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KAPITEL 2
Ein großes Haus irgendwo
Frauen, deren Ehemänner im Krieg fern der Heimat gekämpft haben, oder Eltern von Missionaren, deren Söhne und Töchter viele Jahre in Übersee ihren Dienst versahen, kennen diese überwältigende Freude, die zuerst einem Wiedersehen vorausgeht – und die dann, wenn es Wirklichkeit geworden ist, mit jeder Faser erlebt wird.
Ian schrieb im Januar 1945 einen »verrückten« (wie er ihn nannte) Brief, um mir mitzuteilen, ihm wäre gerade ein Geheimnis anvertraut worden, das ich unbedingt für mich behalten müsse: »Ich bekomme Urlaub und werde heimkommen!«
Er fügte hinzu: »Ich muss wohl kaum erwähnen, dass ich beim Erhalt der Nachricht 75 Mal schnell hintereinander laut ›Halleluja und Ehre sei Gott in der Höhe‹ rief, sodass der Glühfaden in der Birne zerriss.«
Das Friedensabkommen in Europa wurde jedoch erst im Mai 1945 unterzeichnet. Meine Vorfreude auf das Wiedersehen musste sich sogar noch bis in den Juli hinein gedulden, und dann wurde Ian auch nur für fünf Wochen beurlaubt. Aber das war alles Nebensache, als er dann tatsächlich vor mir stand.
Jeder, der eine lange Trennung während eines furchtbaren Krieges mit all seinen entsetzlichen Gefahren durchgemacht hat, kennt diesen unvergesslichen Moment äußerster Freude und des unbeschreiblichen Glücks, das sich mit einer unendlichen Dankbarkeit gegenüber dem allmächtigen Gott verbindet.
Ian sollte nun auch endlich seinen kleinen Sohn Christopher kennenlernen, den er noch nie gesehen hatte. Beide hatten die eingerahmte Fotografie des anderen immer wieder eingehend betrachtet. Deshalb schrieb Ian vor seiner Rückkehr: »Versuch dein Bestes, den kleinen Christopher davon zu überzeugen, dass sich das Gesicht seines Vaters nicht wie ein Stück Glas anfühlt – und es auch normalerweise nicht in einem Rahmen steckt, ob nun aus Holz oder etwas anderem. Ich würde es schrecklich finden, wenn er sich an ein Bild an der Wand hält, statt sich seinem rechtmäßigen Vater zuzuwenden!«
Ian würde außerdem in einem Haus wohnen, das ihm zwar gehörte, er aber noch nie gesehen hatte! Ich wohnte bereits mit meiner Mutter und dem kleinen Christopher darin. Ian hatte arrangiert, dass ich es in Raten abbezahlte, die ich von seinem Sold von der Bank abhob. Während er im Ausland war, hatte ich zunächst bei einer guten Freundin in Nottingham gewohnt, deren Ehemann auch fern von daheim im Krieg diente, aber ich musste dringend ein Haus finden, in dem auch meine Mutter bei mir sein konnte, wenn unser Baby zur Welt kam. In der Zeit des Krieges war es sehr schwer, freie Häuser zu finden; sollte eines leer stehen, so wurde es sofort von den Behörden mit Soldaten oder Flüchtlingen aus zerbombten Städten gefüllt.
Doch auf schier unglaubliche Weise, die nur damit zu erklären ist, dass Gott seine Hand im Spiel hatte, bekam ich mit, dass womöglich ein Haus zum Verkauf stand; nur sei die Besitzerin so übellaunig, dass niemand sich ihr zu nähern wage. Das forderte meinen irischen Kampfgeist heraus! Nachdem ich angeklopft hatte, öffnete die Dame ihre Tür nur einen Spalt breit und fragte: »Wo ist ihr Ehemann?« Als sie hörte, dass er mit seinem Regiment gerade in Griechenland im Einsatz gewesen war, ehe er nach Italien weitergeschickt wurde, rief sie: »Kommen Sie herein.«
Ich fand bald heraus, dass die verwitwete Dame anscheinend außerordentlich glückliche Erinnerungen an einen Urlaub in Griechenland hatte, den sie dort einst mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann verbrachte. Nachdem sie mir verschiedene Fragen über Ians Eindrücke von Griechenland gestellt hatte, bestätigte ich ihr, dass er besonders von der Freundlichkeit und Güte der Menschen dort beeindruckt war.
Wegen ihres offensichtlichen und unerwarteten Interesses fügte ich, so gut ich mich an sie erinnern konnte, noch weitere Einzelheiten hinzu und ergänzte sie mit anderen passenden Fakten, von denen ich wusste. Auf einmal fragte mich die »übellaunige« Dame, ob ich wegen ihres Hauses weiter oben an der Straße gekommen sei. Wenn ja, dann würde sie es für 600 englische Pfund verkaufen. Ich antwortete, dass wir meiner Ansicht nach diese Summe aufbringen könnten.
Als Ian endlich wenigstens einen Urlaub lang daheim sein konnte, stellte ich ihm voller Stolz zuerst unseren hübschen kleinen Sohn vor, der sich bereits glücklich im neuen Haus seines Vaters niedergelassen hatte – meinem unerwarteten Schnäppchenkauf! Es war eine dreistöckige Doppelhaushälfte mit drei Schlafzimmern, einem Badezimmer und einer Dachkammer im dritten Stock, aus der man noch ein kleines Schlafzimmer machen konnte. Unten gab es zwei Wohnzimmer und eine Küche. Vor der Eingangstür befand sich sogar ein winziger Vorgarten, besser gesagt, einige Quadratzentimeter nicht gemähten Rasens. Da Ian und ich noch nie in der Situation gewesen waren, ein eigenes Heim einzurichten, war es eine große Hilfe, dass meine Mutter bei ihrem Einzug ihre Möbel mitgebracht hatte.
Ian war richtig glücklich über sein Haus. Nachdem er entschieden hatte, die alte Treppe brauche einen neuen Anstrich, fand er seinen Weg in die Stadt und kaufte Farbe. Ich musste lachen, als ich auf der Dose als Kennzeichnung las: »Kriegsschiffsgrau«. Er ging sofort ans Werk – mit sich allein und ganz in die schlichte Aufgabe vertieft. Auf mich wirkte es wie eine Art von Therapie nach den vielen Monaten des Krieges, die er gerade hinter sich hatte. Dieser Soldat brauchte keinen Psychiater.
Während des folgenden Sommers, als Ian wieder eine Weile zu Hause war, wurde er von einem guten Freund, dem Evangelisten Tom Rees, eingeladen, eine Woche in Hildenborough Hall zu sprechen – einem prachtvollen Landsitz im Süden Englands. Tom hatte den Besitz erst kürzlich erworben und daraus ein »Christliches Ferien- und Konferenzzentrum« gemacht. Tom hatte vor dem Krieg viel in den USA gepredigt. Dort hatte er, wie ich glaube, erlebt, wie positiv sich diese Art geistlichen Dienstes auswirkt, bei dem Menschen jeden Alters, im Rahmen eines organisierten Ferienprogramms, einschließlich eines guten morgendlichen und abendlichen Bibelunterrichts, mit der frohen Botschaft Jesu Christi vertraut gemacht werden. Für britische Christen war das ein neues Konzept, das ihnen und uns zum Segen wurde.
Ians Urlaub näherte sich dem Ende. Er würde mit »dem berühmtesten Regiment der britischen Armee, den Royal Fusiliers« – wie er es scherzend nannte – nach Deutschland zurückkehren, um dort für einige Monate einen kleinen Teil der Besatzungsarmee zu bilden. Nur Gott allein wusste, dass durch seine Stationierung in Velbert im Rheinland ein festes Fundament gelegt werden würde für das, was man später »die Fackelträger« nannte.
Bevor er Nottingham und unser »neues« Haus mit der frisch gestrichenen Treppe in Kriegsschiffsgrau verließ, sprach Ian mit mir über seine Zukunft.
Da ich genau wusste, dass es seine tiefste Sehnsucht und sein größter Wunsch waren, seinen früheren evangelistischen Reisedienst wieder aufzunehmen, sagte ich ihm schlicht und einfach, ich würde mir von ihm nichts anderes wünschen und erwarten, als dass er dort weitermachte, wo er vor dem Krieg aufgehört hatte. Ich würde glücklich und zufrieden damit sein, hier im Haus zu bleiben oder mich nach einem Cottage (kleines Landhaus) auf dem Lande umzusehen und mich dort um die Familie zu kümmern. Zu meiner Überraschung sprach Ian daraufhin die inzwischen wahrhaft berühmt gewordenen Worte: »Ich glaube, wir brauchen ein großes Haus irgendwo, in dem wir ganz viele junge Leute unterbringen können, um sie zu lehren, was es in Wahrheit heißt, als Christ zu leben.« Etwas überrascht fragte ich, wo das denn sein sollte; darauf hatte er keine Antwort. Ich breitete eine Landkarte von England vor uns aus mit der Bemerkung: da ja Tom Rees bereits sein großes Haus im Süden des Landes habe und wir ihm keine Konkurrenz machen wollten, sei es wohl besser, im Norden zu suchen. Ende der Unterhaltung! Ich muss zugeben, ich hatte kein besonderes Interesse an einem ›großen Haus irgendwo‹. Ich hatte ja schon Pläne im Kopf über mein ›Häuschen auf dem Lande‹, mit Rosen um den Eingang und glücklichen Hühnern, die ihre Eier in ein kleines Hühnerhaus mit offener Tür legen – ›Freiland-Eier‹, die so gesund für die Kinder sind.
Über ›das große Haus irgendwo‹ wurde nicht mehr geredet. Vor uns lag ein weiteres Jahr der Trennung; Gott sollte in ihm ein neues Kapitel seiner Geschichte mit uns schreiben.
Für viele Christen, die nach Gottes Willen in ihrem Leben fragen, bewahrheiten sich die Worte aus Sprüche 16,9: »Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr allein lenkt seinen Schritt« (Luther). Ians Wunsch, zu seiner früheren evangelistischen Reisetätigkeit zurückzukehren, sollte in der Tat in Erfüllung gehen, aber auf ganz andere Weise als gedacht. Obwohl es so aussah, als würden seine Pläne aufgehalten, als er ein Teil der Besatzungsarmee in Deutschland wurde, war genau das der entscheidende Faktor, der zur Gründung der Capernwray Missionary Fellowship of Torchbearers (Missionsgemeinschaft der Fackelträger) führen sollte.
Ian gelangte nach Velbert und eine seiner ersten Aufgaben war, für das zahlreiche militärische Personal, das in dem Gebiet dort stationiert werden sollte, Unterkünfte zu finden. Die Behörden vor Ort gaben ihm zwei Listen mit Namen und Adressen von möglichen Quartieren. Auf der ersten waren die Privathäuser örtlicher Bewohner angeführt, auf der zweiten diverse Fabriken und Geschäftshäuser. Deutschen Familien anzukündigen, dass sie ausquartiert werden sollten,...