3 Philosophische Lebensführung – Erkenne dich selbst und werde der du bist
Michael Niehaus
3.1 Selbstführung und Selbstmanagement – Grundlagen eines gelingenden Lebens
Bevor sich für einen Manager Fragen der Mitarbeiter- und Unternehmensführung stellen, steht das Thema der Selbstführung. Denn wie kann man andere führen, wenn man nicht weiß, wer oder was einen selber leitet, wenn man nicht weiß, wer man ist und welche Ziele man im eigenen Leben verfolgt?
Um als Manager erfolgreich handeln zu können, muss man, wenn man Sokrates folgen möchte, diese grundsätzlichen Fragen ausreichend reflektiert haben. Es gilt, den eigenen Standpunkt zu klären und sich Rechenschaft über seine persönlichen Werte und Ziele abgelegt zu haben.
Glückliches Leben als Ziel
„Was wir wollen, darin sind sich die Menschen einig“, schreibt Aristoteles, einer der wichtigsten Denker der Antike: „Alle Menschen streben nach Glück“.
Doch was dieses glückliche und gelingende Leben im Einzelnen ist, dazu bestehen seit jeher unterschiedliche Ansichten. Nach Sokrates ist es das höchste Ziel des Menschen, ein erfülltes und gutes Leben zu führen. Daher ist es Ausdruck der Vernunft, sich über das Gelingen des Lebens Gedanken zu machen. Was ein erfüllendes, gelingendes oder gutes Leben ist, ist eine der zentralen Fragen der sokratischen Philosophie. Dabei geht es nicht um die theoretische Erkenntnis um ihrer selbst willen, sondern um die Praxis des guten Lebens. Sokrates verkörpert gewissermaßen als Mythos die philosophische Suche nach dem guten Leben. Er ist gleichsam der Prototyp und das Vorbild aller Bemühungen um eine gute und gelingende Lebenspraxis – mit allen Konsequenzen.
Sokrates war sich klar darüber, dass er nie endgültige Erkenntnisse erlangen würde und dass ein solches Wissen keinem Menschen zugänglich sei. Dennoch bestand nach seiner Überzeugung für jeden die erste Aufgabe darin, so gut wie möglich zu werden und zu leben.
Seine die Wahrheit suchende Methode der Gesprächsführung sehen manche als Beginn der (Selbst-)Erziehung und der professionellen Beratung. Sokrates ging davon aus, dass das Streben zum Guten dem Menschen angeboren sei, und er wollte mit seinen Gesprächen gewissermaßen als Hebamme für die im Inneren des Menschen vorhandenen richtigen Antworten dienen. Dabei zeigte sich, dass das richtig verstandene persönliche Glück der Menschen nicht den Interessen der Gemeinschaft entgegen stand, denn Lebensglück – dies stand für Sokrates fest – war nur über ein sittlich gutes Leben möglich.
Das von Sokrates untersuchte Thema des guten und erfolgreichen Lebens ist heute mindestens so aktuell wie damals. Wesentliche Voraussetzung für ein gelingendes Leben ist dabei die Frage nach den eigenen Zielen. Für Aristoteles war es beispielsweise ein Zeichen von Dummheit, sein Leben nicht auf ein Ziel hin zu ordnen und auszurichten. Er betont den wegweisenden Charakter des Ziels (gr. Telos) und ist der Überzeugung, dass jedes Lebewesen ein ihm innewohnendes spezifisches Ziel hat.
Gemäß des „gnothi seauton“ sollte Selbsterkenntnis als tägliche Übung der Anfang sein, dieses Ziel zu entwickeln, die Basis für jedes sinnvolle Denken über Gott und die Welt im Großen sowie über die kleinen Dinge des Alltags. Mit Sokrates auf dem Marktplatz von Athen wurde deutlich, dass Philosophieren letztlich nichts anderes als diese Selbsterkenntnis ist. Dieses Führen und Begleiten zur Selbsterkenntnis ist damit die Kernkompetenz der Philosophie.
Selbsterkenntnis wird bei Sokrates so zu einem Persönlichkeit bildenden und Persönlichkeit schaffenden Element. Diesem Innenleben, diesem Selbst, wird stets die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Selbsterkenntnis, Einsicht in das eigene Wollen und Handeln, hat oberste Priorität für Sokrates. Denn nur, wenn die eigene Individualität in ihren Vorlieben und Talenten, aber auch in ihren Defiziten transparent wird, besteht die Möglichkeit, das Leben gezielt zu gestalten. Nur wenn man bewusst will und aktiv verfolgt, was unbewusst in einem angelegt ist, so Sokrates, wird man auch die richtigen Entscheidungen treffen. Daraus folgert er, dass ein ungeprüftes Leben nicht lebenswert ist.
Freiheit wird damit zum Wissen um die stärksten Handlungsmotive, ihr Sprungbrett ist die Selbsterkenntnis. Der Mensch ist nur frei, wenn er zuerst einmal sich selbst erforscht hat. Weiß er, was er wirklich will und was er auch zu leisten im Stande ist, so kann er, wenn er weiterkommen möchte, bei vollem Bewusstsein verwirklichen, was seinem Charakter und seinen Talenten entspricht.
3.2 Philosophie als Lebenshilfe?
Diese Überlegungen zum glücklichen und gelingenden Leben mögen auf den ersten Eindruck ein wenig fremd erscheinen. Fragen nach individuellem Glück und Erfolg werden in unserer Zeit doch zunächst nicht mit Fragen der Philosophie in Verbindung gebracht, sondern man denkt zunächst an die Psychologie oder Psychotherapie. Die gesamte sog. „Lebenshilfeliteratur“ wird ja auch von Autoren mit einem psychotherapeutischen Background dominiert.
Die eigentliche Frage dabei ist: Kann die Philosophie eine Hilfe für das Leben sein? Gibt Philosophie Unterstützung und Anregung in der alltäglichen Lebensführung? Ist die philosophische Beratung eine Alternative zu den etablierten Beratungsangeboten der kirchlichen Seelsorge, der Psychologie oder esoterischen Heilsversprechungen?
Zunächst ist festzuhalten, dass es einen immer größer werdenden gesellschaftlichen Bedarf an Orientierung in Lebensfragen gibt. Die Nachfrage von Beratung in Lebensfragen hat ihre wesentliche Ursache im Verlust einer Tradition, die bis ins Detail des Alltags hinein vorgab, wie richtig zu leben sei. Praktisches Lebenswissen wird in der Postmoderne nicht mehr von Person zu Person, von Generation zu Generation weitergereicht, sondern jeder einzelne ist in Fragen der Lebensbewältigung ganz auf sich allein gestellt, der breite Fundus eines gesellschaftlich überlieferten, gemeinsamen Lebenswissens steht nicht mehr zur Verfügung. Diese Situation wird noch verschärft durch die zunehmende Komplexität und Unübersichtlichkeit moderner Gesellschaften und die immer neuen Herausforderungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik.
Es gibt keine gesellschaftliche Institution mehr, die für die Beantwortung der Frage nach der dem gelingenden Leben, nach der richtigen Lebensführung zuständig ist. Das Fehlen eines Leuchtturms, eines zentralen Orientierungspunktes ist wesentliches Merkmal unseres Gesellschaftssystems. Weder die Politik noch die Wirtschaft, Wissenschaft oder ein anderes gesellschaftliches Subsystem können dies leisten. Für einzelne Lebensbereiche haben sich hochprofessionelle Beratungs- und Dienstleistungsangebote etabliert, die den Weg von der Wiege bis zur Bahre erleichtern. So gibt es ein Gesundheitssystem mit einem vielfältigen Angebot, ein Bildungs- und Erziehungssystem, Beratungen im Rechts- und Finanzsystem durch Anwälte und Steuerberater, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch für das eher private Umfeld gibt es den „personal fitness coach“, die Stil- oder die Ernährungsberatung.
Doch wie werden diese Einzelfragen zusammengebunden, wo wird die Frage nach dem Leben als Ganzem adressiert? Wo findet der zeitgenössische Mensch einen Raum, um sich über die Basis seines Lebens Gedanken zu machen, quasi die Fundamente für darauf aufbauende Einzelaspekte des Lebens zu legen?
Die Kirchen haben dieses Monopol auf Sinndeutung und praktische Lebenshilfe schon lange verloren und auch die „Psychowelle“ mit dem Ideal der Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung hat mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. Heute schweift der suchende Blick schnell gen Osten, wo das Heil in den Klischees von scheinbarer Ursprünglichkeit und „Dalai Lama Superstar“ gesucht wird.
Doch die existenziellen Fragen bleiben: Wer bin ich? Wo komme ich her, wo gehe ich hin? Hat mein Tun, mein Denken und Handeln ein Ziel? Warum gibt es Leid, Krankheit und Tod? Was ist Glück, was der Sinn des Lebens und was bedeutet überhaupt „Leben“, „Glück“ oder „Sinn“?
Um Antworten zu finden, suchen Menschen verstärkt nach einer Möglichkeit und einem Rahmen, in dem die Erörterung dieser Fragen möglich ist. Ein solcher Ort des Innehaltens und Nachdenkens ist die Philosophie. Dieser Wunsch nach einer (Rück-) Besinnung auf die Philosophie zeigt sich beispielsweise im Erfolg von Büchern wie „Sophies Welt“ von Jostein Gaarder oder „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“ von Richard David Precht und Fernsehsendungen wie das ehemalige „Philosophische Quartett“ im ZDF oder der wöchentlichen Sendung „Das Philosophische Radio“ auf WDR 5 zur besten Sendezeit. Das große Interesse der Leser und Zuhörer geht über das bloße Bildungsinteresse hinaus, sich mit der Tradition des abendländischen Denkens vertraut zu machen, es ist vielmehr Ausdruck eines Bedürfnisses nach Reflexion und Besinnung, verbunden mit der Hoffnung bzw. der...