verschiedenen Gegenden Frankreichs auch unterschiedliche Milch geben, aus der dann auch sehr unterschiedlich schmeckende Käsesorten gemacht werden können
- Gute Kennzeichnung und somit keine abgelaufenen Waren
- Gutes Preis- Leistungsverhältnis und billige Angebote
- Schnelle, kompetente Bedienung und gute Beratung
- ansprechende Verpackungen
Zusammengefasst kann man sagen, die meisten Konsumenten in den Industrieländern sind inzwischen daran gewöhnt, im Vollen zu leben, mit immer verfügbarem Überfluss zu erschwinglichen Preisen, was einem Schlaraffenland doch sehr nahe kommt, wenn man bedenkt, dass auch heute viele Millionen Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern von solchen Verhältnissen nur träumen können.
Haben unsere Schlaraffenländer auch Nachteile und wenn ja welche?
- Es bedarf einer immensen Logistik, verbunden mit einem riesigen Transportaufkommen, um uns termingerecht mit diesem Überfluss zu versorgen, was hohe Kosten und einen sehr großen Rohstoffverbrauch verursacht und nicht zu letzt äußerst umweltschädlich ist.
- Eine Folge des riesigen, immer verfügbaren, günstigen Angebotes ist, dass sich bei uns eine Wegwerfgesellschaft entwickelt hat, die angesichts des Hungers in vielen E-Ländern sehr fragwürdig ist.
- Nur durch eine extrem rationalisierte und kostenintensive „Turbolandwirtschaft“ mit hoher Mechanisierung und großem Einsatz von Düngemitteln, Pestiziden, Herbiziden, Fungiziden, um nur einige Produkte der agrarchemischen Industrie zu nennen, konnte unsere „Überversorgung“ erreicht werden.
- Unsere industrialisierte Landwirtschaft in den I-Ländern bietet heute nur noch wenige Arbeitsplätze und hat solch einen großen Konkurrenzdruck aufgebaut, dass dem viele Bauernhöfe nicht standhalten können. Das daraus resultierende Bauernhofsterben führt zu einer Abwanderung der ländlichen Bevölkerung und zur Verstärkung der Metropolisierungstendenzen in I-Ländern. Übrig bleiben dünn besiedelte, unterversorgte Räume mit immer kleineren Arbeitsplatzangeboten, was große gesellschaftliche und soziale Veränderungen mit sich bringt.
- Unsere „Turbolandwirtschaft“ mit dem Ziel in immer kürzerer Zeit, auf immer kleinerer Fläche...