Diagnose Krebs
Der Sonntagmorgen im Januar 2010 beginnt völlig unschuldig. Wenn der Wecker nicht klingelt, genießen Volker und ich gerne die ersten Morgenstunden im Bett. Besonders der langsame Übergang vom Schlafen bis zum endgültigen Wachsein lässt uns viel Raum für zärtliches Kuscheln und liebevolles Verschmelzen. Warm und sicher bewege ich mich in meiner selbst gestalteten Welt, die sich teilweise noch durchzogen von meinen vorangegangenen Träumen entwickelt. Die Wahrnehmung ist noch zu verschwommen für ein klares Ich und Du. Ich drücke meinen Hintern in die Leiste meines Liebsten und räkele mich genüsslich, reibe mich an seinen Unterleib. Ich weiß, dass er das mag, in der Regel kann er sich dem nicht entziehen. Wie erwartet wird auch er nun langsam wach und drückt sich an mich. Seine Hand legt sich zärtlich auf meine Brust. Wie sehr ich das liebe.
Doch seine Hand wird plötzlich tastend, eher untersuchend. Nein, das fühlt sich gar nicht mehr so gut an. »Ich fühle hier einen Knoten«, sagt Volker, »ich habe dich doch schon mal gebeten, damit zum Arzt zu gehen. Bitte mach das.«
Mein warmes Gefühl der Verschmelzung weicht einer aufkommenden Härte. Zunächst versuche ich, Volker von seinen Gedanken abzubringen, und antworte im bestimmtem und auch etwas genervtem Ton: »Und ich habe dir gesagt, da ist nichts. Ich habe einfach eine knotige Brust, das habe ich auch schon öfter von der Ärztin gehört. Ich habe keinen Krebs, das ist doch lächerlich!«
Von klein auf war ich der festen Überzeugung, dass ich niemals Krebs bekommen würde. Meine Mutter arbeitete damals als Krankenschwester auf einer onkologischen Station. In diesem Zusammenhang hörte sie auch die umstrittenen Thesen Ryke Geerd Hamers, eines Internisten, der psychische Konflikte als Ursache für Krebs postulierte. Durch die Bewältigung seines Traumas – sein Sohn starb, nachdem er im Urlaub angeschossen worden war – hatte er sich angeblich selbst von seinem Hodenkrebs geheilt. Meine Mutter erzählte mit solcher Überzeugung davon, dass ich keinen Zweifel hatte. Zudem sprach man in den 1970er Jahren immer wieder von einem »Krebstypen«, also einer Art psychischen Disposition. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ich einmal an Krebs erkranken würde. Ich bin kein »Krebstyp«, war mein klares Credo.
Aber Volker lässt nicht locker und die schöne Stimmung ist restlos dahin. Schließlich verspreche ich ihm, zum Arzt zu gehen. Ist ja sowieso nichts, sage ich mir.
Unangenehm schnell bekomme ich noch in dieser Woche einen Termin bei meiner Frauenärztin. Sie teilt meine Sicherheit ganz und gar nicht. Mit ihrem Ultraschallgerät entdeckt sie etwas Auffälliges, das näher untersucht werden müsse, und sie schickt mich in eine radiologische Praxis. Es scheint so dringend zu sein, dass sie gleich selbst in der röntgenologischen Praxis anruft und mir schon für den kommenden Tag einen Termin vereinbart. Natürlich fahre ich auch dort allein hin, das wird sich sicherlich alles in Luft auflösen, ich habe ja nichts.
Als ich das Wartezimmer der röntgenologischen Praxis betrete, bin ich wie vom Blitz getroffen. Eine Ladung Energie erfasst mich wie ein Windstoß, fährt brennend elektrisch durch mich durch und lässt mich fast taumeln. Meine Sinne werden unscharf, es summt in meinen Ohren, für einen kleinen Moment hat mein Geist meinen Körper verlassen. Meine Beine signalisieren mir deutlich, dass ich mich setzen muss. Ich nehme gleich den nächsten Stuhl, links neben der Türe. Nur langsam wage ich, mich genauer umzusehen. Mir gegenüber in der rechten Ecke sitzt eine ausgezehrte Krebspatientin mit einem Tuch auf dem Kopf. Bei ihrem Anblick, noch von der Türe aus, kam die Erkenntnis so vernichtend auf mich zugeschossen: Ich habe auchKrebs, und bald werde auch ich so aussehen.
Hinter ihr auf der Fensterbank steht eine wunderschöne, weiß blühende, unschuldige Orchidee. Noch nie in meinem Leben habe ich eine so schöne Orchidee gesehen, die Tränen treten mir in die Augen. Der Augenblick ist furchtbar und wunderschön zugleich. Ich erkenne die unmittelbare Schönheit des Lebens und zugleich seine Endlichkeit für mich. Die unmittelbare Erkenntnis, dass ich eine so furchtbare, den Tod bringende Krankheit habe, zeigt mir gleichsam die Türe in das Paradies. Im kompromisslosen Hier und Jetzt wartet nicht nur das Vergessen auf mich, es lädt mich auch ein, mit meinen plötzlich so geschärften Sinnen die Zeit anzuhalten.
»Die Nächste, bitte!«
Die Türe rechts neben mir hat sich geöffnet, eine blonde schlanke Frau in einem weißen Kittel schaut ins Wartezimmer. Sie müsste etwa in meinem Alter sein. Für sie ist das normaler Alltag, für mich ist gerade meine kleine Welt zerbrochen.
Ich folge ihr in einen kleinen Raum, in dem die Mammografie gemacht werden soll. Ängstlich schaue ich mich um: Vor mir steht ein weißer Tisch mit einem Computer und ein paar Zettel darauf, ein Stuhl, auf den ich meine Sachen legen kann. Und links in der Ecke steht das Diagnosegerät. Groß, dick und Angst einflößend. Alles in mir sträubt sich gegen diese Untersuchung. Ich weiß doch sowieso, was Sache ist!
Am liebsten würde ich der Arzthelferin meinen ganzen Schmerz und meine Verzweiflung mitteilen. Außerdem ist sie offensichtlich im Stress, es gibt viel zu tun. Vielleicht um Zeit zu schinden, oder weil ich Sehnsucht nach einer Verbündeten habe, breche ich die unheilvolle Stille: »Sie haben sicherlich viel zu tun?«
»Oh ja, heute ist mal wieder besonders viel los. Bitte machen Sie den Oberkörper frei, Ihre Sachen können Sie auf den Stuhl legen.«
Sie ist nett und unverbindlich, das ist ihr Job. Für mich hat diese Situation eine ganz andere Bedeutung. Wie gerne würde ich, nur für diese paar Minuten, mit ihr tauschen. Doch wer weiß das schon, vielleicht hat sie ja auch Krebs? Und vielleicht noch ganz viele andere, von denen ich das gar nicht weiß? Man sieht es einem ja erst mal gar nicht an.
Sie weist auf zwei horizontale Platten, die auf Brusthöhe an dem Mammografiegerät angebracht sind. »Legen Sie bitte ihre Brust hier hinein.«
Da soll meine kleine Brust dazwischen? Während ich noch überlege, wie das gehen soll, greift sie beherzt meine Brust und zwängt sie in den Zwischenraum.
Autsch, das tut weh! Ganz besonders meine rechte Brust. Jetzt merke ich ganz deutlich, dass mit dieser Brust etwas nicht stimmt. Die Zeit vergeht unendlich langsam, bis endlich die Prozedur beendet ist. Danach darf ich wieder in das Wartezimmer bei der schmerzlich schönen Orchidee Platz nehmen.
Ein klitzekleiner Hoffnungsschimmer bleibt mir, dass vielleicht doch alles nur blinder Alarm ist. Aber im Grunde meines Herzens weiß ich zu genau, was mir der Arzt gleich sagen wird. Vorher wird meine Brust noch geschallt. Dazu werde ich in einen anderen Raum geführt, der Arzt wartet hier schon auf mich und weist mich an, auf der Liege Platz zu nehmen. Das Schallen tut gar nicht weh und gilt auch als ungefährlich. Ganz im Gegensatz zur Mammografie.
Im Ultraschall entdeckt der Radiologe nun eindeutig den Knoten. Vor drei Jahren hatte ich schon mal eine Mammografie machen lassen, bei der nichts entdeckt wurde. Auch diesmal sieht man bei der Mammografie nicht sehr viel. Erst durch den Ultraschall wird der Befund klar. Ich spüre, wie Ärger in mir hochkommt: Warum macht man nicht gleich eine Diagnostik mit einem sensiblen Ultraschallgerät bei einem Experten? Anscheinend sieht man in der Mammografie weniger als in einem guten Ultraschall. Lieber quält man Frauen zunächst in eine mit Strahlen belastete, schmerzhafte Untersuchung, die sowieso noch mit Ultraschall abgeklärt werden muss! Da drängt sich doch der Verdacht auf, dass es da um etwas ganz anderes geht. Wir Frauen werden ständig zur Mammografie aufgefordert, obwohl diese Untersuchung heftig umstritten ist. Dass die durch Zug und Druck bereits unter physischem Stress stehende Brust durch die Strahlung zusätzlich belastet wird und vielleicht erst dadurch Zellen entarten, ist nicht von der Hand zu weisen. Möglicherweise ist bei mir vor drei Jahren, bei der damaligen Mammografie, der Krebs erst zum Durchbruch gekommen?
Der Radiologe sagt mir, dass der Tumor knapp zwei Zentimeter groß und mit Sicherheit bösartig ist: »Leider wird die ganze Brust entfernt werden müssen. Der Tumor sitzt direkt hinter der Brustwarze, für eine Erhaltung ist ihre Brust zu klein.«
Mir wird wieder schwindelig, das kann doch nicht sein! Irgendetwas in mir schreit: Nein, nein, das ist alles bloß ein furchtbares...