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E-Book

Meisterwerk Stimme

Entfaltung und Pflege eines natürlichen Instruments

AutorKristin Linklater
VerlagERNST REINHARDT VERLAG
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl396 Seiten
ISBN9783497612680
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis38,99 EUR
Psychische oder physiologische Blockaden können die freie Entfaltung der Stimme behindern. Wer lernen will, die ganze Vielfalt seiner Gefühle und Gedanken stimmlich auszudrücken, ist mit Kristin Linklaters Stimmtraining bestens bedient. Es setzt an bei körperlicher Entspannung und Achtsamkeit und führt über eine Vielfalt von Vorstellungsbildern dazu, die Ausdrucksfähigkeit der Stimme als natürliches Instrument zu entdecken und zu pflegen. Das intensive Übungsprogramm ist in der 5. Auflage umfangreich überarbeitet. Egal ob für die Bühne, andere Sprechberufe oder für die Alltagskommunikation: Mit dem Linklater-Training machen Sie aus Ihrer Stimme, was sie ist - ein Meisterwerk der Natur.

Kristin Linklater, Schauspielerin, Stimmbildnerin, Regisseurin, ist Professor em. of Voice and Text an der Columbia University School of the Arts Graduate Theatre Program, New York City, und hat weltweit Schauspieler und Stimmlehrer ausgebildet. Seit 2014 lehrt sie v.a. im Linklater Voice Centre in Orkney (Schottland).

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Leseprobe

Einführung

Der Weg zu einer freien Stimme

Dieses Buch ist für den praktischen Gebrauch bestimmt und wendet sich an professionelle Schauspielerinnen, Schauspielstudenten und ihre Lehrerinnen, Sprecherzieher, Sängerinnen, Gesangslehrer, Logopädinnen sowie interessierte Amateure. Mit einer Übungsreihe zum Befreien, Heranbilden und Kräftigen der Stimme als menschliches Instrument will es diese nicht nur im Kontext menschlicher Kommunikation generell, sondern auch als Instrument des Darstellers anschaulich machen. Der Einfachheit halber spreche ich all meine Leserinnen und Leser mit „du“ und als Schauspieler oder Schauspielerinnen an (zu Anrede und gendergerechter Sprache vgl. Kap. Linklater spricht Deutsch), und ihr „interessierten Amateure“ könnt euch vielleicht einfach als Mitwirkende im täglichen Drama des eigenen Lebens verstehen. Wenn du übst, auf deine Kommunikationsgewohnheiten zu achten, wirst du in den gleichen erfrischenden Prozess von Selbstwahrnehmung eintauchen, den Schauspieler*innen als unverzichtbaren Bestandteil ihres Handwerks entwickeln, ganz wie Jacques in Shakespeares Wie es euch gefällt bemerkt: „Die ganze Welt ist Bühne / Und alle Frau’n und Männer bloße Spieler.“ (2. Akt, 7. Szene)

Diese Methode wurde entwickelt, um die natürliche Stimme zu befreien und damit einen Weg zu finden, der der Freiheit des menschlichen Ausdrucks dient. Die Grundannahme besteht darin, dass jeder Mensch über eine Stimme verfügt, die innerhalb eines natürlichen Umfangs von zwei bis vier Oktaven alles auszudrücken vermag, was ihr Besitzer oder ihre Besitzerin gerade erlebt, seien es noch so unterschiedliche Gefühle, verworrene Stimmungen oder subtile Gedanken. Zweitens gehe ich davon aus, dass die mit dem Dasein in der Welt erworbenen Spannungen wie Schutzmechanismen, Hemmungen und Abwehrreaktionen gegen äußere Einflüsse die Leistungsfähigkeit der natürlichen Stimme bis zur Verzerrung jeder kommunikativen Absicht einschränken können. Insofern gilt mein Interesse eher der Beseitigung von Störfaktoren, die das menschliche Instrument behindern als dem Bau einer kunstvollen Klaviatur, ohne letzteren jedoch ganz auszuklammern. Gleich zu Beginn möchte ich unterstreichen, dass man in der Wahrnehmung der eigenen Stimme deutlich unterscheiden muss zwischen dem, was „natürlich“, und dem, was „vertraut“ erscheint.

Am Ende soll diese Arbeit eine Stimme hervorbringen, die in engstem Kontakt mit Gefühlsimpulsen steht und vom Intellekt zwar geformt aber nicht behindert ist. Eine solche Stimme wird zum integralen Bestandteil des Körpers. Sie hat ihre angeborene Fähigkeit zu großem Tonumfang, komplexen Obertönen und kaleidoskopisch wechselnden Klangqualitäten. Sie kommt in klarer Rede zum Ausdruck, als Folge von klarem Denken und dem Verlangen, sich mitzuteilen. Die natürliche Stimme ist transparent, sie beschreibt nicht, sie enthüllt die innersten Regungen unmittelbar und direkt. Zu hören ist die Person, nicht nur ihre Stimme.

Die Stimme befreien heißt, die Person befreien, und jede Person besteht untrennbar aus Körper und Geist. Weil es Vorgänge im Körper sind, die den Klang der Stimme hervorbringen, muss dessen innere Muskulatur frei sein, um jene empfindlichen Signale aus dem Gehirn empfangen zu können, die das Sprechen entstehen lassen. Verspannungen blockieren und verzerren die natürliche Stimme am deutlichsten, doch sie leidet ebenso sehr unter emotionalen, intellektuellen und seelischen Hemmungen wie unter Fehleinschätzungen durch das Gehör. All solche Barrieren sind seelisch-körperlicher Natur; sind sie erst einmal überwunden, überträgt die Stimme die ganze Bandbreite menschlichen Fühlens und Denkens in reichen Unter- und Zwischentönen. Begrenzt wird ihre Meisterschaft einzig durch die Grenzen von Interesse, Begabung, Vorstellungsvermögen und Lebenserfahrung.

Körperbewusstsein und Entspannung sind die ersten notwendigen Schritte zur Arbeit an der Stimme. Geist und Körper müssen kooperieren lernen, wenn es gilt, innere Impulse anzuregen und freizusetzen, sowie hemmende Körpermuster aufzulösen. Schauspielerinnen und Schauspieler müssen also einen Körper heranbilden, der feinfühlig als Ganzes reagiert und nicht einfach nur muskulös und hochkontrolliert daherkommt, und sie müssen ihre Stimme in diese Einheit von Körper und Selbst integrieren.

Die Stimme teilt die Innenwelt der Psyche einer Außenwelt aus aufmerksamen Zuhörern mit, auf der Bühne und im Leben. Seiner altgriechischen Herkunft nach bedeutet das Wort Psyche nicht nur Atem oder Hauch – beides Begriffe, die Belebtheit symbolisieren. Vielmehr verstand man in der Antike darunter auch zahlreiche sicht- und fühlbare Manifestationen von Lebendigkeit schlechthin, beispielsweise Blut, Appetit, Herz oder Denkvermögen. Hieraus entwickelten sich die heute im Deutschen verwendeten Begriffe Verstand, Geist und Seele, sowie der Name der dazugehörigen Wissenschaft: Psychologie. Nach Aristoteles leidet die Seele unter Affekten und muss durch Erregungszustände geläutert werden, was auf dem Theater der Katharsis entspricht. Katharsis ereignet sich, wenn die Psyche der Figur die Psyche, und damit auch Atem und Blut des Publikums aufwühlt. Die Stimme des Schauspielers oder der Schauspielerin sollte das wirkmächtigste Theatermittel sein, mit dem die Wucht eines kathartischen Ereignisses die dunklen Stellen, verborgenen Dramen oder aufgestauten Gefühle des Publikums erschüttert. Um solche Sprachgewalt zu erlangen, muss diese Stimme in neurophysiologischen Bahnen des Körpers verankert sein, die gelernt haben, aus Gefühl, Vorstellung, Psyche und Intellekt Impulse aufzugreifen und weiterzuleiten. Es geht also darum, einen Körper zu entwickeln, der sieht, hört, fühlt und spricht. Das Gehirn des Schauspielers muss sein Körper sein. Das Gehirn der Schauspielerin muss ihr Körper sein.

Die Schallwellen der Schauspielerstimme können die gedanklichen und emotionalen Signale aus Gehirn und Körper mit hoher Empfindlichkeit aufnehmen und übertragen. Kommunikation strahlt auf diese Weise aus, sie hüllt das Publikum in ihre jeweilige Atmosphäre ein, und die Sprecherin befindet sich auf der Bühne und im Zuschauerraum zugleich. Eine Stimme, die ihren Ursprung tief im Körper hat, reicht über den Körper hinaus und vergrößert die Person, die spricht. Wenn Zuschauer einem Schauspieler, der auf der Bühne noch eins neunzig groß wirkte, auf der Straße begegnen, sind sie häufig erstaunt, dass er dort um etliches kleiner ist. Sobald der Schauspieler eine Verbindung mit der Psyche seiner Figur eingeht, verstärkt die Vorstellungskraft das elektrophysiologische Geschehen im Körper und regt die Stimme zu einem oszillierenden Fluss an, der Bilder und Impulse direkt auf die Rezeptoren der Zuschauer ergießt. Die Vibrationen, die sich vom Körper einer sprechenden Person her ausbreiten, sind der Grund für deren überlebensgroße Wirkung.

Paradoxerweise müssen Schauspieler und Schauspielerinnen ihre Stimmen trainieren, um sie hergeben zu können. Schauspielerstimmen müssen lernen, in Gedanken- und Gefühlsimpulsen aufzugehen. Schauspieler*innen dürfen ihre Stimme nicht zum bloßen Beschreiben und Vermitteln der Handlung einsetzen. Vielmehr muss ihre Stimme zugleich groß, kräftig und empfindsam genug sein, um die ganze Breite und Tiefe ihres Vorstellungsvermögens offenbaren zu können. Ist die Stimme durch Gewohnheiten und Verspannungen eingeschränkt, wird sie auch die Übertragung der Imagination einschränken. Die Imagination muss dem Text dienen, was ihr aber mit einer eingeschränkten Stimme nur zum Teil gelingt. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass Imagination nicht Fantasie, sondern Vorstellung bedeutet. Um den Anforderungen des Textes so genau wie möglich gerecht werden zu können, müssen Schauspieler*innen ihr Vorstellungsvermögen mit der gleichen Leidenschaft trainieren, wie Olympioniken ihren Körper. Dies trifft insbesondere bei klassischen und poetischen Texten zu, lässt sich aber ebenso auf zeitgenössische Texte übertragen, deren Hauptinformationsquelle der Subtext ist. Erst wenn man in der Lage ist, den Text mit der Präzision eines Lasers auf seine eigentliche Aussage hin zu untersuchen, kommt man zu einem verlässlichen Subtext. Schauspieler*innen, die nur um den Text herum fantasieren, sind nachlässig. Schauspieler*innen hingegen, deren Imagination vom Text entfacht und in Gang gesetzt wurde, verwerfen die erste, die zweite und bisweilen sogar die dritte aus dem Text gewonnene Bedeutungsebene. Sie graben immer tiefer in die Urgeschichte ihrer eigenen Vorstellungswelt, bis der dem Text innewohnende Sinn wie ein Samenkorn aufkeimt, reift und durch eine Metamorphose in jeder einzelnen Zelle und damit im ganzen Organismus des Darstellers wiedergeboren wird.

Wenn Kommunikation vollkommen gelingen soll, verlangt dies von Schauspielern und Schauspielerinnen ein fein aufeinander abgestimmtes Quartett aus Gefühl, Verstand, Körper und Stimme. Ich nenne es das Quartett des Schauspielers. Keines der vier Instrumente kann mit eigener Stärke für die Schwäche eines anderen aufkommen. Ein Hamlet-Darsteller, dessen emotionales Instrument dominiert, während Stimme und Intellekt zurückbleiben, wird bestenfalls einen allgemeinen Eindruck von Hamlets Schmerz und Qual vermitteln. Das Publikum fragt sich: „Er leidet so sehr – warum nur?“ Eine Schauspielerin, die vorwiegend auf Gefühle anspricht, trifft mit ihrer Ophelia wahrscheinlich einen Nerv für glaubwürdigen Wahnsinn, aber ohne Stimme und Textverständnis, die ihre Situation erhellen könnten, wird das Publikum sie als Nebensache...

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