Leittiere
In diesem Kapitel stellen wir Ihnen einige Tiere vor, die unterschiedliche Aspekte von Führung verkörpern. Angefangen beim »König der Tiere«, dem Löwen, über Wölfe, Elefanten, Wüstenvögel, Orang-Utans, dem überaus flexiblen Fuchs bis hin zum »König der Lüfte«, dem Adler. Er lebt im Unterschied zu anderen Leittieren keineswegs in einem sozialen Verband, sondern ist ein ausgesprochener Einzelgänger. Dennoch gilt er für viele Führungskräfte als Leittier, und zwar als ihr ganz persönliches Leittier. Denn der Adler steht für Freiheit, Stärke und die besondere Fähigkeit, Übersicht mit Detailkenntnis zu verbinden.
Der König der Tiere ‒ der fette faule Löwe
Seit jeher ist er das Symbol für Macht, Führungsstärke und Souveränität: Der König der Tiere, der Löwe. Warum bloß? Ein männlicher Löwe schläft dann und wann länger als ein Faultier, nämlich bis zu zwanzig Stunden am Tag. Sein entspannter Lebenswandel beruht auf der konsequenten Anwendung von drei einfachen Erfolgsregeln:
Tue möglichst wenig selbst.
Lasse nur Profis für dich arbeiten.
Wenn es darauf ankommt, zeige Stärke.
Die hohe Kunst des Selbstmanagements
Vor allem die dritte Regel unterscheidet den Löwen von anderen Geschöpfen im Tierreich, die einfach nur träge sind. Ja, die dritte Regel macht wohl den eigentlichen Kern seines Erfolgs aus. Faul sein allein genügt nicht. Aber wer wollte hier überhaupt von Faulheit sprechen? Reden wir lieber von Effizienz und der hohen Kunst des Selbstmanagements. Und damit sind wir bei Regel 1. Der Löwe ist ein Meister des schonenden Umgangs mit seinen Ressourcen. Denn er beherrscht die Kunst des Delegierens. Das Ergebnis würde alle Berater in Sachen Zeitmanagement begeistern: In seinem Time-Planner wären fast alle Stunden des Tages blau markiert für ausgedehnte Rekreationsphasen.
Womit wir bei Regel 2 wären: Er verschwendet seine Zeit nicht mit Aufgaben, die andere Tiere für ihn weit kostengünstiger übernehmen können. Die Arbeitskraft eines majestätischen Löwenmännchens ist zu teuer, um sie mit Jagen, Futtersuche oder Kindererziehung zu vergeuden. Dafür steht kompetentes Fachpersonal zu Verfügung, die Löwenweibchen etwa. Sie kümmern sich um die Jagd. Und weil mehr Weibchen auch mehr Beute heimbringen, beschäftigt ein Löwenmännchen gleich mehrere Löwinnen in seinem Rudel, die im Team ohnehin besser jagen und gemeinsam auch größeres Wild zur Strecke bringen.
Management by walking around
Was aber tut nun ein männlicher Löwe? Er praktiziert eine Form des »Managements by walking around«, lässt sich mal hier, mal dort blicken, um nachzuschauen, ob noch alles planmäßig läuft oder sein Eingreifen gefragt ist. So ist das nämlich beim erfolgreichen Delegieren. Ohne ergebnisorientierte Kontrolle geht es nicht. Und so lässt sich der männliche Löwe hinter einem Buschwerk nieder und überwacht zum Beispiel, wie seine Löwinnen mit der Verfolgung eines Zebrafohlens zurechtkommen. Dabei sollten Sie nicht glauben, dass sich der Löwe übertrieben oft einmischt: Gibt es Probleme, was häufig vorkommt, dann greift er ebenso wenig ein, wie sich der Vorstandsvorsitzende eines Großunternehmens bei einem firmenweiten Netzwerkabsturz einmischen würde. Die Lage ist ernst, aber Jagen ist Frauensache, wenigstens bei den Löwen, der einzigen Katzenart übrigens, die in der Gruppe auf Beutezug geht.
Wenn Sie sich fragen, warum sich das majestätische Löwenmännchen nicht an der Jagd beteiligt, so lautet die Antwort: Es ist körperlich nicht dazu in der Lage. Für eine solche Aufgabe ist es zu langsam, denn es ist zu muskulös. Und so erbeutet das Männchen nur gelegentlich seine Mahlzeit selbst. Dabei legt es sich auf die Lauer und schlägt mit seinen gefährlichen Pranken zu.
Wie man sich den Löwenanteil sichert
In der Savanne gibt es noch viele andere ausgezeichnete Jäger. Leoparden etwa, Geparden oder auch Hyänen. Was Sie vermutlich noch nicht gewusst haben: Der Löwe lässt auch diese Spezialisten für sich arbeiten. Jawohl, auch die Hyänen. Da Hyänen bevorzugt bei Dunkelheit jagen, waren die Tierforscher lange Zeit ahnungslos, bis sie ihnen und damit auch den Löwen mit Nachtsichtgeräten auf die Spur kamen: Wenn in der Savanne die Sonne aufgeht und die Löwen vor ihrem Morgenimbiss sitzen, dann haben sie gut die Hälfte davon den struppigen Hyänen abgenommen.
Legt man strenge Maßstäbe an, müsste man sie für die gierigsten Aasfresser der ganzen Savanne halten. Der »Löwenanteil« trägt seinen Namen zu Recht. Unterm Strich zahlt sich sein etwas rücksichtsloses Verhalten aus. Kein anderes Geschöpf in der Savanne konsumiert so viel Fleisch wie der majestätische Löwe. Mit einer bezeichnenden Ausnahme: In einigen Fällen wird er vom Geier noch übertroffen. Eigentlich keine Überraschung. Denn der kann fliegen.
Im Ernstfall Krallen zeigen
Aber vergessen wir die dritte Regel nicht. Löwen zeigen immer dann Stärke, wenn es darauf ankommt. Ein Rudel besteht meist aus vier bis sieben Weibchen und zwei bis drei Männchen. Wird das Rudel angegriffen, dann übernehmen die sonst so entspannten Männchen die Verteidigung und kämpfen bis zum Äußersten. Der sprichwörtliche Löwenmut, hier kommt er zum Tragen. Entweder werden die Angreifer in die Flucht geschlagen oder die Löwen sterben. In solchen kritischen Momenten setzt der König der Tiere seine geballte Kraft ein und erbringt damit den Nachweis, dass er kein fauler Kostgänger, sondern dass er wichtig, überlebenswichtig ist. Vielleicht stellen Sie sich die Frage: Wer greift eigentlich ein Rudel Löwen an? Leoparden? Hyänen? Elefanten? Nashörner? Natürlich nicht. Die Antwort ist: Andere Löwen.
Harter Verdrängungswettbewerb
Unter den Löwen herrscht ein mörderischer Verdrängungswettbewerb, bei dem viele, viele Männchen samt Nachwuchs auf der Strecke bleiben. Dabei fallen nicht etwa benachbarte Rudel übereinander her, sondern es sind vagabundierende Gruppen von drei bis vier Löwenmännchen, die noch kein eigenes Revier haben. Diese so genannten »Bruderschaften« suchen nach einer Gelegenheit, ein Revier samt Weibchen zu übernehmen. Für junge Löwen gibt es in der freien Wildbahn sonst kaum Möglichkeiten, in geordnete Familienverhältnisse zu wechseln. Hat ihre feindliche Übernahme Erfolg, töten die Löwen den bestehenden Nachwuchs, um eigene Nachkommen in die Welt zu setzen, die sie natürlich ihrerseits vor anderen »Bruderschaften« schützen müssen.
Von einem ökonomischen Standpunkt aus betrachtet bedeutet das eine ungeheure Vergeudung von Ressourcen. Doch vielleicht ist das der Preis dafür, dass ein Löwenmännchen seine Umgebung so stark dominiert.
Anregungen für die Führungspraxis
Natürlich, Löwen leiten kein Unternehmen, ja nicht einmal in ihrem Rudel übernehmen sie so etwas wie Führungsverantwortung. Dazu sind sie zu stark auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Wenn Sie das beiseitelassen, dann lassen sich doch einige brauchbare Hinweise aus dem Verhalten der Löwen ableiten.
In der Ruhe liegt die Kraft
Eine Führungskraft im Zeichen des Löwen geht mit ihren Ressourcen äußert schonend um. Sie verzettelt sich nicht, delegiert die meisten Aufgaben und mischt sich nicht übertrieben oft ein. Sie lässt ihre Mitarbeiter in aller Ruhe ihre Arbeit tun.
Fachlich muss der Vorgesetzte nicht der Beste sein.
Eine Führungskraft muss nicht das können, was in ihrer Abteilung erarbeitet werden soll, sondern sie muss dafür sorgen, dass andere diese Leistung optimal erbringen. Deren Aktivitäten muss sie koordinieren, unterstützen und zusammenführen ‒ nicht in ihrem Magen, sondern als stimmiges Gesamtergebnis. Es kommt nicht darauf an, selbst der beste Jäger zu sein, sondern auf die Tätigkeit der besten Jäger »zugreifen« zu können. Aus der eigenen Belegschaft, aber auch auf die Tätigkeit von externen Fachleuten. Dazu gehört für menschliche Führungskräfte, dass man Fachleute bezahlt, motiviert und an das Unternehmen bindet.
Die Qualität einer Führungskraft zeigt sich in kritischen Situationen.
Beim Löwen wird das auf die Spitze getrieben, was für gute Führungskräfte unerlässlich ist: In kritischen Momenten müssen sie präsent sein. Sie müssen wissen, wann sie einschreiten und Stärke zeigen müssen. Vielleicht gar nicht oft, aber genau diese...