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E-Book

Mein Leben nach dem Tod

AutorMark Benecke
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783732580958
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR

Ob Forensik-Freak, Herr der Maden oder Käfer-Nerd - eines ist klar: Der Kriminalbiologe Mark Benecke hat eine ganz besondere Leidenschaft, nämlich Leichen. In seiner Autobiografie erfahren wir nun endlich, ob er sich bereits als Kind für Tatorte interessiert hat, was ihn an Insekten so fasziniert und warum er sich heute auch politisch engagiert. Dass spezielle Interessen kein Hindernis für ein erfülltes und glückliches Leben sind, zeigt er mit seinem Buch und macht damit allen Leser*innen Mut, den eigenen Weg zu gehen.



Dr. Mark Benecke, geb. 1970, Kriminalbiologe, arbeitet als Molekularbiologe und Wirbellosenkundler an kriminalistischen und rechtsmedizinischen Fragen und der Biologie des Todes, ist Gastdozent und -professor an Universitäten in den USA, den Philippinen, Vietnam und Kolumbien sowie Ausbilder an Polizeiakademien und Gast u. a. an der FBI-Akademie und der "Body Farm".

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Leseprobe

Eine total normale Kindheit und ihre Folgen:


Wie ein Chemiebaukasten mein Leben veränderte

Um ein Haar hätte mein Leben eine ganz andere Wendung genommen. Aber der Reihe nach. Ich bin ein gebürtiger Bayer: 1970 kam ich in Rosenheim zur Welt. Wobei ich vorsichtshalber sagen möchte, dass ich auf meinen Geburtstag keinen Wert lege. Deswegen antworte ich auch grundsätzlich auf keine Glückwünsche oder sonstige Gratulationsbekundungen, die mich in sozialen Netzwerken (lese ich nie) oder per E-Mail (lese ich immer) erreichen. Irgendjemand hat mein Geburtsdatum mal auf Wikipedia eingetragen … Wenn mir jemand schreibt, ist das nett gemeint. Aber es ist dann auch klar, dass die- oder derjenige mich nicht näher kennt.

Alle anderen Menschen in meinem Umfeld wissen Bescheid. Mir bedeuten solche Anlässe einfach nichts, weil sie ja nur eine vom menschlichen Kalender, aber nicht von wirklich exakten Zeitabständen vorgegebene Fantasie sind. Es ist wie bei Sternbildern, die wir nur deshalb zu sehen glauben, weil wir so verdammt weit weg von ihnen sind. Die »Jungfrau«, unter deren Sternbild ich angeblich geboren bin, ist beispielsweise eine bloß von der Erde aus zusammenhängend erscheinende Gruppe von Leuchtpunkten. Aus jeder anderen Ecke des Alls ergeben dieselben Sterne ein anderes Muster. Für mich sind Geburtstage und Sternzeichen daher Tage wie alle anderen: Ich arbeite, oder ich reise zur Arbeit. Oder beides.

Die ersten nicht ganz drei Jahre meines Lebens verbrachte ich in Rosenheim und Bruckmühl, besser gesagt in Heufeldmühle, einem kleinen Ortsteil im Mangfalltal. Es gibt dort keinen wirklichen Ortskern, keinen zentralen Platz mit Maibaum, Rathaus, Dorfkirche, Brunnen und so, aber es ist eine Gegend, in der andere Leute Urlaub machen – oder zumindest auf dem Weg in den Urlaub dran vorbeifahren. Die Alpen sind nicht weit entfernt, die Luft ist sauber und die Flüsse oft kristallklar.

Ich habe keine Erinnerungen mehr an diese Zeit. Das heißt nicht, dass ich meine bayerische Herkunft verdränge. Aber unser Erinnerungsvermögen setzt eben erst ab einem Alter von etwa drei bis vier Jahren ein. Die älteren Eindrücke sind alle weg, wenn man erwachsen ist – wie von der Festplatte gelöscht. »Infantile Amnesie« nennt man das. Was ich über diese Jahre noch weiß, stammt von ein paar Fotos. Die enorm großen bayerischen Eiszapfen sind mir als Einziges im Gedächtnis geblieben. Im Winter hingen sie vom Dach meiner Urgroßeltern, und vielleicht auch von der »Bayerischen Wolldeckenfabrik Bruckmühl« in Heufeldmühle herunter.

In dieser Fabrik, deren Wahrzeichen ein hoher Turm mit den Buchstaben »B-W-B« am Dach war und die mit fast 800 Beschäftigten im Prinzip der einzige Arbeitgeber vor Ort war, arbeitete meine Mutter. Sie stammt aus der Region. Ihre Eltern, also meine Großeltern, waren waschechte Oberbayern, und meine Mutter spricht noch heute mit der typischen Färbung, die man als Nicht-Bayer nur aus Heimatfilmen oder von Schlagertexten kennt. Ich liebe Dialekte jeder Art – von Erzgebirgssächsisch über MedellínSpanisch bis hin zu algerischem Französisch. Wenn ich unterwegs bin, mache ich oft Videos mit Menschen, die diese Dialekte, Akzente und Lautvertauschungen zum Glück sprechen. Wie unfassbar langweilig wäre die Welt ohne Vielfalt, auch in den Sprachfärbungen.

Als junge Frau lernte meine Mutter meinen »genetischen Vater« – so heißt das in der Vaterschaftskunde – kennen. Er arbeitete »im Berg« – so heißt das in Bayern – bei einer Seilbahngesellschaft als Techniker. Er stammt eigentlich aus Erfurt, aber irgendwie hatte es seine Eltern aus der DDR ins tiefste Bayern verschlagen. Später zog sie nach Köln, wo wir eine Patchworkfamilie mit meinem sozialen Bruder und meinem neuen Vater wurden.

Außer den Eiszapfen sind die Bilder meiner frühen Kindheit aus der Bilderbuchlandschaft aber, wie gesagt, von neuen Erinnerungen überlagert oder nicht mehr vorhanden. Ziemlich sicher ist, dass mir meine Mutter aus der Häschenschule vorgelesen hat, einem Kinderbuch aus den 1920er Jahren. Sie liebt das Buch, und es geht darin um eine Schulklasse, die – wie der Name schon sagt – aus lauter kleinen Hasen besteht und die von ihrem Hasen-Lehrer alles über Natur und Tierwelt beigebracht bekommen, zum Beispiel, dass Kohl gesund ist und man sich vor dem Fuchs hüten sollte. Stimmt ja auch!

Bis heute liebe ich Züge und fahre fast jeden Tag damit. Vielleicht beruhigt mich das Geräusch und Gerumpel von Zügen, weil die Wohnung in der Heufeldmühle direkt an den Bahnschienen lag. Am liebsten sind mir Nachtzüge, aber die sterben vielleicht aus. Hoffentlich nicht.

Bald zogen wir also nach Köln – der Grund war mein neuer Vater, der Ingenieur und Kollege meines genetischen Vaters bei der Seilbahn war. Die beiden sind Spezialisten für Fördertechnik, aber in diesem Fall beförderte, wenn man so will, die Seilbahn meinen neuen Vater direkt in die Arme meiner Mutter. Im stockkatholischen Bayern der frühen siebziger Jahre war das vermutlich nicht ohne. Aber meine Mutter hörte auf ihr Herz und zog es durch. So kamen wir nach Köln.

Ich weiß nicht, ob ich das seltsam fand oder nicht. Vermutlich habe ich die Dinge auch damals schon so akzeptiert, wie sie waren, weil alles andere vergeudete Energie bedeutet. Und die Dinge waren in diesem Fall eben so, dass ich nach einer kurzen Kindheit auf dem Land zwischen hohen Bergen und tiefen Seen in eine Metropole kam, die von Außenstehenden als hässlich und verdreckt bezeichnet wird. Ich liebe Köln, und für mich war dieser Umzug ein echter Glücksfall.

Unser vorübergehendes Zuhause bestand aus einer kleinen Wohnung an der Nordsüdfahrt – also an einer von Kölns breiten Straßen, die diese Stadt durchschneiden. Sie wurde nach der fast vollständigen Zerstörung im Krieg gewollt autofreundlich aufgebaut. Wenig später zogen wir nach Zollstock, einem Stadtteil südlich der Altstadt, in dem lustigerweise das damals neu gegründete »Bundesamt für den Zivildienst« seinen Sitz hatte und in dem darüber hinaus straßenweise die von mir seitdem sehr geschätzten Genossenschaftswohnblocks standen. Meine Eltern waren inzwischen auch verheiratet, und der Kontakt zu meinem genetischen Vater war wegen der großen Entfernung von fast siebenhundert Kilometern kaum mehr vorhanden. Aus dem bayerischen Buben wurde blitzschnell ein »Imi«. Das ist liebevolles Kölsch für alle Immigranten, also Menschen, die aus mehr als zehn Kilometern Entfernung zuziehen. Die nächste Stufe war der Kölsche Jung mit einer Schwäche für original bayerische Brezen, die man damals wie heute in Köln aber leider nicht bekommt. Wann immer ich in Bayern bin, muss ich sofort eine gescheite Brezen essen. Zumindest, wenn sie vegan ist. Ausgerechnet und nur in Berlin, also bei den von Bayern viel geschmähten »Saupreißn«, gibt es neuerdings einen Laden, der »gscheide Brezn« herstellt. So ganz wird man seine Herkunft nie los.

In Zollstock wohnten wir in einem – wie ich fand und finde – völlig abgefahrenen Plattenbau. Das Haus bestand aus zwei in Weiß gestrichenen Blöcken, einer hochkant, einer liegend, die wie die Flügel eines Riesenraumschiffes zwischen Grünflächen und dem alten Viertel gestrandet waren. Das Gebäude war nagelneu, und während ich heute eher überlege, welche wilden Pflanzen der Architekt wohl gegessen hatte, bevor er seinen Entwurf erstellte, empfand ich das Gebäude schon damals als total cool. Das lag auch daran, dass sich auf einer Seite direkt davor ein wirklich gigantischer, zerstrubbelter Park befand, in dem Hunderte Kaninchen und gefühlt Millionen von Vögeln lebten. Für uns Kinder war es das Paradies. Wir brauchten zu jeder Jahreszeit nur aus der Haustür des weißen Raumschiffes rauszugehen und standen mitten in der Natur, unter immer höher wachsenden Bäumen, Büschen und umgeben von hoppelnden und besonders in der Dämmerung tirilierenden Tieren. Ich habe solche fantastischen Konzerte später nur noch im Urwald gehört, allerdings von Zikaden und anderen Insekten. Die Zeit der Vögel neigt sich nun weltweit langsam dem Ende zu.

In unserem Wohnraumschiff sah es überhaupt nicht futuristisch aus. Pragmatisch, wie meine Eltern waren, richteten sie die Wohnung durch und durch funktional ein: mit vernünftigen Schränken und Regalen, einer zeitlosen Couch im Wohnzimmer und einem Küchen-Esstisch, an dem man auch Karten spielen und elektrische Bauteile zusammenlöten konnte. Bei uns war alles durchstrukturiert. Mein Bruder und ich hatten eigene Zimmer, aber meins hatte ein Klappbett, das tagsüber eingeklappt werden musste, damit ich dort arbeiten und experimentieren konnte. Das empfand ich nicht als Nachteil, sondern als lässig – wer braucht tagsüber schon ein Bett? Auch mein Extra-Schreibtisch, den mir mein Vater für chemische Versuche gebaut hatte, war klappbar. Ich habe wohl ein bisschen zu viel Zeit an diesen Tischen verbracht, denn von meiner früheren Lese- und Arbeitsposition mit dem linken, aufgestützten Arm ist mir ein dauerhaft überstehender Schlüsselbeinknochen geblieben. Doch das war es wert!

Die Strukturliebe meiner Eltern hatte ich schnell verinnerlicht. Vor allem meine Mutter ist hier – es fühlt sich schon fast genetisch an – verantwortlich für eine Vorliebe, die mir inzwischen bei meinem Beruf gewaltig hilft. Sie arbeitete in einem Büro und kümmerte sich dort um die gesamte Organisation, von der Korrespondenz bis zu Umbauten. Sie brachte mir bei, dass alles, was eine Schreibmaschine verlässt, auf Punkt und Komma richtig geschrieben sein muss. So war es nur folgerichtig, dass ich bei meinen ersten Versuchen, unsere Sprache auch schriftlich zu beherrschen, sämtliche Rechtschreib- und Kommaregeln von...

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