Einleitende Gedanken
1. Die Fäden des Gestern in die Hand nehmen – Warum der Blick auf unsere Mutter lohnt
Sind wir ehrlich: Es gibt Menschen, mit denen würden wir nicht gerne unsere Zeit verbringen. Nicht einmal einen Tag wollten wir mit ihnen zusammen sein, nicht einmal auf einer Party möchten wir ihnen begegnen, geschweige denn mit ihnen befreundet sein – denn mit manchen Menschen ist, wie es der Volksmund sagt, »einfach nicht gut Kirschen essen«. Während wir uns als Erwachsene solchen Menschen, die wir als schwierig erleben, in unserem Alltag in der Regel gut entziehen können, wirken Kinder, die von diesen Menschen in die Welt gesetzt wurden, chancenlos: Sie müssen mit denjenigen zurechtkommen, die ihnen das Schicksal an die Wiege gestellt hat. Wir hören es nicht gerne: Auch äußerst schwierige Zeitgenossen, die als kauzige Sonderlinge oder gar als Schrecken ihres Umfeldes gelten, haben Kinder in die Welt gesetzt. Hinter vorgehaltener Hand werden sie vielleicht als despotisch, verlogen, eiskalt oder auch als abwesend, cholerisch, unnahbar beschrieben, um nur einige Beispiele zu nennen.
»Wir erinnern uns an die 40-jährige Erzieherin, die von ihrer Mutter heute noch als beste Freundin bezeichnet wird. Wiederholt trägt sie die Mutter durch tiefe Täler der Traurigkeit, um anschließend von ihr beschuldigt zu werden: Verantwortung zu tragen für die Krisen, für das schlechte Leben der Mutter überhaupt. »Meine Mutter hatte nur mich!«, entschuldigt die Tochter. Die selbstzerstörerischen Wege der Mutter sind vielfältig. Signale und Hilfeschreie, die ihrer Tochter vermitteln: »Du bist mein Ein und Alles, der einzige Mensch auf der Welt, der mich retten kann. Verlass mich nicht!« An eine Loslösung wagt die Tochter kaum zu denken.
»Wir denken an den Sohn des angesehenen Universitätsprofessors, der durch seine gesamte Kindheit Zynismus und Grausamkeiten des Vaters über sich ergehen lassen musste. Heute als 50-Jähriger leidet er an Erschöpfung und Panikstörungen – selbst beruflich erfolgreich, fühlt er sich dennoch als Versager. Besuche bei der Mutter, die ihn nie vor den väterlichen Übergriffen geschützt hat (sondern in seinem Erleben ihn im Gegenteil noch zur Unterstützung für ihr eigenes Seelenheil brauchte), empfindet er als eine Qual. Schon Tage vor einem Zusammentreffen oder vor Familienfesten verspürt er Herzrasen und ihm unerklärliche Übelkeit. Er hat den Kontakt seit mehreren Jahren immer mal wieder abgebrochen – Ruhe und inneren Frieden findet er nicht.
Die beiden Beispiele vorab lassen es anklingen: Menschen sind mehr als das, was äußerlich sichtbar ist. Mehr, als ihre äußere Biografie zeigt. Vieles rutscht im Laufe der Lebenszeit in ein Dunkel, um das die meisten, insbesondere all diejenigen mit belastenden oder schwierigen Kindheitserfahrungen, nicht mehr wissen. Das ist teils gut so (denn manches ist besser im Dunkeln zu belassen): Doch, wenn Erwachsene sich, zum Beispiel aufgrund anhaltenden Leidens, auf die Suche machen nach der Antwort auf die Frage, wer sie sind, dann ist der Blick in das Dunkel eine Möglichkeit, sich selbst besser zu verstehen, das eigene Denken, Fühlen und Handeln. Der Blick ins Dunkel ist eine Möglichkeit, die Selbsterkenntnis zu vergrößern und einen Weg zu finden, das Leiden hinter sich zu lassen.
»Es gehört zur Natur eines Subjekts, dass es einen Konflikt erleben kann zwischen dem, was es ist, und dem, was es sein möchte, und dass es an sich scheitern kann« (Bieri, 2013, S. 22). Wenn das, was andere an Ihnen wahrnehmen (»Du bist so kompetent und erfolgreich und wirkst so glücklich!«), weit entfernt ist von dem, was Sie selbst über sich denken (»Ich bin nicht liebenswert und versage!«) und empfinden (»Meine Tage sind vor allem quälend!«), dann kann das in Erfahrungen aus Kindheitstagen begründet sein. Dann kann es sein, dass das Dunkel der Vergangenheit einen größeren Einfluss auf Ihr Leben nimmt, als Ihnen möglicherweise bewusst ist, jedenfalls in weit größerem Maße, als Ihnen lieb ist: Die Qualität Ihres Lebens heute, die Qualität Ihrer Beziehungen, das Zusammenleben in Ihrer Familie und nicht zuletzt Ihr Selbstbild sind betroffen. Ihre Vergangenheit lässt sich nicht mehr ändern: Sie können Ihre Mutter sehr wahrscheinlich nicht ändern, aber Sie können Einfluss auf sich selbst nehmen und auf Ihr Selbstbild, dessen Grundsteine schon früh in Ihrer Kindheit gelegt wurden. Menschen besitzen die Fähigkeit zur Zensur, sie können sich etwas verbieten und vorwerfen, sie können sich achten oder verachten. Sie können sich »… nicht nur fragend um sich kümmern, sondern auch planvoll Einfluss auf sich nehmen und sich in ihrem Tun und Erleben in eine gewünschte Richtung verändern« (Bieri, 2013, S. 23).
Der Mensch als Subjekt ist ein soziales Wesen und hängt auf vielfältige Art und Weise von anderen Menschen ab. Auf Kinder und Mütter trifft diese Abhängigkeit in besonderem Maße zu. Jeder von beiden ist dabei ein individuelles Zentrum des Erlebens: Jeder von beiden fühlt auf bestimmte Weise, jeder hat ein ihm eigenes Wesen – und seine eigene Biografie. Wir sehen zwei Menschen mit ihrem Äußeren: Vielleicht sind sich Mutter und Kind ähnlich oder unähnlich – in jedem Fall sagt das Äußere noch nichts über ihre jeweilige Innenwelt und auch nichts über ihre jeweilige Innenperspektive.
Die Mutter ist, so ist es evolutionär angelegt, am dichtesten am Entwicklungsprozess des Kindes beteiligt. Je besser dieser Prozess gelingt, umso mehr wird aus dem Kind ein eigenständiges Subjekt, ein »Subjekt mit Bewusstsein« (Bieri, 2013). Wenn Kinder ihr Tun aus ihrem Erleben heraus entwickeln können, Schöpfer ihres Selbst werden, dann entwickeln sie Urheberschaft. Mit zunehmenden Jahren leben sie nicht einfach so dahin, sondern können auf sich als Subjekt sehen und aus ihren Gefühlen und Motiven eine eigene Geschichte über sich erzählen, Worte finden: erinnerte Geschichten, aktuell gelebte Geschichten und Geschichten über das, was kommen wird. Geschichten, wie sie entstanden sind, über das, wer sie sind und was sie vorhaben. So komplettiert sich ein Selbstbild; eine Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« Das Äußere stimmt mit dem Erleben, der Innenwelt überein.
Zugleich verbirgt sich in diesem ungeheuren Potential, das diese erste existentielle Beziehung in die Welt bringen kann, ein mächtiger Schatten: Was ist, wenn diese erste Beziehung nicht gelingt? Was ist, wenn das Äußere nicht mit der jeweiligen Innenwelt von Mutter und Kind, nicht mit der jeweiligen Innenperspektive übereinstimmt? Es kann also durchaus sein, dass ein Kind in einem schönen Haus aufwächst, von Luxus umgeben ist, es von der Mutter zu allen möglichen Terminen in einem Luxusauto chauffiert wird, mit gutem Essen versorgt und bei seinen Hausaufgaben betreut wird, das Kind sich aber in diesem äußeren »Paradies« innerlich schlecht fühlt. Da dieses »Schlecht-Fühlen« undankbar erscheint, verbietet das Kind sich diese Gefühle, vielleicht erst für einen Moment, dann für Monate, für Jahre, Jahrzehnte, bis ihm seine Innenwelt fremd geworden ist. Die innere Heimat ist verloren gegangen, die Innenwelt wird ein Fremdkörper.
Das Problem der Kindheitsbelastungen im Erwachsenenalter verschwindet häufig im Nebel der Verdrängung und wirkt sich meist dennoch nachhaltig verheerend auf das weitere Leben aus: Täglich begegnen uns Kinder, Jugendliche und Erwachsene, deren Lebensschwierigkeiten aus Kindheitstagen stammen. Ihre Schwierigkeiten zeigen sich auf unterschiedliche Weise: etwa als unerklärliche körperliche Leiden, als Verhaltensprobleme, als Störungen, die ihr Leben nachhaltig beschweren, auch als akute Beziehungsprobleme, nicht zuletzt auch mit eigenen Kindern, oder als ein diffuses schier »Nicht-gut-Fühlen«, für das sich keine Gründe im Jetzt finden lassen. Gemeinsam ist diesen Menschen ein Leiden an etwas, um das sie oftmals nicht wirklich wissen, dessen Schwere sie verdrängen, weil die Schwierigkeiten der Kindheitstage ihnen eben aufgaben zu vergessen: Vergessen war ein Teil der notwendigen Bewältigung der Schwierigkeiten mit der Mutter. Und auch wenn die Belastung durch schwierige Mütter lange hinter ihnen liegt, tragen sie an den Folgen dieser Kindheitsereignisse oft ein Leben lang, mit Haut und Haar, mit Leib und Seele. Und auf irgendeine Weise hängen sie in diesem Drehbuch ihrer Kindheitstage fest, obwohl diese Zeit doch lange, oftmals sehr lange, zurückliegt.
Und gerade wenn diese Beziehungen tiefe Wunden hinterlassen haben, drohen aus Kindern schwieriger Mütter neuerlich...