Der Bau der Kirche in Werne und
das religiöse Leben
Über die nächsten Jahre nach dem ersten großen Konflikt gibt es wenige Quellen. Eine gewisse Normalisierung scheint eingekehrt zu sein. Ganz wichtig wurde der Bau einer neuen Kirche. Vom Bauern Kohlleppel erwarb man für 13.000 Mark ein Grundstück. Am 28. April 1895 erfolgte die feierliche Grundsteinlegung. Pfarrer Luther hielt eine Ansprache: „Dies ist der Tag, den der Herr macht“. Er selbst war der eigentliche Motor auf dem Weg zu einer eigenen großen Kirche im Ortsteil Werne, nicht weit vom Amtshaus Werne entfernt. Er war versiert in Grundstücks- und Finanzierungsfragen wie in Fragen des öffentlichen Baurechts.
Bei der Grundsteinlegung wurde einer Zinkbüchse ein Dokument mit folgendem Inhalt beigegeben:
„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen. Einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.1. Cor. 3,11. Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk unserer Hände. Ja das Werk unserer Hände wolle er fördern. Ps.90,17. Freue dich und sei fröhlich, du Tochter Zion; denn siehe, ich komme und will bei dir wohnen, spricht der Herr. Sach. 9,9.
Im Jahre des Heils, 1895, den 28ten April, nachmittags 4 Uhr, unter der Regierung S.M. des deutschen Kaisers Wilhelm II ward feierlich der Grundstein der ersten evangelischen Kirche in Werne gelegt, nachdem am 25. März d. J. der erste Spatenstich getan und am 5. April d. J. der erste Mauerstein verarbeitet wurde.
Die evangelische Gemeinde Werne hat sich am 1. November 1893 neu gebildet durch Abtrennung von der Muttergemeinde Lütgendortmund, welche ihrer Tochtergemeinde eine Abfindung von 30.000 Mark mitgab.
Seit Hunderten von Jahren sind in der bis vor 50 Jahren hundert Seelen zählenden Gemeinde vereinzelte Gottesdienste von benachbarten Pfarrern gehalten worden, bis im Februar 1891 für die damals 5282 Mitglieder starke Gemeinde ständige Gottesdienste eingerichtet wurden. Sofort nach Abtrennung wurde beschlossen, eine neue, geräumige Kirche zu bauen und die alte, viel zu kleine Kapelle zu verlassen.
Der allgütige Gott, der uns bisher geholfen, wolle diesen Bau fortsetzen und vollenden helfen.
Die Kirche der evangelischen Gemeinde Werne erhebe sich auf dem ewigen Felsengrunde der göttlichen Heilswahrheiten, sie erhebe sich als ein Heiligtum, darin Gottes Wort und die unverfälschte Lehre evangelischen Bekenntnisses lauter und rein verkündigt werde, und die Sakramente nach Christi Einsetzung verwaltet werden als eine Hütte Gottes unter den Menschen, zum Zeugnis, dass Christus Jesus, der Sohn des lebendigen Gottes, gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen. Das walte Gott! Amen.“ (100 Jahre evangelische Kirche, S. →f.)
Schon am 21. Oktober 1896 wurde die Kirche, die rund 165.000 Mark kostete, durch den Westfälischen Generalsuperintendenten Gustav Nebe eingeweiht. Die Kaiserin und Königin Auguste Victoria stiftete traditionsgemäß eine Altarbibel mit der Widmung „Sprüche 3, 5.6“:
„Verlass dich auf den Herrn von ganzem Herzen und verlass dich nicht auf deinen Verstand. Sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen, so wird er dich recht führen“.
Altarbibel, gestiftet von Kaiserin Auguste Victoria, 21. Oktober 1896
Neben der Kirche errichtete man ein großes Pfarrhaus, das rund 20.000 Mark kostete. 1897 wurde die alte Kapelle abgerissen, die Jahrhunderte lang kirchlicher Mittelpunkt der Bauernschaft und des sich bildenden Bergbau- und Industrieortes Werne gewesen war. Die evangelische Kirche in Werne mit ihren 1200 Sitzplätzen wurde ein Wahrzeichen des Ortes und ein Zentrum kirchlichen Lebens. Sehr nüchtern beschreibt die Festschrift von 1921 die damalige „religiöse“ Lage:
„Das geistliche Leben hatte damals in der Kirche, abgesehen von einzelnen Teilen unseres Vaterlandes, wo Gott Erweckungen gegeben hatte, einen tiefen Stand, ja der geistliche Tod beherrschte weite Strecken in der Kirche. Kirchliche Sitte und Gewohnheit waren noch da, auch diese schon bei vielen im Schwinden, durch den Materialismus, diese öde Weltanschauung, die Gott und Seele leugnet und nur diese sichtbare Welt als einzige Wirklichkeit ansieht, die das Evangelium des Fleisches predigt: „Macht hier euch das Leben gut und schön, kein Jenseits gibt’s, kein Wiedersehn.“ Bewußt geistliches Leben gab’s nur wenig, und was da war, wurde beargwöhnt. Eine Kirche aber ohne Leben ist wie ein Leichnam. Unsere Gemeinden müssen lebendig sein, und wenn sie’s nicht sind, müssen sie es werden, und sie können es nur werden durch das Wort und den Geist Gottes, wenn der Geist Gottes die beherrschende Macht in den Seelen wird. Die urchristlichen Gemeinden, wie das neue Testament sie uns zeichnet, waren Geistesgemeinden, d.h. ihre Glieder waren durch Bekehrung und Wiedergeburt in bewusste Gemeinschaft mit Gott und Christus gekommen und führten ein Leben mit Gott, in Gott, für Gott, aus Gott. Das Ziel aller kirchlichen und christlichen Arbeit muss sein, diesem Ideal näher zu kommen.“
Evangelische Kirche mit Pfarrhaus (vom Heerbusch aus gesehen)
Diese religiöse Zeitanalyse stammt von dem ausgesprochen pietistischen Pfarrer Rummeld. Ob sie die ganze Wirklichkeit der Kirche vor dem Ersten Weltkrieg trifft, darf man bezweifeln. Für ihn ist die Kirche die Gemeinschaft der Christusgläubigen. Dass die Christen vielleicht auch eine Mitverantwortung für gute Weltlichkeit haben, kommt diesem Erweckungsprediger nicht in den Sinn. Der reformatorische Ansatz, dass Glaube an Gott in Christus und das Mandat zur Gestaltung der Schöpfung dieses Gottes zu einer von Vernunft und Mitmenschlichkeit bestimmten Welt aufeinander bezogen sind, dieser Zusammenhang scheint ihm nicht gegenwärtig zu sein. Seine pietistische Frömmigkeit verliert den Blick für die weltliche Mitverantwortung der Kirche und ihrer Christen.
Dabei gab es in den achtziger und neunziger Jahren schon neben den von Pfarrern wahrgenommenen Gottesdiensten, Taufen, Trauungen und Beerdigungen wie dem Unterricht für Katechumenen und Konfirmanden eine Reihe von Vereinsgründungen, die weithin ein eigenständiges Leben entfalteten. So wurde in Werne am 15. März 1885 der Evangelische Arbeiterverein gegründet, der beim Wirt Kraney sein Vereinslokal hatte. Nach anfänglichen 70 Mitgliedern wurde er unter dem Vorsitz des Schlossermeisters Alze (1885 – 1900), des Materialverwalters August Fattiger (1900 –1907) und seit 1907 des Betriebsführers Robert Lück immer stärker.
In der Festschrift der Gemeinde von 1921 wird er so charakterisiert:
„Der Verein steht auf dem Boden des evangelischen Bekenntnisses und hat sich zur Aufgabe gemacht, unter Glaubensgenossen das evangelische Bewusstsein zu wecken und zu pflegen, seine Mitglieder sittlich zu heben und allgemeine Bildung unter ihnen zu fördern. Er ist ein Gegner des Klassenkampfes und will ein friedliches Verhältnis zwischen allen Berufsklassen wahren und pflegen. Seine Mitglieder in Krankheits- und Sterbefällen, sowie nach Möglichkeit auch unverschuldeter Notlage zu unterstützen, sieht er als seine heilige Pflicht an. Er vertritt bewusst die evangelische Weltanschauung in der Arbeiterschaft und will seinen Mitgliedern ein Schutz sein gegen die Sozialdemokratie, die in der Theorie wohl sagt: Religion ist Privatsache, in der Praxis aber Kirche und Christentum bekämpft hat und bewusst auf dem Boden der materialistischen, d.h. atheistischen Weltanschauung stand, wenigstens in ihren Gründern und Führern.“ (S. →)
Pastor Rummeld trifft hier wieder nur die eine Seite des Arbeitervereins, der auch klare gesellschafts- und sozialpolitische Forderungen an die staatliche Gesetzgebung stellte und sich als Teil der christlich-sozialen konservativen Reformbewegung verstand. Die pietistischen Kritiker sahen darin natürlich eine Einmischung in weltliche Auseinandersetzungen, die nicht Sache der Kirche sei. In den Versammlungen des Arbeitervereins gab es nicht nur eine Andacht und Regelungen der sozialen Vereinszwecke, sondern auch Diskussionen über die soziale Lage der Arbeiter, über ihrer Rechte in der Arbeitswelt und über die Ziele einer gerechteren Gesellschaftsordnung, natürlich unter den Bedingungen der politischen Strukturen des Kaiserreichs.
Sehr eigengeprägt und selbständig in ihrer Frömmigkeit und Kirchlichkeit waren die dem Pietismus und der Gemeinschaftsbewegung nahe stehenden Christinnen und Christen, die mit eigenen Geldern am 1. März 1894 ein eigenes Evangelisches Vereinshaus gründeten, das für Jahrzehnte der Mittelpunkt des „Missionsvereins“ wurde.
In der Festschrift heißt es: „Die Welt für Jesus, den Heiland der Welt, unter diesem Panier wird gearbeitet, das Wort Gottes verkündigt, Hausbesuche gemacht, die Kinder in der Sonntagsschule unterrichtet, christliche Schriften verbreitet, für die Heidenmission gearbeitet, der Chorgesang gepflegt …“ (S. →)
Der Missionsverein verstand sich immer als besondere Gemeindegruppe im Gegenüber zu der durchschnittlichen Frömmigkeit und Kirchlichkeit der meisten Gemeindeglieder. Er entfaltete in der Tat große...