Geht man von einer Lebenserwartung von 80 Jahren aus, verbringt der durchschnittliche Mensch etwa 230 Tage auf dem Klo. Mehr als ein halbes Jahr verbringen wir in der Regel auf dem stillen Örtchen und hinterlassen dabei hochgerechnet über fünf Tonnen Stuhl. Ich habe mein 30. Lebensjahr noch nicht erreicht und wage zu behaupten, mich der 230-Tage-Grenze bereits jetzt in atemberaubender Geschwindigkeit anzunähern.
Morbus Crohn ist eine äußerst heimtückische Darmerkrankung, die in Schüben verläuft. Sie wird oft lange Zeit falsch diagnostiziert oder einfach nicht erkannt. Sicherlich gibt es Ausnahmen, aber im Durchschnitt vergehen in Deutschland von den ersten Symptomen bis zur Diagnose mehrere Jahre.
Ich werde oft gefragt, warum ich denn »dieses Morbus Crohn da« habe. Gab es irgendwas in meiner Kindheit, das schrecklich schieflief? Hatte mich meine Mutter aus Versehen zwölf statt neun Monate ausgetragen und mein Immunsystem schon vor meiner Geburt zerstört?
Tatsächlich wuchs ich ganz normal und gesund acht Monate und 26 Tage heran. Es gab keinen einschneidenden Moment, der der Auslöser für dieses Immundefizit gewesen sein könnte. Von klein auf war ich ein äußerst aktives Kind. Ein richtiger Wildfang, wie man so schön sagt. Klingt besser als hyperaktiv und anstrengend. Geboren und aufgewachsen im ländlichen Süden Deutschlands, blieb mir auch wirklich nicht viel anderes übrig, als in Lederhosen den ganzen Tag durch Wald und Wiesen zu laufen. Wir Dorfkinder hatten weder Elektrizität noch warmes Wasser.
Kurz nach meiner lebensrettenden Operation im vergangenen Jahr fuhr ich für eine Weile lang zurück zu meinen Eltern aufs Land. Zwei Wochen später sollte ich in der Nähe meines Elternhauses zusammen mit einigen anderen älteren – größtenteils 60 Jahre aufwärts – Stomaträgern eine ambulante Reha beginnen, und die Zeit zwischen der lang herbeigesehnten Entlassung aus dem Krankenhaus und dem Beginn der Reha galt es zu überbrücken.
Ich befand mich bereits auf dem Weg der Besserung. Ich konnte alleine duschen, mein Stoma pflegen, mir etwas zu essen machen. Dennoch war ich auch noch in sehr vielen Belangen auf Hilfe angewiesen. Mit einem dauerhaften Loch in der Bauchdecke durfte ich natürlich nichts heben und tragen, und auch die im Hinterkopf lauernde Angst, es könnte postoperativ wieder etwas schiefgehen, war ständig da. Mark, der sich in den Endzügen seines Medizinstudiums befand, war unter der Woche oft bis spätabends außer Haus: Vorlesungen, Lerngruppen und Praktikum im Krankenhaus. Zurück in die gemeinsame Wohnung war also nach der Entlassung eigentlich gar keine Option.
Es dauerte nur wenige Tage, bis mir zu Hause die Decke auf den Kopf fiel. Auf dem Land gibt es natürlich Elektrizität, aber was eher eine Seltenheit ist, ist schnelles Internet. Netflix bufferte konsequent auf 45 Prozent und katapultierte mein damals ohnehin ständig gereiztes Gemüt von null auf 180. Ich gab schließlich auf und versuchte, mein postoperatives und somit irgendwie legitimiertes Dasein in Faulheit anderweitig zu verschönern.
Kurz nach der Geburt meiner jüngeren Schwester hatten sich meine Eltern zu Weihnachten eine damals supermoderne Videokamera geleistet, sogar mit Farbaufnahme. Heutzutage wüsste sie vermutlich niemand mehr zu bedienen, der nicht selbst ein Fossil ist. Gelangweilt und nach einigen Tagen im alten Jugendzimmer auch ein bisschen nostalgisch gestimmt, kramte ich schließlich die große Box mit Home-Videokassetten aus den Jahren 1994 bis 2004 hervor.
Je älter, desto besser, dachte ich mir und schob eine Kassette aus dem Jahr 1995 in den Videorekorder. Dass meine Eltern noch einen Videorekorder besaßen, faszinierte mich nicht weniger als die wuchtige Dauerwelle meine Mutter, die mir am Zwei-Meter-Flachbildfernseher im Wohnzimmer kurzzeitig den Atem raubte.
Hallo Neunziger.
Das Video fing knisternd an zu laufen. Ein Fußballspiel im Garten, meine zwei Cousins, ein Nachbarsjunge, den ich seit 15 Jahren nicht mehr gesehen habe, und ich. Als aufmerksamkeitssüchtiges Kind, das ich damals war, bettelte ich schon zwei Minuten nach dem Start des Videos meinen Vater an, doch bitte mich zu filmen. Was er dann auch tat. Ich posierte gekonnt viel zu nahe vor der Kamera.
Fünf Jahre alt, Pagenschnitt, braun gebrannt (aber nur bis zum Ärmel des T-Shirts, auch »Bauernbräune« genannt), aufgeschürfte Knie. Elegant gekleidet in vom Fußballspielen verschmutzten Klamotten und natürlich barfuß. Keine Anzeichen, dass nur elf Jahre später die ansteckende Lebhaftigkeit dieser kleinen Person einer trägen Mutlosigkeit weichen würde.
Mein fünf Jahre altes Ich grinste weiter schneidezahnlos in die Kamera. Eine seltsame Traurigkeit überkam mich. Sicherlich war ich noch emotional geladen von den Erlebnissen der letzten Wochen und den neun verschiedenen Medikamenten, die ich täglich zu mir nahm. Ich blickte in mein fünf Jahre altes gesundes, munteres Gesicht und dachte mir, wie sorglos ich damals sein durfte. Dieses Mädchen konnte nicht erahnen, dass es später um sein Leben kämpfen würde. Ich wollte es beschützen, vor all dem Schmerz, den Sorgen, den Tränen. Ich verspürte eine erdrückende Dankbarkeit für die nächsten wenigen Jahre, die dieser kleine Mensch noch unbeschwert würde leben dürfen.
Elf Jahre später, kurz nach Beginn meines 16. Lebensjahres, bemerkte ich zum ersten Mal ein ungewöhnliches Ziehen im rechten Unterleib. Nicht kontinuierlich, nicht aufdringlich. Ein Ziehen, das wirklich unzählige Gründe haben konnte. Es war Weihnachtszeit, und ich schob es auf den übermäßigen Konsum von Süßigkeiten und Fettigem. Aber es ist schließlich nur einmal im Jahr Weihnachten, also galt bei mir schon immer die Devise »weiter Reinhauen, was das Zeug hält«. Ich war ein normaler, gesunder Teenager, sportlich noch immer sehr aktiv. Ich verschwendete somit keine weiteren Gedanken an das komische Ziehen im rechten Unterleib, wo schon kurze Zeit später meine erste Operationsnarbe entstehen sollte.
Das Ziehen verschwand so schnell, wie es gekommen war. Als typischer Teenager hatte ich unzählige andere Sorgen, das Ziehen im Bauch war bald vergessen. Doch drei Monate später, Karfreitag, wog ich etwa fünf Kilogramm weniger und ging mit definitiv höherer Frequenz aufs Klo als je zuvor in meinem Leben. Mein Vater pflegte immer zu sagen, alles zwischen fünfmal am Tag und einmal alle zwei Wochen sei normal. Was ja auch absolut stimmt, solange die Klofrequenz nicht kausal mit einer Erkrankung des Magen-Darm-Trakts zusammenhängt.
An jenem Karfreitag, die fünf Kilo leichter und dennoch nicht annähernd untergewichtig – ich war ein eher wohlgenährtes Mädchen und hatte mich zuvor nicht an der untersten Gewichtsgrenze befunden –, machte sich erneut das weihnachtliche Ziehen im Unterleib bemerkbar, und ich beschloss, es diesmal nicht so leicht abzutun. Ich hatte mich während der Fastenzeit einigen Freundinnen angeschlossen und absolut gesund gegessen. Keine Süßigkeiten, weniger Fett, mehr Obst, weniger Pickel. Ich war überzeugt, dass auch dies der Grund war, warum die Kilos innerhalb weniger Monate nur so purzelten. Aber dass mein Bauch nun auf sich aufmerksam machen könnte wie an Weihnachten? Nach all dem gesunden Essen? Es gab doch absolut keinen Grund für meinen Bauch, sich zu beschweren.
Das Ziehen intensivierte sich und wer oder was immer dort drinnen anzog, zog weiter bis zum nächsten Tag.
Über den Mittagstisch gekrümmt und mit einem Gesicht, als hätte ich Kieselerde vor mir auf dem Teller, erregte ich schließlich die Aufmerksamkeit meiner leicht gekränkt wirkenden Mutter, die liebevoll unser typisches Karsamstag-Mittagessen vorbereitet hatte: Spätzle mit Emmentaler, im Allgäu auch »Kaasspotzn« genannt.
»Ich hab sie extra nicht in Fett gebraten diesmal, kalorienarm quasi, die kannst du ohne Bedenken essen.«
Ich schüttelte meinen Kopf und setzte entschlossen an, meiner Familie beim gemeinsamen Essen grafisch und detailliert mein schlimmer werdendes Bauch- und Kloproblem zu erklären.
»Der Blinddarm«, unterbrach mich mein Vater, noch bevor ich meinen ersten Satz zu Ende bringen konnte. »Kontinuierliches Ziehen im rechten Unterleib? Das ist ganz eindeutig der Blinddarm. Ich wette 50 Euro, dass der Blinddarm heute rausmuss.«
Mir war klar, dass mein Vater versuchte, die Situation aufzulockern. In meinen 16 Jahren auf diesem Planeten war ich Operationen und Krankenhäusern ganz gut entkommen. Meine Aversion gegenüber allem, was mit Krankheit zu tun hat, machte sich bereits sehr früh kenntlich. Als ich vier Jahre alt war, wurde ich angeblich bei einer Blutabnahme beim Kinderarzt ohnmächtig. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob es sich dabei um einen Witz auf meine Kosten handelt oder nicht. Beim Gedanken daran, Ostern mit aufgeschnittenem Bauch im Krankenhaus zu verbringen, drehte sich mir jedenfalls sofort der Magen um, und die Spätzle machten sich auf den Weg zurück nach oben.
In meiner Hoffnung, einer Operation zu entkommen, hielt ich die gut gemeinte Amateurdiagnose meines Vaters für etwas überstürzt. Sicherlich würde es mir bei einer Blinddarmentzündung viel schlechter gehen. Wies ich auch andere Symptome auf, die auf eine Blinddarmentzündung hindeuteten? Jener Karsamstag spielte sich noch vor der Smartphone-Ära ab, weitere Symptome einer potenziellen Blinddarmentzündung ganz einfach zu googeln, war damals noch nicht möglich.
Meine Mutter, schon immer lieber »auf der sicheren Seite«, telefonierte mit ihrer Freundin Hilde, die als Jugendliche auch den Blinddarm entfernt bekommen hatte. Und auch Hilde war überzeugt, dass das der Blinddarm sein musste. Ohne auch nur einen weiteren meiner geliebten...