1. »Warum träume ich überhaupt?«
Eine kleine Schlaf- und Traumkunde für Trauernde
In diesem ersten Kapitel möchte ich Sie ganz knapp in den aktuellen Stand der Schlaf- und Traumforschung einführen, soweit das für die Trauerträume wichtig und hilfreich ist. Wenn Sie mehr über das Schlafen, die Bedeutung und den Sinn des Träumens und von Träumen erfahren wollen, finden Sie im Anhang die wichtigsten Bücher über den aktuellsten Forschungsstand der Schlaf- und Traumforschung1.
Was sind Träume?
Seit Urzeiten werden Träume verstanden als Botschaften aus einer anderen Welt, aus der Welt der Nacht und des Schlafes. Bis zur wissenschaftlichen Erforschung durch Sigmund Freud waren Träume religiöse Botschaften. In manchen Kulturen werden bis heute Träume als Botschaften der Ahnen aus deren anderer Welt verstanden. Diese Sicht ist gerade für Trauernde auch heute noch wichtig und hilfreich für den Trauerprozess.
Seit Sigmund Freud gelten Träume als Botschaften aus dem Bereich der Seele, der unserem bewussten Nachdenken nicht zugänglich ist, also aus unserem Unbewussten. Träume kommen aus Schichten unserer Seele, die wir oft übersehen, verdrängen oder die wir nicht kennen. Inzwischen hat auch die moderne Hirnforschung belegt, dass vieles, was in unserem Gehirn passiert, unbewusst geschieht. So bestätigt die Hirnforschung durch ihre wissenschaftlich überprüfbaren Ergebnisse nicht nur die Existenz des Unbewussten, sondern auch die besondere Bedeutung des Träumens. Die Träume und die Traumdeutung können so, wie Sigmund Freud behauptete, der Königsweg zu diesem Nachtbereich des Unbewussten sein. Wenn dieser Bereich nicht nur zu uns gehört, sondern uns mehr bestimmt, als wir wollen, dann ist es für unsere eigene Entwicklung als Person wichtig, diesen Bereich kennenzulernen. Über das Verstehen unserer Träume können wir einen Blick in unsere eigenen unbewussten Tiefen werfen. Carl Gustav Jung, neben Freud der zweite entscheidende Pionier der Traumforschung, hat gezeigt, dass Träume uns in unserer Persönlichkeitsentwicklung helfen können.
Schauen wir uns einen Trauertraum an, um ganz konkret zu verstehen, was Träume sein können: Eine Mutter, 40 Jahre alt, deren Tochter nach einer Krebserkrankung und längerer Pflege mit 16 Jahren verstarb, träumte etwa sechs Monate nach dem Tod ihrer Tochter Folgendes:
Ich sehe ein Baumhaus in einem großen Baum. Ich fahre mit dem Aufzug nach oben. In einem großen Zimmer sitzt Marlene in ihrem Bett, ganz lebendig. Sie sagt: »Mama, mir geht es gut und ich habe Hunger.«
Dann zeigt Marlene zum Fenster. Dort sieht man die Berge. Sie sagt: »Mama, schau, wie schön es hier ist. Ich bin so glücklich hier.«
Dann bin ich mit großem Frieden aufgewacht.
Wir können diesen Traum als unmittelbare Botschaft der verstorbenen Tochter verstehen. Viele Trauernde erleben und deuten diese Erfahrung so, weil die Begegnung mit dem Verstorbenen im Traum so überwältigend real ist. Trauernde haben durch ihre Verlusterfahrung ein erweitertes Realitätsverständnis, sodass eine solche Deutung für sie stimmig ist.
Man könnte den Traum aber auch als psychisches Geschehen deuten, in dem das Unbewusste der trauernden Mutter eine tröstliche und tröstende Botschaft sendet. Dann wäre dieser Traum als ein sinnvoller Heilungsversuch der Seele zu verstehen, der die Trauernde in ihrem Trauerprozess unterstützt und voranbringt.
Hier also noch einmal die Frage: Was sind Träume? Welche Wirklichkeit bilden sie ab? Wie wollen wir Träume, besonders auch Trauerträume, verstehen?
Für die Traumarbeit mit Trauernden ist es wichtig, dass sie ihr eigenes Verständnis solcher Träume finden. Ich selbst ermutige Trauernde, sich dabei ganz auf ihre innere Stimme zu verlassen. Die zentrale Frage ist für mich nicht, was »real« ist, sondern was den Trauernden heilsam helfen kann.
Impulse für Ihr eigenes Traumverständnis
Prüfen Sie anhand der folgenden Bilder, wie Sie Ihre Träume verstehen wollen. Vielleicht helfen Ihnen diese Bilder auch, Ihr Verständnis für Ihre Träume zu erweitern oder zu vertiefen:
- Träume sind Spiegel der Seele
In diesem Spiegel schauen wir in unbewusste Bereiche unserer Seele und zugleich uns selbst in die Augen. Im Spiegel der Träume begegnen wir unseren verborgenen Seiten. - Träume sind ungeöffnete Briefe
Träume sind Nachrichten unserer Seele oder unseres Unbewussten an uns selbst. Wenn wir die Träume verstehen, dann werden daraus hilfreiche Briefe mit wichtigen Botschaften. - Träume sind Schäume
Träume sind nichts weiter als nächtliche Phänomene, die unser Gehirn produziert. Sie sind also Seifenblasen, die zerplatzen, wenn wir nach ihnen greifen. - Träume sind Sternschnuppen
Sie blitzen vor dem Hintergrund der dunklen Nacht des Schlafes auf und verschwinden dann rasch wieder aus unserem Bewusstsein. - Träume sind Theaterstücke
In diesen Stücken oder Filmen spielen wir meist die Hauptrolle, doch ein anderer führt die Regie. - Träume sind Fenster in eine andere Welt
Durch unsere Träume schauen wir in eine bunte, oft verrückte Welt, in der ganz andere Regeln gelten.
Was im Schlaf geschieht: Die Schlafphasen und der REM-Schlaf
In einer Nacht gehen wir in unserem Schlaf durch vier Schlafphasen, beginnend vom Leichtschlaf bis zum Tiefschlaf2. Am Ende jeder der vier Schlafphasen kommen wir in die sogenannte REM-Phase des Schlafs. Dieser besondere Schlafzustand zeichnet sich dadurch aus, dass sich unsere geschlossenen Augen sehr schnell bewegen. Diese Augenbewegungen werden als Rapid Eye Movements bezeichnet. Nach ihnen ist diese besondere Schlafphase, der REM-Schlaf, benannt. Man spricht beim REM-Schlaf auch vom »paradoxen Schlaf«, weil er im EEG (Elektroenzephalogramm) dem Wachen ähnlicher erscheint als dem Schlafen.
Werden Schläfer in dieser Phase geweckt, berichten 80 bis 95 Prozent von intensiven und lebhaften Träumen. Damit wir die Bewegungen beispielsweise eines Fluchttraumes nicht in Handlungen umsetzen, ist im REM-Schlaf unsere gesamte Muskulatur blockiert und gänzlich entspannt.
Die REM-Phasen dauern zwischen 10 und 50 Minuten, wobei die Dauer morgens zunimmt, wir also dann vermehrt emotionale Träume haben und diese auch besser erinnern. Wir durchschreiten die REM-Phase in einer Nacht vier bis sechs Mal.
Werden Schlafende in den anderen vier Schlafphasen, dem sogenannten Non-REM-Schlaf geweckt, berichten nur etwa 5 bis 10 Prozent der Geweckten von Träumen, die zudem weniger emotional und fantastisch erscheinen als die Träume des REM-Schlafs. Die Geweckten erinnern sich eher an Gedanken und Sätze als an ganze Traumszenen. Wir träumen also auch außerhalb der REM-Phase, vermutlich die ganze Nacht. Die intensivsten Traumerlebnisse sind aber in der REM-Phase zu finden.
Es ist zu vermuten, dass Trauerträume, die in der Regel emotional sehr berührend sind, in der REM-Phase stattfinden, also gegen Morgen mit den länger werdenden REM-Phasen häufiger werden und wir sie auch besser erinnern können.
Träumen – ein anderer Bewusstseinszustand?
Im Träumen sind wir in einem anderen Bewusstseinszustand, in dem wir zwar Themen und Gefühle des Wachseins aufgreifen, aber doch nicht wach sind. Unser Gehirn schläft in gewisser Weise, weil es den Kontakt zur äußeren Welt unterbrochen hat. Andererseits ist das Gehirn im Schlaf auch hoch aktiv und beschäftigt sich intensiv und in vielen Prozessen mit sich selbst.
In dem anderen Bewusstseinszustand des Träumens gelten andere Regeln als in unserer Wachwelt. Genaue Auswertungen von Träumen ergaben, dass fast alle Träume bizarre, also in der Realität unmögliche Ereignisse und Elemente enthalten3. Die Schwerkraft ist beispielsweise im Fliegen des Träumenden aufgehoben. Auch die Zeit kann im Zeitraffer- oder Zeitlupentempo vergehen. Die Traumwirklichkeit wird zwar als ganz real erlebt, dennoch ist sie nicht an die Gesetze der äußeren Wirklichkeit gebunden. Das wird in den Trauerträumen besonders deutlich und ist für Trauernde auch sehr wichtig, weil hier die schmerzliche Realität des Verlustes gewissermaßen umkehrbar wird, zum Beispiel wenn uns der Verstorbene in den Begegnungsträumen erscheint.
Für das realistische Erleben der besonderen Traumwirklichkeit ist wichtig, dass wir selbst mit unserem sogenannten Traum-Ich am Geschehen beteiligt sind. Wir sehen den Traum nicht als einen Film, der vor uns wie im Kino auf einer Leinwand abläuft, sondern wir sind mittendrin. Dabei wird uns nicht bewusst, dass es nur ein Traum ist. Nur in sogenannten luciden Träumen, etwa in 1 Prozent aller Träume, wird uns bewusst, dass wir träumen.
In der Regel empfindet, denkt und fühlt unser Traum-Ich ganz ähnlich wie unser waches Ich. Manchmal allerdings sind auch hier die Regeln unserer eigenen Psychologie außer Kraft gesetzt, so haben wir beispielsweise im Traum vor einem Tiger keine Angst.
In den Trauerträumen erleben wir zum Beispiel in der Begegnung mit dem Verstorbenen ein Erschrecken, obwohl wir uns so sehr nach einer Begegnung im Traum gesehnt haben.
Was in unserem Gehirn geschieht, wenn wir träumen
Seit einiger Zeit kann man mit den neuen wissenschaftlichen Methoden der Hirnforschung, den sogenannten bildgebenden Verfahren, unserem Gehirn beim Träumen...