Heilen früher und heute
In diesem Buch wird es um traditionelle Heilanwendungen gehen, wie sie von unseren Vorfahren praktiziert wurden.
Doch bevor es richtig losgeht, gestattet mir bitte noch ein, zwei Bemerkungen.
Beim Thema Heilen schweifen die Blicke vieler Suchender in Richtung Osten, nach Indien, China oder Japan. Chakrenarbeit, Pranaheilung, Reiki und manches mehr erfreut sich hierzulande großer Beliebtheit. Auch nord- und südamerikanische oder afrikanisch inspirierte Heilsysteme werden eifrig studiert und ausprobiert.
Wenn man das von außen betrachten würde, könnte man den Eindruck gewinnen, in unseren Breiten wäre nichts Substanzielles zum Thema Heilung entstanden, da überall nach Heilmethoden gesucht wird, nur nicht vor der eigenen Haustür.
Ich habe übrigens nichts gegen Ansätze, die außerhalb unseres Kulturkreises entstanden sind, und wende manche davon selbst gern an. Es geht mir in diesem Buch also keineswegs darum, die einheimischen Heilwege als das Nonplusultra darzustellen (was auch ziemlich engstirnig wäre) – zumal man statt »einheimisch« getrost »europäisch« sagen darf, da sich viele Anwendungen und Heilsprüche beinahe identisch auf unserem ganzen Kontinent wiederfinden. Einige Verfahrensweisen ähneln einander sogar weltweit in einem Maße, dass man sie als schlichtweg universell bezeichnen muss.
Dass unsere Horizonte heute so weit gesteckt sind, ist ein großes Geschenk. Und selbstverständlich hätten unsere Vorfahren die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, ebenfalls ausgeschöpft, wenn sie ihnen zur Verfügung gestanden hätten.
Ich möchte einen Beitrag dazu leisten, dass unsere eigenen magischen Heiltraditionen nicht übersehen oder gar gering geschätzt werden. Manchmal scheint es nämlich so, und diese Entwicklung hat vor allem zwei Gründe: Zum einen lieben Menschen alles Exotische. Das Fremde, das Außergewöhnliche und Ungewohnte zieht die Aufmerksamkeit stärker auf sich als das, wovon man im Alltag umgeben ist. Ob man es so genau kennt, das sei einmal dahingestellt, aber man meint es zumindest zu kennen. Auf der anderen Seite sorgt auch die Zurückhaltung vieler Praktizierender dafür, dass ihr altes Wissen fast unbekannt ist oder mit ihnen stirbt, weil sich niemand gefunden hat, der ihre Arbeit weiterführt. Denn auch wenn das Thema Heilung aktuell ist wie eh und je, haben die echten, oft recht im Verborgenen praktizierenden Heilerinnen und Heiler bis heute oft ihre liebe Not, die richtigen Leute zu finden, an die sie ihr Wissen weitergeben können.
Es gibt eine Trennlinie zwischen der schillernden Welt der Workshops, Seminare und Coachings und den eher leise Praktizierenden der heilenden Volksmagie. Letztere zeigen sich fast nie in den Medien, sie arbeiten vor allem im direkten Umfeld ihres Ortes, und man erfährt von ihnen nur durch Mundpropaganda, zumal sie, was ihre Kunst betrifft, nicht unbedingt die Gesprächigsten sind.
Das hat gute Gründe, denn auch der vernünftigste Heiler, der die Leute gegebenenfalls rechtzeitig zum Arzt schickt, über großes Können verfügt und nur lautere Absichten verfolgt, ist vor rechtlichen Problemen nicht geschützt.
Vor einer Weile ging die Geschichte eines schwäbischen Volksheilers durch die Presse, der auf einem Bauernmarkt als Händler arbeitet und für eine von Kopfschmerzen geplagte Frau ein Gebet sprach. Er hat kein Geld angenommen und keine Heilaussagen getroffen. Trotzdem wurde er dafür von einer dritten Person, die das Ganze mitbekommen hatte, vor Gericht gebracht. Der Gebetsheiler hat den Fall gewonnen, aber diese Geschichte macht klar, warum so viele Heilerinnen und Heiler nur im kleinsten Kreis arbeiten und auf Verschwiegenheit bestehen.
Trotzdem leben die alten Bilder unserer Vorfahren natürlich auch im Hier und Heute munter weiter. Erst kürzlich sah ich in einer Werbung für ein Erkältungsmittel etwas, das unsere Altvorderen als »Aufhocker« bezeichnet hätten. Per Computer hatten die Werbeleute einem Mann eine Art graues Geistwesen auf die Schulter gezaubert, das die Erkältung symbolisieren sollte. Ob bewusst oder unbewusst, sie haben damit auf ein uraltes Bild zurückgegriffen.
Wenn man sich mit heilender Magie befasst, stellt man aber auch fest, an welchen Punkten sich die Zeiten geändert haben. Früher beschäftigten sich viele Sprüche und Heilzauber mit Infektionskrankheiten, mit Wundheilung und Verbrennungen. Einige der Sorgen von damals sind bei uns kaum noch aktuell. Mit größeren Wunden geht man zum Arzt, gegen viele Infektionskrankheiten gibt es wirksame Medikamente und im riesigen Angebot der Supermärkte kann man das ganze Jahr über aus dem Vollen schöpfen, wenn es um die Versorgung mit Vitaminen und Nährstoffen geht.
Auch das Verletzungsrisiko ist kleiner geworden (oder hat sich verschoben, beispielsweise in den Autoverkehr). Wer hackt heute schon noch Holz zum Heizen, mäht das Gras mit der Sense oder kocht die Wäsche in großen Zubern? Früher reichte – viel häufiger, als dies heute der Fall ist – schon die geringste Unachtsamkeit aus, um sich ernsthaft in Gefahr zu bringen.
Bei alten Heilzaubern ging es oft um solche Situationen: Blut stillen, Verbrennungen lindern, den Schmerz nehmen und eine narbenfreie Abheilung ermöglichen. Man konnte keinen Notarzt rufen, es kam schon selten genug vor, dass überhaupt ein Arzt irgendwo im Umkreis verfügbar war und der kostete teures Geld, das die wenigsten hatten.
Natürlich hat sich auch der Wissensstand erheblich verändert. (Unsere Vorfahren waren, was ich an dieser Stelle noch einmal wiederholen möchte, keinesfalls dümmer als wir, doch vieles war ihnen einfach noch nicht bekannt.) Es macht einen Unterschied, ob man Viren, Bakterien und sonstige Erreger kennt oder nicht. Wobei alte Zeichnungen von Krankheitsdämonen ihnen manchmal verblüffend ähnlich sehen1 und wir immer noch den »Frosch im Hals« kennen oder uns ein »Zipperlein« einfangen (Zipper ist ein altes Wort für Zwerg).
Die moderne Medizin hat uns viele Sorgen und Ängste genommen. Doch sind wir deshalb glücklicher und gesünder? Nicht unbedingt, denn jede Zeit bringt ihre ganz eigenen Herausforderungen mit sich.
Waren früher vor allem Infektionen und fehlende chirurgische Möglichkeiten ein Problem, schlagen wir uns heute mit Stresserkrankungen, Allergien, Hautproblemen, Herz-Kreislauf- und Wohlstandskrankheiten herum. Wobei da vieles reine Glaubenssache ist. Beispiel gefällig?
Schon der Ötzi litt, wie man heute weiß, an Arterienverkalkung und Herz-Kreislauf-Problemen. Dabei hat der sich ja nun wirklich ausschließlich von Naturkost ernährt. Man sieht also: Nur weil wir vielleicht »gesund« leben, werden wir noch lange nicht unverletzbar oder perfekt.
Wenn man sich nur einmal anschaut, was in den vergangenen Jahrzehnten alles als gesund galt: In (noch gar nicht so) alten Kochbüchern wird Zucker als die reinste und beste Form der Energie gepriesen. Die Experten empfahlen mal nur gedünstete Kost, dann wieder Rohkost. Und viele Gewürze, die früher für allzu anregend und deshalb schädlich gehalten wurden, werden heute empfohlen, weil sie den Organismus unterstützen. Wie sich die Zeiten doch ändern!
Es erinnert heute ein wenig an modernen Ablasshandel, wenn es immer wieder heißt, dass irgendwelche ominösen Dschungelpflanzen, neue Wunderwirkstoffe, Diäten, Sportprogramme und dergleichen ein gesundes (ewiges?) Leben versprechen. Dabei sind die Prozesse, die sich im Inneren des Menschen abspielen, so viel komplexer …
Natürlich sind auch noch andere Aspekte von Bedeutung. Zum Beispiel der, dass die BeHANDlung beim Arzt ihren Namen nur noch selten verdient. Alles muss schnell gehen, manchmal reicht es nicht mal mehr für einen Händedruck zur Begrüßung. Viele Mediziner müssen weit mehr Zeit mit Verwaltungsaufgaben verbringen als mit ihren Patienten. Durch falsches oder übermotiviertes Training für die Fitness entstehen Schäden an Gelenken, Sehnen, Bändern und Muskeln, oftmals schleichend, sodass die Rechnung erst zehn oder zwanzig Jahre später präsentiert wird. Auch die unkontrollierte Einnahme von Vitaminpräparaten schadet mehr, als sie hilft, und der Übergang von »bewusster Ernährung« zu einer Essstörung kann ziemlich fließend sein.
Man muss kein Experte sein, um zu erkennen, dass wir in einer Zeit des Superlativs leben: alles perfekt, nicht versagen, bloß keinen Makel bitte! Es ist wichtig, sich mit den Extremen unserer Zeit bewusst auseinanderzusetzen, denn niemand lebt im luftleeren Raum. Und wir alle sehen Tag für Tag die retuschierten Bilder angeblich perfekter Menschen – mit der ebenso unterschwelligen wie dringenden Aufforderung, ihnen nachzueifern.
Krankheit wird oft als eine Art Versagen erlebt, als etwas, an dem man »schuld« ist, das man eigentlich hätte verhindern müssen. Die Situation am Arbeitsmarkt tut ein Übriges: Wer bringt heute schon noch den Mut auf, sich ordentlich auszukurieren?
Was den Druck betrifft, der auf die Patienten ausgeübt wird, bekleckern sich übrigens auch einige Esoteriker nicht gerade mit Ruhm, wenn sie den Kranken etwa irgendwelche karmische Altlasten oder sonstige Sünden einzureden versuchen. Als hätten sie mit ihren Beschwerden nicht schon genug zu tun.
Ein bisschen Humor schadet nie, wenn man sich dem Thema nähert, dem ich mich in diesem Buch widme.
Vor einer Weile hatte ich es beim Joggen etwas übertrieben, weil es mir so viel Spaß gemacht hat und ich mich einfach nicht zurückhalten konnte. Danach streikte mein Knie, und wenn...